Der Vers-Vernetzer – Zum Tod des Dichters Axel Kutsch

Ein Nachruf von Gerrit Wustmann

„Ich war ein Gesicht in der Menge / Blütenblatt unter Blütenblättern“

Dieser an Ezra Pound angelehnte Zweizeiler ist eins der letzten Gedichte, die Axel Kutsch geschrieben hat. Sein Lieblingsdichter aber, der, dessen Verse wir ihm wieder und wieder vorgelesen haben in den letzten Monaten, war William Carlos Williams. Selbst lesen konnte er nicht mehr seit er Ende Januar 2023 einen schweren Schlaganfall erlitten hatte.

Als seine Tochter Katja und ich an seinem letzten Tag am späten Nachmittag sein Krankenzimmer in Frechen nahe Köln verließen, überlegten wir, welche Gedichte wir ihm morgen vorlesen würden, aber insgeheim war uns klar, dass es kein Morgen mehr geben würde.

Am 30. Juni 2025 ist Axel Kutsch gegangen, für immer.

Aber ich will nicht über sein Sterben schreiben, über diese zweieinhalb Jahre, in denen er auf Erlösung wartete. „Mach weiter“, das war einer der ersten Sätze, die Axel zu mir sagte, damals, Ende der Neunziger, als wir uns kennenlernten, und er zitierte gerne das „Dennoch!“ von Camus, wenn das Leben, die Umstände ihm oder uns, seinen Freunden, seiner Familie Steine in den Weg warf, Felsbrocken, Lavaflüsse, all dieses Zeug, an dem das Leben bisweilen seine zweifelhafte, zynische Freude hat. „Dennoch! Macht weiter!“ Das würde er uns allen jetzt sagen, wenn er noch könnte. Und mit einem verschmitzten Lächeln hinzufügen: „Und lest dabei Gedichte.“

Ich wünschte, ich könnte hier im Persönlichen bleiben, einen Nachruf der Nähe schreiben über einen guten, einen meiner besten Freunde, Anekdoten aus dem Leben, aber weil im selbsternannten „Land der Dichter und Denker“ kaum jemand die Dichter (und Dichterinnen) liest, Lyrik, die älteste literarische Form, ein Nischenprodukt ist, muss ich damit beginnen, kurz zu erzählen, wer Axel Kutsch war.

Dichter, Herausgeber und von den späten 1960er Jahre bis 1999 Journalist und Redakteur, erst bei den Aachener Nachrichten, dann beim Kölner Stadt-Anzeiger, und im letzten Viertel seines Lebens Fulltimedichter und Herausgeber von fast fünfzig Anthologien. In Thüringen geboren, in Stolberg bei Aachen aufgewachsen, schwierige Kindheit, frühe Leidenschaft für Literatur und Theater und dann im Laufe der Jahrzehnte ein umfangreiches literarisches Werk, das Spuren hinterlassen wird. Anfangs probierte er sich an szenischen Texten, Kurzprosa, Roman, das meiste davon blieb unveröffentlicht, bis er sich ganz der Lyrik verschrieb und dort, sowohl als Leser als auch als Autor, vor allem der kurzen und kürzesten Form. Er liebte die sprachliche Verdichtung, hat unter anderem auch zwei Anthologien mit Kurzlyrik herausgegeben.

Als Teenager und junger Mann schrieb er wütende, manchmal auch ratlose politische und gesellschaftskritische Gedichte, die dörfliche Enge von Stolberg, den Rassismus und das Nazierbe in der gesellschaftlichen Mitte verarbeitete er in seinem ersten umfangreicheren Buch „Aus einem deutschen Dorf“ (1986).

Als Hitler vorüberfuhr

Die Fahrt durch das Dorf

dauerte nur wenige Minuten.

Er wird den Namen kaum

behalten haben.

Die am Straßenrand

standen und aus den Fenstern

lehnten seien zurückhaltend

gewesen mit Sympathie.

Ja, manch einer habe

keine Miene verzogen

und ohne Regung

die Durchfahrt verfolgt.

Wenn sie davon erzählen

klingt es fast wie Widerstand.

Auch wenn seine Gedichte mit der Zeit formbedachter, verspielter, humorvoller, galgenhumoriger wurden – diesen Biss hat er nie verloren, diesen Blick für die gesellschaftlichen Verlogenheiten, den andauernden Selbstbetrug, für das, was da gärt hinter den weißen Gartenzäunen. Axel Kutsch war nie der junge Dichter, der die Welt verändern will, sondern der, der sich sein Entsetzen über die Welt in Verse fassen musste, um damit umgehen zu können. Später haderte er mit seinem Frühwerk, weniger inhaltlich, sondern vor allem formal. Seine spätere Form des humorvollen Metagedichts fand er über einen Umweg, indem er in den frühen Neunzigern, in seiner „Stakkato“-Phase, das Gedicht demontierte, ein wildes Wortgemetzel veranstaltete, das auf den ersten Blick völlig formlos ist, und auf den zweiten ein gewitztes Spiel mit der Frage, was denn ein Gedicht eigentlich sein soll. Eine Frage, die er später auf andere Art stellte, so wie hier: „Wer sucht mit mir / den tieferen Sinn? / Wohin hat sich / der Dreckskerl verkrochen? / Ohne ihn hat / der Leser keinen Gewinn, / und der Dichter blamiert / sich bis auf die Knochen.“ (aus „Einsturzgefahr“, 1997)

Eins der ersten Kutschgedichte, die ich las, das muss um 1999 gewesen sein, war „Die Antwort der Dichter“ (2005 erschienen in „Ikarus fährt Omnibus“), und es ist bis heute eins meiner liebsten:

Die Antwort der Dichter

Vom Berge winken die Dichter.

„Sieh nur, jetzt schwenken sie Lichter.“

Die Dämmerung hat sie verschattet.

Ihr Schwenken wirkt reichlich ermattet.

„Was soll uns ihr Schwenken bedeuten,

uns einfachen lesenden Leuten?

Was woll’n uns die Dichter sagen?“

„Geh rauf auf den Berg und sie fragen.“

(Eine Stunde später.)

„Du bist auf den Berg gestiegen?“

„Ja, aber die Dichter schwiegen.

Sie schwenkten nur ihre Lichter.“

Das war die Antwort der Dichter.“

Ich war damals noch Schüler, hatte das Allermeiste längst gelesen, bevor es mir im Unterricht wieder begegnete, und die oft abstruse Gedicht-Seziererei ging mir gehörig auf den Senkel, zumal ich schon kommen sah, dass das genau die falsche Taktik ist, wenn man aus Schüler*innen spätere Leser*innen machen will. Und siehe da: Wie viele lesen nach der Schule schon noch Gedichte? Ich fand dieses Gedicht von Axel einen wunderbaren Kommentar dazu. „Man muss ein Gedicht nicht verstehen, um es genießen zu können“, sagte er mal. Die analytische Herangehensweise verstellt den Zugang oft eher, als dass sie ihn öffnet. Zumal ich schon nicht mehr zählen kann, wie oft ich erlebt habe, dass Dichter*innen ratlos bis belustigt vor den vermeintlich „richtigen“ Interpretationen ihrer Texte in Schulbüchern stehen. Vielleicht wäre es ganz gut, sie öfter einzuladen in die Schulen. Goethe können wir nicht mehr fragen. Aber sie sind ja zahlreich da, die Dichter*innen, und viele von ihnen arbeiten gerne mit jungen Menschen. Und es ist ein Irrtum, dass die Lyrikszene der Gegenwart sich nur auf die großen Städte konzentriert, auf Berlin, Köln, Hamburg. Viele wohnen in der Ruhe der Provinz, schreiben still, publizieren leise und in kleinen Auflagen.

Eine Orientierung, ein Panorama der deutschsprachigen Gegenwartslyrik der letzten fünfzig Jahre bieten die fast fünfzig Anthologien, die Axel Kutsch herausgegeben hat, zuletzt die fünfzehnbändige „Versnetze“-Reihe im Verlag Ralf Liebe (Weilerswist). Dort finden sich viele der großen, etablierten Namen neben weniger bekannten und den ganz jungen, dem Nachwuchs, der Axel stets so wichtig war. Mein erstes publiziertes Gedicht steht in seiner Anthologie „Blitzlicht. Kurzlyrik aus 1100 Jahren“ (2001). Es ist kein gutes Gedicht, und ich selbst hätte es als Herausgeber wahrscheinlich nicht mitgenommen.

Aber darum ging es Axel Kutsch nicht. Er wusste, wie demotivierend es für junge Dichter*innen ist, in frühen Jahren, ohnehin von Selbstzweifel zerfressen, ob die eigene Arbeit etwas taugt, damit leben zu müssen, nicht ernst genommen zu werden und Absagen von Verlagen, Herausgebern, Redaktionen zu sammeln. Er hatte einen guten Blick dafür, ob jemand Potential hat, ob da etwas Ausbaufähiges zwischen den Zeilen schlummert. Und er wusste, wie motivierend eine erste kleine Publikation sein kann. Viele, die heute etabliert sind, erinnern sich noch gut an ihre ersten literarischen Gehversuche in einer Kutsch-Anthologie. Viele haben es ihm zu verdanken, dass sie nicht in frühen Jahren bereits aufgegeben haben. Auch ich.

Das wäre nicht möglich gewesen, hätte er als Herausgeber einen elitären Ansatz verfolgt, hätte er versucht, immer nur die allerbesten oder avantgardistischsten Gedichte zu sammeln. Stattdessen wollte er die Lyrik in der Breite und Vielfalt darstellen. Er suchte nicht das perfekte Gedicht, sondern den einen guten Vers, die eine originelle Metapher, die nachklingt, hängenbleibt, und konnte im Gegenzug Schwächen verzeihen. Nur eins war ihm zuwider: abgedroschene Metaphern und Bilder oder, am allerschlimmsten, Redewendungen in Gedichten (es sei denn, sie werden ironisch gebrochen). Und Dichter*innen, denen es weniger ums Gedicht geht als darum, den eigenen Namen gedruckt zu sehen – wovon es viele gibt, leider.

Seit den frühen 1980er Jahren hat er sich in der Regel einmal, gelegentlich sogar zweimal im Jahr für ein paar Monate völlig eingegraben, zu mehr als einem kurzen Plausch beim Kaffee war er in jenen Zeiten nicht zu überreden, wenn er täglich an den Briefkasten ging, um die Einsendungen, die ihn stapelweise erreichten, zu sichten. Hunderte, bisweilen mehr als tausend waren es pro Anthologie, rund zweihundert wählte er im Schnitt aus, tippte jedes einzelne Gedicht, das ins Buch kommen sollte, per Hand ab, noch bis in die Neunziger hinein auf der Schreibmaschine. Anfangs gab er mehrere Lokal-Anthologien heraus, die sich auf den Rhein-Erft-Kreis, dann auf den Raum Köln konzentrierten, später zog er größere und größere Kreise, bis er zum Schluss auch auf Deutsch verfasste Verse von in anderen Ländern lebenden Dichter*innen aufnahm (während viele seiner eigenen Gedichte übersetzt wurden, ins Englische, Französische, Persische und zahlreiche weitere Sprachen, seine „Feier des Wortes“ war zeitweise Prüfungsstoff an Schulen in Washington).

Mehrfach hat er Themenanthologien zusammengestellt: Mit „Unterwegs ins Offene“ (2000, zusammen mit Anton G. Leitner) die ersten Gedichte des neuen Jahrtausends; Goethe-Parodien; Zeit-Gedichte; Stadt-Gedichte; Mond-Gedichte und zuletzt sogar Horrorgedichte („Fährten des Grauens“, 2021). Aufgrund der offenen Herangehensweise nannte er seine Anthologien „Kataloge“, und das sind sie tatsächlich. Wer heute wissen will, das in den letzten Jahrzehnten die deutsche Dichtung bewegt hat oder was in einer bestimmten Region so geschrieben wurde, der wird bei Kutsch fündig. Ein Archiv der Gegenwartsdichtung sind diese Sammlungen.

Die meisten sind in den letzten dreißig Jahren im Verlag Ralf Liebe (vormals Landpresse) in Weilerswist erschienen. Liebe und Axel Kutsch waren in all der Zeit enge Freunde, und Axel Kutsch hat das Lyrikprogramm des kleinen Verlages maßgeblich mitgeprägt, hat Vorschläge gemacht, Autor*innen vermittelt, und es sind ganze Regalreihen voller lesenswerter Titel daraus entstanden, zuletzt zum Beispiel mehrere Bücher der Kölner Dichterin Gundula Schiffer.

Und Axel Kutschs gesammelte Gedichte. Als klar war, dass er nicht mehr schreiben konnte, machten seine Tochter Katja und ich uns daran, sein Archiv zu sichten, seine Bücher, Anthologien, in denen er vertreten ist, seine umfangreichen Manuskripte, und stellten Ende 2023 alles, inklusive über 100 bis dato noch unveröffentlichter Gedichte, unter dem Titel „Am Rande der Sprache steht ein Gedicht. Das lyrische Werk 1969 – 2022“ zusammen. Warum damals schon, weshalb nicht erst jetzt? Weil wir wollten, dass er es noch miterlebt. Das hat er, und er hat sich sehr darüber gefreut. Solche Augenblicke sind es, die uns in Erinnerung bleiben. Viele solcher Augenblicke. Wenn ich mit ihm sprechen möchte, schlage ich eins seiner Bücher auf und lausche seiner Stimme.

In diesem Sinne möchte ich Axel das Schlusswort überlassen und mit ihm feiern:

Feier des Wortes

Bevor Sie dieses Gedicht betreten,
ziehen Sie sich bitte die Schuhe aus.
Sie werden vom Autor darum gebeten.
Sparen Sie am Ende nicht mit Applaus.

Haben Sie sich schon die Hände gewaschen?
Nein? Dann wird es aber höchste Zeit.
Begegnen Sie Dichtung nicht mit der laschen
Einstellung Ihrer Alltäglichkeit.

Was glauben Sie denn, wo Sie gerade weilen?
Hier findet eine Feier das Wortes statt.
Spüren Sie nicht den Wohlklang der Zeilen,
die der Autor für Sie geschrieben hat?

Da darf er ein bißchen Respekt verlangen.
Nehmen Sie gefälligst Haltung an.
Gerade sitzen! Nicht so durchgehangen
wie ein versoffener Liederjan.

Die Zähne sollten Sie sich auch noch putzen.
Ein Gedicht verträgt keinen Mundgeruch.
Oder geht es Ihnen darum, zu beschmutzen,
was Sie mehr fordert als ein Kalenderspruch?

Lesen Sie langsam. Nehmen Sie sich Zeit.
Sorgen Sie noch für gedämpftes Licht.
Sind Sie jetzt endlich soweit?
Dann genießen Sie dieses Gedicht. 

Foto von Arun Anoop auf Unsplash

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