„Wir fangen bei der Geburt an“, beginnt der langjährige Hanser Verleger Michael Krüger.
„Oder noch besser bei der Zeugung“, wirft Krügers Sidekick der ehemalige NZZ Feuilleton Chef Martin Meyer ein.
„Bei der Zeugung, ja, ja, genau“, holpert sich da auch Rüdiger Safranski ins Gespräch.
Happy Birthday!
Gesprochen wird bekanntlich viel, zum Glück wird das Wenigste für die Nachwelt festgehalten. Anders im Falle des Austauschs dieser drei Herren. Dass man dieses Gespräch aus dem April des letzten Jahres nun lesen kann, liegt wohl an dem Umstand, dass Rüdiger Safranski dieses Jahr 75 wird. Der Hanser Verlag veröffentlicht daher dieses mit so viel Zielstrebigkeit beginnende Buch als Mogelpackung unter dem Titel „Klassiker! – Ein Gespräch über die Literatur und das Leben“. Dabei geht es zuerst, anders als vom Verlag angekündigt, viel weniger um die Fragen
„Wie steht es um die Klassiker? Wie bewähren sie sich in einer Zeit, die einstige Gewissheiten unserer Kultur radikal in Frage stellt? Welche Rolle spielen sie noch auf dem Theater, für die private Lektüre?“
sondern um das Leben, konkreter das Leben von Rüdiger Safranski.
Hmmm … Intellektuell.
Zur Einstimmung darf der Jubilar von der eigenen „wohl eiligen“ Zeugung in Königsberg berichten, die aufgrund des Timings zu einer „pränatalen Flucht vor den Russen“ in die „Diaspora“ (!) Rottweil führte. Safranskis Kindheitserinnerungen kommentiert Martin Meyer immer wieder mit ausgesprochen luziden und hilfreichen Einwürfen wie „Intellektuell.“ oder „Hmmm …“, einmal schlussfolgert er messerscharf: „Das Fröhliche stammt von Mutters Seite.“
Das Leben meint es aber nicht mit allen gut. Die gute Laune erhält einen ersten Dämpfer durch die gänzlich unfröhliche Geschichte eines Lehrers von Safranski. Dieser liebte zwar seine Arbeit sehr, hatte aber leider zuhause einen „ganzen Stall voller eigener Kinder und einen Drachen zur Frau“. Martin Meyer hat von solchen Frauen schon einmal gehört und kann daher bestätigen „Das kommt ja tatsächlich vor.“ Das knallt als Information erstmal ziemlich rein. Ebenso wie es – ganz anders als dem Lehrer – Paul Tillich erging; der war nämlich nicht nur Theologe, sondern „übrigens auch ein begnadeter Frauenversteher“. Das „weiß Gott“, weiß natürlich auch Michael Krüger und jetzt wissen es auch wir. Endlich!
Intellektuelles Opfer
Der kleine Rüdiger ging zur Schule, erfahren wir. War erst durchschnittlich, dann aber in den letzten drei Jahren „ziemlich gut […] lauter Einsen“. Und er war auch mal verliebt, wozu Meyer dem „Glückpilz“ gratuliert, ebenso dazu, dass sich später die Lebensverhältnisse ordneten, Krüger schließt sich an, findet das „wirklich schön“.
Nachdem diesbezüglich Einigkeit hergestellt wurde, geht Rüdiger in seiner Erzählung in Frankfurt studieren. Adorno, so erfährt man, hatte einen Assistenten, der einmal ans Mikrophon trat und ankündigte Herr Adorno würde heute etwas leiser sprechen, er sei erkältet. Safranski schlussfolgert konsequent (er kennt sich mit Philosophie aus):
„Das ist große Philosophie, wenn man das nicht mehr selber sagen muss, sondern der Assistent.“
Das ist sie also, die Liebe zur Weisheit, ein Assistent! Von Adorno und seiner „erotischen Aufmerksamkeit“ geht es dann für den Studenten von Frankfurt nach Berlin.
„RS: Genug Adorno. Ich ging von Frankfurt nach Berlin.
MK: Warum?
RS: Eigentlich nur, um mal nach Berlin zu gehen. Damals galt: Man musste einmal in Berlin gewesen sein.“
Junge Berlin Fans werden sofort einwenden, dass dies nicht nur damals so war, auch 55 Jahre später, sollte man einmal in Berlin gewesen sein. Rüdiger ist aber nicht nur in der heutigen Bundeshauptstadt gewesen, nein er hat dort sogar lange gewohnt. In Berlin, es ist 1965, beginnt um Safranski bald, „was man dann die 68er-Bewegung nannte“ und „dazu gibt es einiges zu sagen“. Klar, da denken wir alle mit Herrn Meyer an „Pop, Sex, Träume …“. Aber Safranski denkt gar nicht daran, dazu viel zu sagen, jedenfalls nichts Allgemeingültiges. Er hat nicht nur Pop, Sex und Träume gemacht, sondern auch Politik. Linke Politik! Doof aber, „die Organisation war hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt“. Das nervte damals den Studenten, das nervt heute den Leser, denn bisher sind Meyer, Safranski und Krüger hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.
An das Studium schließt sich die Promotion an. Meyer hakt zur Safranskischen Dissertation nach, ob ihn das Thema wirklich interessiert habe. Kann man so wohl nicht sagen, denn der Doktorand empfand „das als intellektuelles Opfer“, das mag er sich und uns nicht verhehlen. Als intellektuelles Opfer möchte man auch die 60 Seiten bis hierhin bezeichnen. Die Herren haben sich jetzt aber erst richtig warm gequackelt.
Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks
Bei der Besprechung des Studiums und der späteren Arbeit platzen immer mal wieder ein paar Bomben. Meyer, Krüger und Rüdiger sind sich unter dem Strich auch hier wieder einig: Früher war alles besser.
„[…] die Frage, was tust du als Künstler in einer Welt, in der es übel zugeht, hat ihre Suggestivität nicht verloren. Nicht mehr die Revolution ist Rechtfertigungsinstanz, sondern das sogenannte Humanitäre bis hin zur Weltrettung. Die Dienstverpflichtung der Literatur für das sogenannte „Gute“ ist inzwischen so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr auffällt. Wehe auf die Kunst fällt der Verdacht der anrüchigen Gesinnung, der mangelhaften Weltrettungstüchtigkeit! Erst die Gesinnung, dann die Kunst. Für uns Maoisten gab es die Autonomie des Schönen nicht. Und heute hat man, mit anderen Begründungen, auch nur noch wenig Sinn dafür. Bald wird vielleicht auch die Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks gesehen.“
Dass bei Hanser der ökologische Fußabdruck noch nicht über Kunst oder Unkunst entscheidet, ist dagegen offensichtlich; ein Glück für das Gesprächstrio. Mit etwas mehr Weltrettungstüchtigkeit wäre uns die Lektüre dieses Gesprächs, diese Gesprächskunst erspart geblieben.
Nun aber endlich zum Kern, auf den wir sehnsüchtigst warten: Literatur und Weinvergleiche, denn wir haben es hier mit drei echten Connaisseuren und Genießern zu tun, die sich entre nous über die schönen Dinge des Lebens austauschen:
„wenn man zusammensitzt und einen Pétrus trinkt, freilich selten genug, weil die Chinesen seinen Preis verdorben haben“
Drei Mann als kleine verwegene Schar der letzten Literaturliebhaber
Nach der Hälfte der 150 Seiten spricht man nun doch über Klassiker und was man so kanonisieren sollte oder nicht. Vorher war man ja nur um die Lektüren des heranwachsenden Safranski gekreist. Jetzt aber – wo es allgemeingültig wird – dürfen die drei Herren sich erstmal versichern, dass sie die Speerspitze der „kleinen verwegenen Schar der letzten Literaturliebhaber“ sind.
Dazu ist doch gar nicht schlecht zu wissen: Hat man einen (oder gar alle drei) der Diskutanten zu einem Abendessen geladen, dann kann man zumindest bei ihnen noch „auftrumpfen, [wenn] man sagt, Leute, hört zu, dieses Kapitel der Strudlhofstiege habe ich jetzt schon zum dritten Mal wieder gelesen und bin noch immer tief ergriffen.“ Denn das fehlt nicht nur Meyer bei jeder Gesellschaft, das fehlt dem ganzen Trio. „Früher wäre eine alte Dame auf dem Sofa daneben darüber in Tränen ausgebrochen. Alles vorbei.“ Offen bleibt leider, ob diese Ausrufe von Partygästen „früher“ tatsächlich vorkamen oder es auch damals nur ein frommer Wunsch war. Tempi passati.
Meyer empfiehlt daher nicht etwa, die Schulbildung zu überdenken, Leselisten zu erstellen oder Gäste vor der Einladung zum Literaturgeschmack zu befragen. Nein, solchen Hoffnungen gibt man sich gar nicht mehr hin. Meyer fühlt sich damit in seinem Zirkel der drei offenbar ganz wohl.
„[…] je demokratischer die Unbildung, vielleicht darf man auch sagen: die Dummheit, wird, umso elitärer dürfen sich die Kenner geben. Was wir hier ja auch tun …“
Rüdiger stimmt sogleich ein, und fordert seine beiden Mitstreiter dazu auf, sich nicht zu scheuen, auch mal Leute zu beschämen. Daher schlägt er vor, diese Dummköpfe zu entlarven. „Was, Sie kennen dieses Kapitel aus der Strudlhofstiege nicht, womit haben Sie denn Ihre Zeit verschwendet?“ Nicht auszudenken, wie heiter eine Abendgesellschaft durch solche Ausfälle und Bloßstellungen einzelner Dummköpfe aufgelockert wird. Klassismus zum Schenkelklopfen. Eines ist daher sicher: die drei haben gar keine Lust, dass jemand anders als sie selbst bei ihrem Literaturclub mitmacht.
Zum Ende des Gesprächs wird dann trotzdem über die Erweiterung des eigenen elitären Zirkels phantasiert. Safranski möchte gerne einladen, Meyer aber vorher eine „Eintrittsklausur“ veranstalten. Im Club soll nur sein, „wer es auch wirklich verdient“. Alle anderen sollen „wieder twittern oder Golf spielen oder ihre vegane Küche bespielen“. Man darf sich sicher sein, die Eintrittsklausur wird die Strudlhofstiege zum Thema haben. Man darf sich ebenso sicher sein, dass sich glücklich schätzen darf, wer bei dieser Veranstaltung nicht dabei sein muss. Man ist ja oft unzufrieden im Leben, aber jetzt kann man sich in Momenten des Missmuts wenigstens damit trösten, nicht an einem der schrecklichen hochkulturellen Männerabende von Krüger, Meyer und Safranski teilnehmen zu müssen. Frauen kommen eh nur zum Weinen dazu.
Inserat, Blumenstrauß und Pétrus
Runde Geburtstage sind wirklich etwas Feines; mehr Geschenke als üblich, je nach Beliebtheit gar ein Inserat in der Zeitung oder ein Blumenstrauß vom Arbeitgeber, endlich drucken die Enkel die biographischen Notizen, die man ihnen vor Jahren mit den Worten „falls Du irgendwann mal wissen willst, was Opa so in seiner Jugend gemacht hat“ in die Hand gedrückt hatte. Die Kleinstauflage von 15 Stück kann man dann an Freunde weitergeben. Ein Exemplar geht an die Lokalzeitung, weil ja auch eine Menge Stadtgeschichte da drin ist.
Bei den meisten Jubilar*innen erschöpft sich die Auflage eben in 15. Das Inserat sehen sowieso nur ein paar derer, die noch die Zeitung abonniert haben und die Blumen verwelken schnell. Hanser bietet dagegen dieses bräsige, ichbezogene und alle drei Herren entlarvende Salbadern für 18 Euro allen Leser*innen an. Die Enttäuschung darüber, nichts von dem zu finden, was in Aufmachung und Werbung versprochen wird, wiegt nicht so schwer, wie die darüber, dass sich in München drei Männer treffen, um sich selbst ihrer Großartigkeit zu vergewissern, elitäre Räume nach außen hin abzusichern und Hanser dies dazu noch druckt.
Hätte Hanser Safranski zum Geburtstag doch einfach nur eine Flasche Pétrus geschickt – aber die Chinesen haben ja die Preise kaputt gemacht.