Von Magda Birkmann
Im Jahr 1882 forderte der französische Schriftsteller Edmond de Goncourt seine Leserinnen im Vorwort seines Romans La Faustin auf, ihm authentische Zeugnisse ihres Lebens und ihrer Empfindungen – in der Form von Tagebüchern, Erinnerungen und Lebensbeichten – zukommen zu lassen:
„Die Enthüllung zarter Gefühle und feiner Keuschheit, ja, die ganze unbekannte Weibhaftigkeit auf dem Grund der Frau, die den Ehemännern und selbst den Liebhabern zeitlebens verborgen bleibt […], das ist es, was ich verlange.“
Mit dieser ungewöhnlichen Bitte bereitete de Goncourt bereits sein nächstes Romanprojekt vor, welches „einfach die psychologische und physiologische Studie eines jungen Mädchens“ werden sollte, „ein Roman, der auf Zeugnissen des menschlichen Lebens errichtet wird.“ Zwei Jahre später entstand daraus der naturalistische Roman Chérie, der das Innenleben der gleichnamigen Protagonistin minutiös nachzeichnet.
Die Entstehungsgeschichte dieses Romans war es wohl, die eine junge russische Malerin namens Marie Bashkirtseff im Jahr 1884 dazu ermutigte, sich mit einem Brief an Edmond de Goncourt zu wenden:
„Monsieur. Wie jedermann habe auch ich „Chérie“ gelesen, und, unter uns gesagt, das Buch ist voller Banalitäten. Diejenige, die die Kühnheit besitzt, Ihnen zu schreiben, ist ein Mädchen, das in einem reichen, eleganten, manchmal exzentrischen Milieu aufgewachsen ist. Dieses Mädchen, das seit vier Monaten 23 Jahre alt ist, ist gebildet, künstlerisch begabt und anspruchsvoll. Sie ist im Besitz von Heften, in denen sie seit dem 12. Lebensjahr Tag für Tag ihre Eindrücke aufgezeichnet hat. Nichts wurde darin verheimlicht. Das fragliche Mädchen verfügt im übrigen über einen Stolz, der bewirkt, dass sie sich in ihren Notizen ganz und gar zur Schau stellt. […] Ihr scheint es interessant, Ihnen dies Tagebuch zukommen zu lassen.“
Da Marie Bashkirtseff sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Endstadium einer langjährigen Tuberkuloseerkrankung befand und sich der Tatsache bewusst war, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, sah sie in der Veröffentlichung ihres privaten Tagebuchs die einzige ihr verbleibende Möglichkeit, ihren sehnlichsten Wunsch zu erfüllen: Sie wollte berühmt werden, und das um jeden Preis. Am 31. Oktober desselben Jahres erlag Marie Bashkirtseff der Schwindsucht – ihr Brief an Edmond de Goncourt blieb unbeantwortet. Doch auch ohne die Unterstützung des berühmten Literaten fand das Tagebuch der Marie Bashkirtseff wenige Jahre nach ihrem Tod den Weg in die Öffentlichkeit, die es mit Begeisterung aufnahm: In ganz Europa entstand um die Jahrhundertwende ein regelrechter Bashkirtseff-Kult.
Selbsterzählung statt moralischer Gewissensprüfung
Das Tagebuchschreiben gilt im 19. und frühen 20. Jahrhundert als eine weiblich dominierte Praxis, dennoch sticht Marie Bashkirtseffs Tagebuch aus mehreren Gründen aus der Masse an Journaux intimes junger Frauen heraus. Bei den meisten dieser überlieferten Tagebücher handelt es sich um religiös und moralisch motivierte Texte. Als Teil einer verbreiteten Erziehungspraxis für Mädchen wurden sie von Erzieher*innen und Eltern nicht nur angeregt, sondern teilweise auch kontrolliert. Indem sie sich schreibend einer moralischen Gewissensprüfung unterzogen, sollten junge bürgerliche Mädchen die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte verinnerlichen. Statt einer intimen Selbstbetrachtung diente das Tagebuch vielmehr der Austreibung eines individuellen Ichs.
Nicht so im Schreiben von Marie Bashkirtseff, hier kann von einer Ich-Austreibung kaum die Rede sein:
„Ich kenne jemanden, der sein ganzes Leben hingeben möchte, um mich glücklicher zu machen, der auch alles tun wird für mich und der Erfolg haben wird, jemand, der mich nie verraten wird, obgleich er mich schon einmal verriet. Und dieser jemand bin ich selbst!“
Grundsätzlich galt ein Tagebuch im 19. Jahrhundert nur aus zwei Gründen als publikationswürdig: entweder, weil es als biographische Illustration zum bereits kanonisierten Werk eines Künstlers gelesen werden konnte oder, weil es als Erbauungs- bzw. Erziehungsschrift für junge Mädchen Verwendung fand, wie beispielsweise die Tagebücher Eugénie de Guérins (1855) oder Marie-Edmée Paus (1876). Von den wenigen Tagebüchern, die vor Marie Bashkirtseffs Journal überhaupt veröffentlicht wurden, war vermutlich keines mit der Absicht, es zu publizieren, verfasst worden.
Anders Marie Bashkirtseff – im Mai 1884, im fortgeschrittenen Stadium ihrer Tuberkuloseerkrankung, entwirft die junge Künstlerin ein Vorwort für ihr Tagebuch, das vehement ihren Wunsch es zu veröffentlichen ausdrückt und diesen Wunsch vor den zukünftigen Leser*innen verteidigt:
„Wozu lügen und sich verstellen? Ja, es ist offensichtlich, dass ich den Wunsch, wenn nicht gar die Hoffnung habe, auf dieser Erde zu bleiben, durch welches Mittel es auch sei. Falls ich nicht jung sterbe, hoffe ich, als große Künstlerin zu überleben, aber wenn ich doch jung sterbe, dann will ich mein Tagebuch veröffentlichen, das nicht anders als interessant sein kann.“
Marie befürchtet, dass diese explizit geäußerte Veröffentlichungsabsicht ihre Leser*innen dazu verleiten könnte, die Authentizität des Geschriebenen in Frage zu stellen. Sie versucht, solch einer Lesart zuvorzukommen:
„Zuerst habe ich sehr lange geschrieben, ohne daran zu denken, je gelesen zu werden, und jetzt bin ich, gerade weil ich hoffe, gelesen zu werden, völlig aufrichtig. Wenn dieses Buch nicht die exakte, absolute, strenge Wahrheit ist, hat es keine Existenzberechtigung. […] Im übrigen halte ich mich für zu bewundernswert, um mich zu zensieren. Sie können also sicher sein, meine barmherzigen Leser, dass ich mich auf diesen Seiten ganz und gar ausbreite.“
Trotz dieser leidenschaftlichen Beschwörung eines Authentizitätsanspruchs ist aus Leser*innenperspektive Vorsicht geboten, Maries Tagebuch sollte ungeachtet ihrer vermeintlichen Offenheit nicht als vollkommen authentisches Selbstzeugnis gelesen werden. Verschiedene Strategien der bewussten Inszenierung sind bei genauer Lektüre des Journals deutlich erkennbar und Marie selbst thematisiert, dass sie in ihrem Schreiben längst nicht alles festhalten kann, was ihr durch den Kopf geht: „Zwischen all den geschriebenen Wörtern verbergen sich eine Million gedachter Dinge, nur Bruchstücke meiner Gedanken kommen zum Ausdruck.“
Sie ist sehr bedacht darauf, wie sie sich in ihrem Tagebuch darstellt, immer wieder spricht sie imaginierte Leser*innen direkt an, spielt mit den literarischen Konventionen, die ihr aus ihrer umfassenden Lektüre der Werke von Balzac, Maupassant, Dumas, Stendhal, Sand und anderen Romanciers wohlbekannt sind. In ihrem Schreiben wird sie selbst zur Heldin ihres „Kopf-Romans“ und lässt dabei die Grenzen zwischen faktentreuer Dokumentation und Fiktionalisierung des eigenen Lebens verschwimmen. In dieser Hinsicht kann Marie Bashkirtseff durchaus als ideelle Vorreiterin des autofiktionalen Schreibens, wie es im 20. und vor allem im beginnenden 21. Jahrhundert Verbreitung findet, betrachtet werden. Angesichts ihres bewegten Lebens verwundert Maries großer Drang, sich literarisch auszudrücken, nicht weiter, denn ihre Erfahrungen fernab einer ruhigen bürgerlichen Existenz bieten reichlich Stoff für eine große Erzählung.
Ein Leben unter dem Drang nach Ruhm und Ehre
Marie Bashkirtseff wird am 24. November 1858 in Gawronzi (Gouvernement Poltawa) in der heutigen Ukraine als Tochter des adligen Grundbesitzers Constantin Bashkirtseff und dessen Frau Marie Babanine geboren. Bereits drei Jahre nach Maries Geburt trennen sich ihre Eltern, Marie wächst fortan auf dem Gut ihrer mütterlichen Großeltern auf. 1870 verlassen Marie, ihre Mutter, ihr Bruder und weitere Mitglieder der Familie Babanine Russland und unternehmen ausgedehnte Reisen nach Wien, Baden-Baden und Genf, bevor sie sich schließlich 1871 in Nizza niederlassen.
Die Verwicklungen in einen aufsehenerregenden Gerichtsprozess, in dem Maries Mutter und ihre Tante Nadine Romanoff als Erbschleicherinnen angeklagt werden, sowie die alkoholischen und gewalttätigen Exzesse von Maries Onkel Georges schmälern das Ansehen der Familie und führen dazu, dass den Bashkirtseff-Babanines der Zugang zu den höchsten Kreisen der feinen Nizzaer Gesellschaft zeit ihres Lebens verwehrt bleiben wird – zum großen Leidwesen Maries. Denn bereits als junges Mädchen sehnt Marie sich nach Ruhm und Ehre, träumt von einer Bühnenkarriere. „Ich bin geschaffen für Triumphe und Erregungen; also das Beste, was ich tun kann, ist, dass ich Sängerin werde,“ notiert sie 1873 in ihrem frisch begonnenen Tagebuch.
Der zweite große Traum ihrer Jugendjahre ist romantischer Art: Marie wähnt sich verliebt in den Herzog von Hamilton, den sie auf der Promenade von Nizza erblickt, mit dem sie jedoch noch nie auch nur ein Wort gewechselt hat. Das hindert sie allerdings nicht daran, in ihrem Tagebuch kühne Pläne zu schmieden:
„Wenn er dann ein junges Mädchen sehen wird, das den höchsten Gipfel des Ruhmes, den eine Frau erreichen kann, erklommen hat, wenn er erfährt, dass ich ihn treu seit meiner Kindheit liebe, dass ich ehrbar bin und rein, so wird ihn das in Staunen versetzen, er wird mich um jeden Preis haben wollen, und er wird mich aus Stolz heiraten. Doch, was sag‘ ich? Warum sollte er mich nicht aus Liebe heiraten?“
Doch keiner dieser kühnen Pläne soll in Erfüllung gehen, beide werden vom Schicksal vereitelt. Eine Kehlkopferkrankung raubt Marie die Singstimme und der Herzog von Hamilton, lange Zeit aus der Ferne umschwärmt, heiratet schließlich Ende 1873 eine andere. Für Marie, die mit ihren 15 Jahren mitten im Teenageralter steckt, bricht eine Welt zusammen, als sie davon erfährt:
„Das drang mir wie ein scharfes Messer in die Brust. Ich fing an, so stark zu zittern, dass ich kaum das Buch halten konnte. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden […] Mein Gott, rette mich von dem Übel! Herr Gott, vergib mir meine Sünden und strafe mich nicht! Es ist aus … aus! Mein Gesicht wird fahl, wenn ich daran denke, dass es aus ist.“
Vom jugendlichen Pathos, der diese Zeilen tränkt, distanziert sich sechs Jahre später die inzwischen erwachsene, desillusionierte Künstlerin jedoch klar, dann wird sie beim Wiederlesen ihrer alten Tagebücher an den Rand notieren: „All das wegen eines Mannes, den ich ein Dutzend mal auf der Straße gesehen hatte – den ich nicht kannte, und der nichts von meiner Existenz wusste. All das hat beim Wiederlesen im Jahr 1880 überhaupt keine Wirkung auf mich.“
Und tatsächlich findet Marie in den folgenden Jahren schnell Ablenkung auf zahlreichen Reisen nach Paris, Spa, Ostende, London, Florenz, Rom und Neapel, die vor allem durch diverse Flirts und Schwärmereien gekennzeichnet sind. Letztendlich werden sie jedoch alle folgenlos bleiben.
1874 tauchen bei ihr erste Anzeichen einer Tuberkuloseerkrankung auf, auch wenn zu diesem Zeitpunkt weder Marie selbst noch ihre Familie den Ernst der Lage erkennen: „Ich bin so fröhlich, dass es mir seltsam vorkommt. Vielleicht habe ich in der linken Brust Krebs, denn von Zeit zu Zeit habe ich Schmerzen. Ich habe Mama ernsthaft davon unterrichtet, aber sie sagt das sei Unsinn.“ Nach wie vor ist Marie hauptsächlich auf ein Ziel fixiert:
„Heiraten und Kinder bekommen! Das kann ja jede Waschfrau! […] Was will ich denn eigentlich? Oh, ihr wisst es ja. Ich will Ruhm!“ Doch wie berühmt werden? Die Ungeduld nagt an der jungen Frau : „Ich bin achtzehn Jahre alt. […] Mit achtzehn Jahren müsste ich schon damit begonnen haben, berühmt zu werden.“
„Was die Männer ganz einfach haben können.“
Doch als Frau im 19. Jahrhundert bleiben ihr viele Wege versperrt, besonders, als sie sich 1877 der bildenden Kunst zuwendet. Frauen dürfen sich nicht an der berühmten staatlichen Kunstakademie École des Beaux-Arts in Paris einschreiben, ihr bleibt daher nur die Anmeldung an der privaten Académie Julian, um ein Kunststudium aufzunehmen. Diese entmutigende Erfahrung führt dazu, dass sie im Dezember 1880 – als große Ausnahme in ihrem Umfeld – dem von Hubertine Auclert gegründeten Verein Le Droit des Femmes beitritt und unter dem Pseudonym Pauline Orell Artikel für die feministische Zeitschrift La Citoyenne verfasst, in denen sie die institutionellen Ausschlüsse und Anfeindungen von Frauen in der Kunstwelt anprangert:
„Es gibt keine [Gründe, Frauen nicht in die Ecole des Beaux-Arts aufzunehmen], man hat noch niemals darüber nachgedacht, und das ist alles. Folglich verkündet Ihr laut, stärker, intelligenter, begabter als wir zu sein, und Ihr nehmt für Euch allein eine der schönsten Schulen der Welt in Anspruch, in der alle Förderungen an Euch verschwendet werden. […] was wir brauchen, ist die gleiche Möglichkeit zu arbeiten wie die Männer und nicht das Aufbringen von größten Anstrengungen, um das zu erreichen, was die Männer ganz einfach haben können.“
Auch in ihrem Tagebuch klagt Marie immer wieder über die Einschränkungen, die ihr als Frau auferlegt werden:
„Oh! wie sind die Frauen zu bedauern! Männer sind wenigstens frei. Völlige Unabhängigkeit im Alltagsleben, die Freiheit zu kommen und zu gehen, auszugehen, im Theater oder zu Hause zu Abend zu essen, zu Fuß in den Wald oder ins Café zu gehen. Diese Freiheit macht schon die Hälfte einer Begabung aus und drei Viertel des… normalen Glücks.“
Aber Marie zeigt Talent und besitzt Ehrgeiz. Mehrere ihrer Gemälde werden im berühmten Pariser Salon ausgestellt. Doch der Traum vom ganz großen Ruhm bleibt noch immer unerfüllt, und langsam läuft ihr die Zeit davon. Von einer Reise nach Spanien kehrt Marie im Oktober 1881 schwerkrank nach Paris zurück, im Laufe der nächsten Jahre verschlimmern sich ihre Symptome immer mehr. Marie gibt sich aber dennoch voll und ganz ihrem künstlerischen Schaffen hin, verausgabt sich immer wieder, ungeachtet ihres immer schlechter werdenden Gesundheitszustands. Doch immer häufiger schleicht sich auch die Verzweiflung in Maries Schreiben ein: „Mein Leben ist nichts wert, und nichts lässt mich daran festhalten. […] Ich weiß nicht länger, was ich tun soll. Ein neues Bild wird mir wieder Lebensmut schenken, aber bis dahin fühle ich mich verloren!“
Am 20. Oktober 1884 nimmt Marie die letzte Eintragung in ihrem Tagebuch vor: „Seit zwei Tagen steht mein Bett im Salon, aber da es sehr groß ist und Paravents, Puffe und das Klavier darum herum stehen, fällt es nicht auf. Es fällt mir zu schwer, die Treppe zu steigen.“ Sie stirbt elf Tage später am 31. Oktober.
Zur Femme Fragile gemacht
Mit Maries Tod beginnen die Legendenbildungen – und die Schmähungen. 1887 gibt André Theuriet im Auftrag von Maries Mutter eine erste Edition des Tagebuchs heraus, in der jedoch etwa die Hälfte des Textes radikalen Kürzungen zum Opfer gefallen ist. Nicht nur wird Marie darin als fast zwei Jahre jünger dargestellt, als sie tatsächlich war, Theuriets Eingriffe entschärfen außerdem ihren Stil und ihre Sprache und dämmen ihr Temperament stark ein. Der Herausgeber zensiert Hinweise auf Maries kompromittierende familiäre Situation und schwächt Erwähnungen ihrer verheerenden Krankheit ab, schreibt sogar ganze Passagen komplett um.
Dennoch ist der Erfolg dieser ersten Ausgabe so beachtlich, dass 1891 eine nicht minder fragwürdige Edition ihrer Briefe folgt. Verehrer*innen pilgern fortan zu Maries pompösem Mausoleum auf dem Pariser Künstler*innenfriedhof Passy, Sammler*innen streiten sich um die zahlreichen Photographien, die Marie im Laufe ihres Lebens hat anfertigen lassen. 1925 erscheinen die von Pierre Borel herausgegebenen Cahiers intimes inédits, die behaupten, alles bisher Ungesagte zu offenbaren, in die aber kaum weniger Eingriffe vorgenommen wurden als in Theuriets Edition. Ein 1935 gedrehter österreichischer Spielfilm wird zum Skandal, weil darin Marie als die Geliebte von Guy de Maupassant dargestellt wird.
Schriftsteller*innen wie Henri Bataille und Mrs Humphry Ward bedienen sich ihrer Geschichte als Inspiration für ihre eigenen tragischen Protagonistinnen und auch der deutsche Dramatiker Ferdinand Bruckner veröffentlicht 1935 einen schwülstigen biografischen Roman über Marie mit dem Titel Mussia. Und so verfestigt sich nach und nach das romantische Bild der schönen, kindlichen, tugendhaften, unberührten Schwindsüchtigen, die im Leben zwar ein wenig zu viel gewollt hat, deren viel zu früher Tod sie aber als reiner und unschuldiger Engel in der Vorstellung der Nachwelt fortleben lässt.
Doch selbst dieses geglättete Bild Marie Bashkirtseffs steht immer noch in einem starken Kontrast zu dem Idealbild der jeune fille, wie es im späten 19. Jahrhundert beispielsweise in Benimmbüchern für bürgerliche Frauen propagiert wurde:
„Ein wohlerzogenes Mädchen schaut sich niemals nach jemandem auf der Straße um. […] Weder in der Öffentlichkeit noch im Hause trägt sie außergewöhnliche oder exzentrische Kleidung und verzichtet auf jede auffällige Farbe, die ‚die Blicke anzieht‘. Der Ton ihrer Stimme ist weder laut noch leise, weder schleppend noch schroff oder schrill. Sie spricht ganz natürlich, mit einer ordentlichen, weder zu tiefen noch zu hohen Stimme. Sie enthält sich jeder Überspanntheit in der Konversation […] Sie vermeidet unbändiges Lachen, indem sie sich daran gewöhnt, ihre Gefühle zu beherrschen.“
Marie dagegen zeigt sich in ihrem Tagebuch keinesfalls bescheiden und zurückhaltend, sondern stellt sich überaus extravagant und fordernd dar. Sie liebt es, mit ihren selbst entworfenen Outfits die Blicke im Theater und auf der Promenade auf sich zu ziehen, außerdem sieht sie sich gern nach Männern um und äußert in ihrem Tagebuch auf für ihre Zeit explizite Art ihre sexuellen Wünsche. Auch ihre häufigen Wutausbrüche und Stimmungsschwankungen, die sie gewissenhaft dokumentiert, entsprechen ebenso wenig dem gesellschaftlich akzeptierten Bild einer wohlerzogenen jungen Dame wie Maries grenzenloser Ehrgeiz und ihr Überzeugtsein von der eigenen Besonderheit: „Ich will Cäsar sein, Augustus, Marc-Aurel, Caracalla, der Teufel, der Papst!“
Die Offenheit und Nonchalance, die Bashkirtseff in ihrem Tagebuch an den Tag legt, rufen vernichtende Kritiken an Maries Person auf den Plan. Simone de Beauvoir sieht in Marie den Prototyp der weiblichen Narzisstin, die sich durch Entfremdung in ein „imaginäres Double“ selbst vernichtet und ihre Leidenschaft für die Kunst nur gespielt habe. Der englische Reformer William Stead ist so schockiert von Maries mangelnder weiblicher Demut, dass er sie gar zur “antithesis of the true woman” erklärt und fürchtet, dass sich andere junge Frauen an ihr ein Beispiel nehmen könnten.
Und Stead liegt richtig: Maries unerschrockene Selbstdarstellung als Künstlerin birgt ein hohes Identifikationspotenzial für spätere Künstlerinnen und Schriftstellerinnen. In ihren eigenen Tagebüchern, von denen einige später ebenfalls große Bekanntheit erreichen werden, halten sie den großen Einfluss fest, den die Lektüre des Journals auf ihr Denken und Schaffen hat. So berichtet Franziska zu Reventlow im Jahr 1901: „Ich lese Marie Bashkirtseff, das möchte die einzige Frau gewesen sein, mit der ich mich ganz verstanden hätte, vor allem auch in der Angst, etwas vom Leben zu verlieren und vor dem unerhörten Prügelbekommen vom Schicksal.“
Auch Anaïs Nin ist tief beeindruckt von ihrer Lektüre, am 23. September 1921 schreibt sie in ihr Tagebuch: „There are things [Marie Bashkirtseff] says that are reflected word for word here in my own diary. It’s enough to make me think I am mad and that I copied them – or else that Marie’s soul has been reincarnated in me.“
Für den verzerrten Mythos von Marie Bashkirtseff als tragischer, engelsgleicher Kindfrau zeichnet größtenteils die Rezeption ihres Tagebuchs durch männliche Leser und Kritiker verantwortlich. Wir verdanken es der Arbeit und Recherche von Frauen, dass wir heute ein verlässlicheres Bild von Bashkirtseffs Leben und Werk haben. Deutschen Leser*innen bleibt aber ein authentischer Eindruck davon, wie sich Marie Bashkirtseff in ihrem Tagebuch selbst präsentierte, bis heute vorenthalten. Es wird höchste Zeit für eine unverfälschte Neuübersetzung.
Anmerkung:
Doris Langley Moore verfasste 1966 die erste Biographie Marie Bashkirtseffs, die auf einer Lektüre der originalen Tagebuchmanuskripte anstatt auf den verfälschten Editionen Theuriets und Borels aufbaut – sie behandelt allerdings hauptsächlich das Jahr 1873 und Maries Schwärmerei für den Herzog von Hamilton. Colette Cosnier machte mit ihrer 1985 erschienenen Biographie „Marie Bashkirtseff – Un Portrait sans retouches“ erstmals ein breites Publikum auf das verfälschte Bild, das bis zu diesem Zeitpunkt von Marie Bashkirtseff kursierte, aufmerksam. In Frankreich ist inzwischen dank der Bemühungen des „Cercle des Amis de Marie Bashkirtseff“ eine vollständige Transkiption aller 103 Tagebuchmanuskripte, die sich im Besitz der Französischen Nationalbibliothek befinden, erschienen. Englische Leser*innen können seit einigen Jahren auf eine zweibändige Übersetzung der Tagebücher von Phyllis und Katherine Kernberger zurückgreifen, die im Gegensatz zu den früheren englischen Übersetzungen nicht auf Theuriets Edition, sondern auf den Originalmanuskripten basiert. In deutscher Sprache dagegen ist Bashkirtseffs Tagebuch noch nie in einer unzensierten Version erschienen. Die letzte deutsche Ausgabe von 1983, seit Jahren vergriffen, basiert auf der ersten deutschen Übersetzung von Lothar Schmidt aus dem Jahr 1897 und setzt die massiven Eingriffe in den Text, die Bashkirtseffs erster Herausgeber Theuriet vornahm, nicht nur fort, sondern wurde sogar gegenüber der Ausgabe von 1897 noch weiter gekürzt.