von Tobias Gralke
Neulich war ich mit meinem Kind (5) in der Buchhandlung. Nachdem wir uns ein paar Titel angesehen hatten, sagte es: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass mir einige dieser Bücher nicht weniger als die Weltrettung aufbürden wollen – was ja okay wäre, wenn sie dabei nicht so tun würden, als wäre das ein Kinderspiel, und vor allem, wenn sie dabei nicht die Unterdrückungsverhältnisse aussparen würden, deren Beseitigung unsere Elterngeneration versäumt hat.“ Ich war sprachlos.
Auf Twitter gibt es ein Meme, das genau so funktioniert: Unter der Behauptung, eine tatsächlich erlebte Alltagssituation nachzuerzählen, werden (fiktiven) Kindern politische Weisheiten und Parolen in den Mund gelegt, die durch den offensichtlichen Widerspruch zwischen der elaborierten Aussage und dem Alter der Sprechenden als Ironie erkennbar werden.
Die Ironie verweist darauf, dass das Kind, von dem erzählt wird, vor allem ein Medium für die Gedanken von Erwachsenen ist. Im Meme dient sie dazu, sich über (gänzlich unironisch gemeinte) Anekdoten lustig zu machen, in denen Kindern fremde Aussagen zugeschrieben werden, um einer banalen Aussage poetische Wucht zu verleihen. “Ausdenktwitter” wird das in den Sozialen Medien genannt.
In diesem Text wiederum dient die Ironie der ausgedachten Anekdote dem Einstieg in ein Thema, über das zu schreiben mir erst über Umwege möglich scheint: Politische Kinder- und Jugendbücher. Der Anlass ist simpel. Im Höllenjahr 2020 habe ich mir einen Stapel von Kinder- und Jugendbüchern zu politisch-gesellschaftlichen Themen gekauft – weil ich (29 Jahre alt und noch kinderlos) mich frage, wie es ist, im Deutschland der Gegenwart aufzuwachsen, mit welchen Bildern und Vorstellungen junge Menschen hier politisch sozialisiert werden. Ein bisschen auch, weil ich selbst nach einem anderen, ermutigenden Blick auf die krisenhafte Gegenwart suche.
Was Kinder- und Jugendbücher politisch macht
Dass es mir als kinderlosem Erwachsenen zumindest umwegsbedürftig vorkommt, über politische Kinder- und Jugendbücher zu schreiben, hat einen einfachen Grund. Kinder- und Jugendbücher werden in den allermeisten Fällen von Erwachsenen geschrieben, illustriert, verlegt und vermarktet. Daraus ergeben sich vier Aspekte, die diese Bücher auch unabhängig von ihrem Inhalt politisch machen: das Verhältnis der Autor:innen zu den Lesenden, das individuelle Rezeptionsverhältnis zwischen Medium und Leser:in, das Werteverhältnis der Produzent:innen zum Thema und die diskursive Rolle des Buchs in der Öffentlichkeit. Durch dieses vierfache Verhältnis geben politische Kinder- und Jugendbücher auf besondere Weise Aufschluss über Themen, Konflikte und Fragestellungen einer gesellschaftlichen Gegenwart.
Indem politische Kinder- und Jugendbücher versuchen, komplexe Themen auf greifbare Bilder zu bringen, erzählen sie auch etwas darüber, welche politisch-moralischen Vorstellungen und Grundannahmen für relevant und vererbungswürdig gehalten werden. Hinzu kommt, dass Kinder- und Jugendmedien generell im gleichen Maß Gegenstand politischer Konflikte sind wie ihre jungen Rezipient:innen besondere politische Subjekte verkörpern. Kinder (und mit Abstrichen auch Jugendliche) gelten gemeinhin als unschuldig, von gesellschaftlichen Konflikten und Zwängen noch unkompromittiert, als Hoffnungsträger:innen, Zukunftsversprechen und radikale Neuanfänge.
Im gesellschaftlichen Umgang mit Kinder- und Jugendbüchern spiegeln sich darum nicht nur politisch-kulturelle Auseinandersetzungen über die nähere Zukunft, sondern immer auch verschiedene Verständnisse davon, wie junge Menschen erzogen und gebildet werden sollen. Im besten Fall äußert sich das in Ansätzen, mit denen Kinder zur selbstbestimmten Persönlichkeitsentfaltung begleitet oder zum kritischen Umgang mit Vorurteilen befähigt werden, manchmal auch darin, dass Pädagog:innen für diskriminierende Machtverhältnisse sensibilisiert werden – im schlechtesten Fall gestaltet es sich als reaktionäre Vereinnahmung und als entmündigender Angstdiskurs um die angebliche Indoktrination oder „Frühsexualisierung“. Politische Kinder- und Jugendbücher geben also nicht nur Aufschluss darüber, mit welchen Themen, Konflikten und Fragestellungen junge Menschen konfrontiert, sondern auch, welche Rollenbilder und Handlungsspielräume ihnen in Bezug darauf vermittelt werden.
Mit diesen Gedanken im Kopf beginne ich zwischen den Jahren, den kleinen Bücherstapel zu lesen. Was erzählen diese vier Kinder- und Jugendbücher (alle 2020 in Deutschland erschienen) mir als erwachsenem Leser? Welche Themen, Rollenbilder und Handlungsspielräume stellen sie dar? Welche Zusammenhänge zeigen sie auf, welche Details lassen sie aus? Was setzen sie den oft eindimensionalen Kindheitsdarstellungen in Erwachsenenmedien entgegen? Wie verhalten sie sich zu einer Gegenwart, in der jungen Menschen ein gewaltiges Ausmaß an intergenerationaler Solidarität abverlangt wird, die grundgesetzliche Verankerung von Kinderrechten aber immer noch aussteht?
Einer Gegenwart, in der fast jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht ist und Kinder an den europäischen Außengrenzen mit Tränengas beschossen, mutwillig dem Tod im Mittelmeer oder Traumatisierung und Rattenplagen in Notlagern überlassen werden? In der Kinder gezielt in die faschistoiden Abgründe der „Querdenken“-Bewegung gezogen werden? In der junge Menschen für Klimagerechtigkeit und den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen demonstrieren, aber lediglich Schulterklopfen und halbgaren Reformismus ernten? In einer Gegenwart also, in der ich nicht aufhören kann mich zu fragen, ob es verantwortlich oder auch nur fair ist, selbst Kinder zu bekommen. Wie kann ich, in Anbetracht dieser Machtgefälle, über politische Kinder- und Jugendbücher schreiben, wenn sie doch eigentlich nicht für mich sind?
Das ikonische Kind: Greta Thunberg und die Klimakrise
Das erste Buch auf meinem Stapel richtet sich nicht nur an Kinder und Jugendliche, es handelt auch von einer Aktivistin, die zum Vorbild vieler junger Menschen wurde, als sie selbst noch fast ein Kind war: Greta Thunberg, deren Schulstreik Jahr 2018 die größte Klimaschutzbewegung der Geschichte auslöste und einen rasanten Ikonisierungsprozess in Gang setzte, der in der Kino-Dokumentation I am Greta (2020) seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Seit 2020 ist Greta Thunberg nun auch Titelheldin der populären Little People, Big Dreams-Reihe (Maria Isabel Sánchez Vegara), in der auf jeweils wenigen Seiten die Biographien bekannter Persönlichkeiten (u.a. Martin Luther King, Simone de Beauvoir, Bob Dylan) erzählt und illustriert werden. Die Reihe richtet sich vorrangig an Menschen zwischen 4-10 Jahren und porträtiert ihre Protagonist:innen entsprechend. Die Erzählungen starten in der Kindheit und enden mit einem Vermächtnis, das zu ähnlichen Großtaten inspirieren soll.
Im Fall Greta Thunbergs beginnt die Erzählung damit, dass die „kleine Greta“, die von ihren Eltern gelernt hatte, „freundlich zur Natur“ zu sein, von der Klimakrise erfährt: „Die Erde wurde wärmer, und das war von Menschen gemacht. Die Erwachsenen wissen das schon lange, haben aber wenig dagegen getan. Jeden Tag erzeugen sie Millionen Tonnen von Gasen, die dem Klima schaden.“ Greta kann diese Tatsache nicht ignorieren, wird aktiv und inspiriert weltweit Menschen, gegen Erderhitzung und Massenaussterben zu protestieren. Nach 26 Seiten ist der Höhepunkt bereits erreicht: „Was mit nur einem Mädchen und ihrem handgemalten Schild begann, ist eine Bewegung geworden und geht uns alle was an. Gegen den Klimawandel muss die gesamte Menschheit handeln, und Greta ist zwar klein, aber längst nicht mehr allein.“
Die Erfolgsgeschichte und ihre bunt bebilderte Darstellungsweise sind einnehmend, sie vereinfachen den komplexen Gegenstand jedoch an den falschen Stellen. Das gilt weniger für die rasante Dramaturgie, die sich mit der erzählten Zeit besser decken dürfte als bei den meisten anderen Titeln der Reihe. Vielmehr wird die Protagonistin durch verschiedene Faktoren zu einer Figur verniedlicht, die zwar als mutige, zunehmend auch selbstständige Aktivistin erscheint, an der echten Greta Thunberg (Anfang dieses Jahres übrigens volljährig geworden) aber auffallend vorbeigeht.
Die durchgehende Verniedlichung reicht von dunkelrosa Backen (die im ganzen Buch dazu noch fast ausschließlich von weiblich gelesenen Figuren getragen werden) bis hin zur Frage, in welchem Ausmaß Greta – und damit Kinder überhaupt – die Klimakrise begreifen können. Das Buch stellt die katastrophalen Folgen der Erderhitzung („Den meisten in Gretas Klasse taten die Eisbären leid“) genauso reduziert dar wie ihre systemischen Ursachen und die Spielräume politischen Handelns. Greta überzeugt zwar ihre Eltern davon „nicht mehr zu fliegen und kein Fleisch mehr zu essen“, verlangt von „den Mächtigen der Welt“, vor denen sie in New York spricht, aber lediglich, „sich nicht länger herauszureden und endlich etwas zu tun.“ Die Frage, was genau getan werden müsste, bleibt dabei unbeantwortet und wird ins private Konsumverhalten verschoben: „Man kann so viele kleine Dinge ändern! [Greta] weiß, willst du etwas bewegen, musst du bei dir selbst beginnen.“
Diese Vereinfachung mag der Ausrichtung auf eine junge Zielgruppe geschuldet sein, ist aber auch genau deswegen problematisch. Sie nimmt der Aktivistin Greta Thunberg ihr Detailwissen, ihre inhaltliche Wucht und reduziert die Figur auf Kleine-Mädchen-Klischees (sowie ihren als Superkraft dargestellten Autismus). In dieser Mischung aus Verniedlichung und Vereinfachung mag die Erzählung zwar sicher einige Kinder inspirieren und an das Thema heranführen, steht aber leider auch symptomatisch für den Umgang vieler Erwachsener mit der jungen Klimabewegung: Infantilisierung als bewusste genau wie unbewusste Abwehrstrategie, um von der grundstürzenden Klarheit ihrer Forderungen abzulenken. Greta selbst spricht übrigens kein einziges Mal im Lauf des Buchs.
Die Erinnerung wachhalten: Comics nach Auschwitz
Von den Problemen der Gegenwart und Zukunft geht es zu einem Buch, das sich der Vergangenheit widmet. Die Graphic Novel Bald sind wir wieder zuhause (cross-cult Verlag, Jessica Bab Bonde, Peter Bergting) dokumentiert die Geschichten von sechs jüdischen Holocaust-Überlebenden, die zum Zeitpunkt ihrer Deportation noch Kinder waren. Die Texte basieren dabei auf Gesprächen der sechs Überlebenden mit den Macher*innen des Buchs.
Bald sind wir wieder zuhause erzählt in sechs kurzen Kapiteln wie Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emerich und Elisabeth aus ihrem gewohnten Leben gerissen werden, ihre Freund:innen und Eltern verlieren, in nationalsozialistischen Arbeits- und Vernichtungslagern gefangen gehalten und nach Kriegsende in Freiheiten geworfen werden, mit denen umzugehen sie erst lernen müssen. Der Frage nach der Darstellbarkeit der Shoah scheint sich das Buch dabei erst gar nicht zu stellen. Die Bilder sind düster, ausdrucksstark, mitunter auch drastisch. Sie zeigen brennende Synagogen, Deportationszüge, Erschießungen, Skelette, Leichenberge, Selektionen, Krematorien. Manche bebildern Leerstellen in den Erfahrungsberichten der Überlebenden. Anderswo lassen dafür die Gutters (die weißen Streifen zwischen den einzelnen Bildern) Raum für die Stille des Unaussprechbaren. Die im Rückblick formulierten Erinnerungen der Überlebenden perspektivieren die Bilder der jungen, kahlgeschorenen Protagonist:innen und schaffen Distanz zur unmittelbaren Darstellung des Lagergrauens.
Durch die insgesamt nicht respektlose, aber doch mindestens effektvolle Darstellungsweise steht Bald sind wir wieder zuhause in einer Reihe neuerer Holocaust-Vermittlungsformen für junge Publika (zuletzt etwa die kontrovers diskutierte Instagram-Webserie Eva Stories), die in Anbetracht immer weniger werdender Zeitzeug:innen und geringen Wissens unter deutschen Schüler:innen von zunehmender Relevanz sind. Die dokumentarische Basis der Erzählung legitimiert ihre explizite Ästhetik und stellt diese in den Dienst der Erfahrungsweitergabe – eine Motivation, die von den Protagonist:innen selbst sowie den Macher:innen des Buchs an mehreren Stellen benannt wird.
Konterkariert wird der Ansatz lediglich dadurch, dass diese Rahmung sowie die Plötzlichkeit, mit der der Einbruch der Shoah ins Leben der sechs Kinder dargestellt wird, mitunter verschleiernd wirken. So wie es schon im Vorwort zwar gut gemeint, aber doch stark verallgemeinernd heißt: „Ich glaube, dass diese Dinge auch uns, dir und mir und unseren Familien passieren können“, so fehlt leider auch eine Einordnung der nationalsozialistischen Verbrechen in historische Kontinuitäten der Judenfeindlichkeit und des völkischen Nationalismus – eine Zeittafel am Ende des Buchs umfasst lediglich die Jahre 1933-45. Wie es zur konservativen Machtübergabe an die Faschisten und zum Holocaust kommen konnte, von wem heute Wiederholungsgefahr ausgeht, bleibt unbenannt.
Plurales Zusammenleben, homogenes Schreiben?
Dem demokratischen Zusammenleben im Deutschland der Gegenwart widmet sich: Wer tanzt schon gern allein? (Hrsg.: Karin Gruß) von der Bundeszentrale für politische Bildung. Es versammelt 25 „Bilder, Geschichten und Gedichte zur Demokratie“, wie es im Untertitel heißt. Das Buch richtet sich an Menschen ab sieben Jahren und versucht, einen kindgerechten Blick auf Deutschland als plurale Gesellschaft im Kontext von Flucht und Einwanderung sowie der politischen Verschiebungen seit 2015 zu werfen.
Wer tanzt schon gern allein? will die Grundlagen des Zusammenlebens in Vielfalt vermitteln, ohne dabei zu abstrakt oder theoretisch zu werden. In manchen Texten geht es um die Ungerechtigkeit, als Kind noch nicht wählen zu dürfen, um Widerstand gegen Erwachsene und um demokratische Streitkultur. Viel wird dabei über Tiere („Disku-Tiere“, „Lamen-Tiere“, …) oder weitere Elemente kindlicher Bildwelten (die Erde als schmelzende Eiswaffel) erzählt. Andere Texte drehen sich um „Wutbürger“, den Weltuntergang oder die Ehe für alle. Das meiste ist liebenswürdig erzählt und gestaltet, in seiner thematischen und ästhetischen Bandbreite aber auch nah an der Beliebigkeit.
Dieser Eindruck würde insgesamt nicht zu stark ins Gewicht fallen, wenn an anderen Stellen nicht große Fragezeichen entstünden. So wird beispielsweise in einem Text ein offensichtlich darauf angewiesener Pfandflaschensammler („Harry findet immer etwas“) dargestellt und an die Lesenden die Frage gerichtet: „Was WÜRDE ihm helfen?“ Das suggestive Wortspiel (mit ‘Menschenwürde’) mag zwar im besten Fall zu einem Anflug von Empathie führen, konkretere Antworten aber – Umverteilung, Hartz IV abschaffen, Maßnahmen gegen Altersarmut – spart das Buch aus.
Zum genügsamen, staatstragenden Eindruck trägt auch das Vorwort des stellvertretenden Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Joachim Stamp (FDP), bei, der zwar pflichtschuldig über Demokratie und Menschenrechte sinniert, dabei aber leider (?) vergisst, seine umstrittenen Positionen zu Abschiebungen und sogenannter „Clan-Kriminalität“ zu erwähnen. Ein weiteres Fragezeichen entsteht in Bezug auf das Verhältnis von Produzent:innen, thematischem Anspruch und Zielgruppe. So oft im Buch auch von Einwanderung und Vielfalt die Rede ist, die Autor:innen- und Illustrator:innen sind – soweit sich das aus den abgedruckten Biographien und Google-Recherchen herauslesen lässt – mit wenigen Ausnahmen weiß und ohne Flucht- oder Migrationserfahrung. Dieses Missverhältnis äußert sich in Details wie ausgeschriebenen N-Wörtern sowie im insgesamt fehlenden Bewusstsein für Machtverhältnisse und ihre Veränderung, sowie für Differenz statt unreflektierter Gleichheit („Ausländer haben wir nicht. Bei uns gibt es nur Kinder.“) Insgesamt bleibt so die Frage, an wen und mit welchem Ziel sich das Buch richtet.
Das Buch vom Antirassismus und das Kontextproblem
Das vierte Buch auf meinem Stapel adressiert seine Zielgruppe dagegen wesentlich klarer: Das Handbuch This book is anti-racist (Tiffany Jewell, Aurélia Durand) erschien im Januar 2020 in Großbritannien, wurde in den USA zum New-York-Times-Bestseller und im September als Das Buch vom Antirassismus im Berliner Zuckersüß-Verlag veröffentlicht. Es richtet sich an Menschen im Alter von 10-17 Jahren, soll vor allem junge BIPoC in ihrer politischen Identitätsfindung begleiten und sie für anti-rassistische Kämpfe empowern.
In 20 Lektionen führt es die Lesenden an theoretische Konzepte heran und weitet ihren Blick für historische wie strukturelle Zusammenhänge. Viel mehr noch lädt es sie in kleinen Zwischenaufgaben dazu ein, sich ins Verhältnis zu diesen Strukturen zu setzen, die eigene Position zu entdecken und schließlich ein intersektionales, solidarisches Bewusstsein für die gemeinsamen Kämpfe rassifizierter Menschen zu entwickeln. Das Buch nimmt seine Lesenden bei alledem auf eine liebevolle, zugewandte Weise ernst. Es spart nichts aus, ermutigt aber zu Atempausen und vermittelt Fehlerfreundlichkeit. Es ist in zärtlichen Parolen geschrieben (“Du hast das Recht gesehen und verstanden zu werden!”) und mit Illustrationen versehen, die gleichermaßen als Demo-Schilder wie als stylische Lerngrafiken funktionieren.
Das Buch vom Antirassismus reflektiert an vielen Stellen seine Rolle als emanzipatorisches Bildungsmedium in rassistischen Gesellschaften. Es spricht die „globale Mehrheit“ an statt „marginalisierte Menschen“, historisiert die Schule als koloniales Unterdrückungsinstrument genau wie als Ort des Widerstands und setzt Statistiken über mangelnde Diversität auf dem Buchmarkt strahlende Repräsentationen nicht-weißer Jugendlichkeit entgegen. Ein Problem der deutschsprachigen Ausgabe ist allerdings: Sie tut all das vorrangig in Bezug auf Großbritannien und die USA. So sind zwar einzelne knappe Absätze über die deutsche Kolonialgeschichte eingefügt – spezifische Rassismuserfahrungen von jungen Menschen in Deutschland (antimuslimischer und antiasiatischer Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, …) fehlen aber komplett. Wie auch die Kuratorin und Autorin Mahret Ifeoma Kupka argumentiert hat, wird dadurch nicht nur fälschlicherweise der Eindruck erweckt, Rassismus sei vor allem andernorts ein Problem, sondern es werden auch kontextbezogene Rassismusforschung und anti-rassistischer Widerstand in Deutschland unsichtbar gemacht.
Eine Frage des Ernstnehmens
Ist es nun aber eigentlich angebracht, Kinder- und Jugendbüchern Auslassungen vorzuwerfen, wo es womöglich einfach um Zugänglichkeit geht? Strukturfragen zu stellen, wo doch für Kinder vermeintlich ‚alle Menschen gleich‘ sind? Das alles noch dazu als Erwachsener und ohne kindliches Korrektiv? Ich denke, ja. Man kann die Welt der Kinder- und Jugendmedien natürlich als politikfreien Raum verklären – aber ich glaube, dass man damit weder dem Genre noch jungen Menschen, geschweige denn der Welt, in der sie aufwachsen gerecht wird. Es geht letztlich darum, eine Literaturform genauso ernst zu nehmen wie im besten Fall ihre Leser:innen.
Die vier hier behandelten Bücher sind natürlich nur ein Ausschnitt. Zufällig gewählt aber sind sie nicht. Sie erreichen hohe Verkaufszahlen, werden von der Kritik gefeiert oder mit öffentlichen Geldern finanziert. Und sie geben einen Eindruck davon, vor welchen epochalen Herausforderungen und Kämpfen junge Menschen stehen: die ökologische Krise, die Wiederkehr des Faschismus, das friedliche Zusammenleben in Pluralität, das Aufwachsen in einem rassistischen Gesellschaftssystem. Gemessen daran mag es verständlich sein, sich nach einer Schonfrist für Heranwachsende zu sehnen. Dabei kann aber leicht der Eindruck entstehen, dass es eher um den Gegenwartseskapismus Erwachsener geht, die Kindheit als vorpolitischen Urzustand romantisieren.
Die für mich beim Lesen der vier Bücher letztlich entscheidenden Fragen stecken bereits in der Aussage meines fiktiven Kinds im eingangs zitierten Twitter-Meme: Welche Handlungen und welches Wissen trauen politische Kinder- und Jugendbücher ihren Leser:innen zu? Was ist das sinnvolle Maß zwischen Empowerment und Erschütterung? Zwischen der Vermittlung von Sicherheit, die es braucht, um in die Gesellschaft hineinzuwachsen und dem Wissen, der Wut, der Umsicht, die es braucht, sie zu verändern? Die hier behandelten Bücher beantworten diese Fragen auf ganz unterschiedliche Weise. Sie zeigen aber alle vier, dass die politische Wissens- und Erfahrungsweitergabe sich nie auf so etwas wie einfache oder überzeitliche Kernbotschaften reduzieren lässt, sondern immer an historische und gesellschaftliche Kontexte gebunden ist. Diese gilt es, früher oder später, zu erschließen.
Ich glaube, dass darin ein großes politisches Potential liegt. Denn Kinder- und Jugendbücher sind, stärker noch als Erwachsenenliteratur, eingebunden in die soziale Praxis des Vorlesens. Über diese entstehen im besten Fall Räume für weiterführenden Austausch und vielleicht sogar gemeinsames Lernen. Das eingangs aufgemachte Problem, dass auch dabei immer zuerst Erwachsene zu Kindern und Jugendlichen sprechen, lässt sich im Grundsatz zwar nur schwer auflösen. Die Frage ist aber darum vielleicht auch eher: Welche Impulse für Gespräche, Diskussionen und eigene Gedanken bieten politische Kinder- und Jugendbücher ihren Lesenden, Vorlesenden und Mitlesenden? Dass das Vorlesen und Diskutieren dabei nicht auf den Kreis der Kleinfamilie beschränkt bleiben muss, zeigt beispielsweise die US-amerikanische Netflix-Show „Bookmarks“: Celebrating Black Voices, in der Schwarze Prominente Kinderbücher von Schwarzen Autor:innen vorlesen und die (wahrscheinlich nicht nur jungen) Zuschauer:innen zum Gespräch darüber einladen.
Als ich im Sommer auf Twitter nach Empfehlungen für politische Kinder- und Jugendbücher fragte, kam nicht nur ein ganzer Thread mit schönen Tipps zusammen. Es kommentierte auch ein User: „jugendbücher haha welcher jugendliche der kein alman ist liest noch Bücher“. Die ehrliche Antwort ist: Ich weiß es nicht. Aber sowohl die einschlägigen Mediennutzungsstudien als auch jüngste Verkaufszahlen aus der Pandemiezeit lassen darauf schließen, dass es noch eine ganze Menge sind. Die Themen, die sie behandeln mögen dabei nicht immer im engeren Sinn politisch sein – die Begegnungen und Gespräche, die sie anstiften, sind es aber in jedem Fall.
Als Anhang eine unvollständige Liste von Büchern, über die ich gerne noch geschrieben hätte:
- „Im Dschungel wird gewählt“, über politische Prozesse
- „Punkte: Wir sind viele!“, über demokratische Mehr- und Minderheitsverhältnisse
- „Nein heißt Nein, sagt die Maus“, über individuelle Selbstbestimmung
- „A is for Activist“, über das ABC des Widerstands
- „Let the children march“, über Kinder in der Bürger:innenrechtsbewegung
- „Anti-racist baby“, Anti-Rassismus für die Allerkleinsten
- „Julian ist eine Meerjungfrau”, über Cross-Dressing und männliche Geschlechternormen,
- „Tales for the future“, Hybridformat mit Augmented-Reality-Effekten
- “Kommunismus“, ein kommunistisches Kinderbuch für Erwachsene
- und viele weitere feministische, diverse, progressive Kinderliteratur
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