Da es ohne eindeutige Meldeadresse unmöglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind Straßennamen ein untrennbarer Teil unseres Alltags. Aus diesem Grund gibt es Petitionen und Proteste, die Namen von Mördern von den Schildern und aus den Adressbüchern zu entfernen. Denn die allerwenigsten Menschen möchten bei der wöchentlichen Onlinebestellung den Namen eines Faschisten oder Kolonialgenerals in die Suchmaske eintragen.
Nach dem Schriftsteller und “Heidedichter” Hermann Löns sind über eintausend Straßen und Plätze in Deutschland benannt.[1] Damit steht er nicht alleine. Es gibt eine ganze Reihe von Schriftstellern, deren Namen in ähnlichem Ausmaß deutsche Stadtbilder prägen: Goethe, Schiller, Lessing, Hölderlin, Heine und Eichendorff sind zwar wie Löns, allesamt Männer, doch damit hat es sich mit den Gemeinsamkeiten. Die Werke der genannten Dichter sind bis heute Teil eines über Jahrhunderte gewachsenen Literaturkanons, und gleichsam tief im kulturellen Gedächtnis dieses Landes verankert.
Hermann Löns gehört einer anderen, jüngeren Generation an. Er starb im Jahr 1914 mit 48 Jahren, das Gros seiner Werke veröffentlichte er im zwanzigsten Jahrhundert. Im Deutschunterricht spielt er heute keine Rolle mehr (Spoiler: zu Recht). Und trotzdem: Kein*e deutschsprachige*r Schriftstellerer*in der Moderne ist in Deutschland derart oft verewigt worden wie er. Kein Mann, kein Kafka, kein Remarque, weder Nietzsche noch Hauptmann, noch Rilke, von Schriftstellerinnen ganz zu schweigen. Zum Vergleich: Es gibt in Deutschland mehr Straßen und Wege mit “Löns” im Namen als solche mit “Schmidt”, “Meier” oder “Adenauer”. Es gibt Apotheken, die nach ihm benannt wurden, es gibt eine ganze Stadt (Hermann-Löns-Stadt Walsrode), es gibt sogar ein Fußballstadion (Paderborn) und einen bis heute beliebten Festzeltschlager (“Hermann Löns, die Heide brennt”).
Wie kommt das? Wie kam es so? Warum ist dieser Mann mit seinen (ziemlich kitschigen) Natur- und Tiergedichten, seinen simplen Jagdgeschichten und seinen Romanen über Heidebauern in nur zwanzig Jahren für immer in das kollektive Gedächtnis eines ganzen Landes vorgedrungen?
Ideelles Bollwerk gegen die Moderne
Geboren wurde Hermann Löns 1866 in Chełmno (damals Culm) im heutigen Polen. Er zog mit seiner Familie nach Münster, machte das Abitur, trat ein Studium an und brach es wieder ab. Sein Alkoholkonsum führte zum Bruch mit seinen Eltern. Er begann als Journalist zu arbeiten, nach ein paar Stationen in verschiedenen Städten landete er 1892 in Hannover, wo er sich nach und nach als satirischer Kolumnist, “Lebemann” und Dandy einen Namen machte. In seiner Freizeit zog es ihn aufs Land, in die “Heide”.
Diese Kulturlandschaft zwischen Hannover und Hamburg, die bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts große Flächen Norddeutschlands bedeckt hatte, befand sich zu Löns Lebzeiten bereits unwiederbringlich in der Auflösung. Die voranschreitende Industrialisierung hatte die traditionelle Heidebauernwirtschaft, deren Hauptprodukte Honig und Wolle waren, innerhalb weniger Jahre unrentabel gemacht. Industriezucker verdrängte den Bedarf an Honig, die raue Wolle der Heidschnucken war gegen die Baumwolle aus den USA und Schurwolle aus Australien und Neuseeland nicht konkurrenzfähig. Zusätzlich war es durch den Einsatz von Industriedüngern Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erstmals möglich, die bis dato nahezu unfruchtbaren, sandigen Flächen intensiv zu bewirtschaften. Der Rest wurde mit genügsamen Kiefern aufgeforstet.
Der Stadtmensch und Dichter Löns jedoch fand in den kargen Flächen seine Heimat. Die Ödnis wertete er innerhalb weniger Jahre in ein urdeutsches Landschaftsideal um, das er in Liedern und Gedichten besang, und das er als Gegenentwurf zum komplexen Gewusel der Städte und zum Dreck der Fabriken in Stellung brachte. Die Heide war sein ideelles Bollwerk gegen die Moderne. Die Heidebauernfamilien, die Bewohner des dünn besiedelten Landstrichs, waren in diesem Konstrukt die idealen Menschen: Reinrassig, blond, tief verwurzelt in Natur und Landschaft, hart, wortkarg, leidgeplagt und doch herzlich. Löns behauptete: “Der Bauer ist das Volk, ist der Kulturträger, der Rasseerhalter.”[2]
Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch
Im Gegensatz zur Naturdichtung der Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fand Hermann Löns fern der Städte keinen Zauber und keine Mystik. Er fand das, was er für das echte Leben hielt: Die Idylle im Gleichschritt mit der Härte der Natur, den darwinistischen Überlebenskampf der Arten, der seinem Blick nach Stärke und Schönheit hervorbrachte und den er ganz im Geist seiner Zeit vollumfänglich auf menschliche Verhältnisse übertrug. Die Helden seiner Erzählungen sind Jäger und Bauern, oder die Tiere selbst. Es sind nahezu immer Männer. Gewalt und Tod sind allgegenwärtig. Pompös beschreibt er Kämpfe, herabsausende Knüppel, spritzendes Blut, röchelnde Kehlen, erlahmende Muskeln. Blut und Boden, “Rasse” und Heimat sind Motive die sich durch das Lönssche Werk ziehen, manchmal motivisch versteckt in seinen fast kindlich anmutenden, hingeplauderten Jagdgeschichten, manchmal offen geäußert, beispielsweise und exemplarisch wenn er behauptet: „Ich bin Teutone hoch vier. Wir haben genug mit Humanistik, National-Altruismus und Internationalismus uns kaputt gemacht, so sehr, dass ich eine ganz gehörige Portion Chauvinismus sogar für unbedingt nötig halte. Natürlich passt das den Juden nicht.“ Seine Briefe unterzeichnete er mit der Wolfsangel.
Zu seinen Lebzeiten im wilhelminischen Kaiserreich fanden seine Naturerzählungen, Romane und Gedichte schnell eine große Leser*innenschaft, durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch. “Die Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch”[3] in Löns Werk sprachen eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung an. Er verpackte seine Botschaften einfach und klar, sie waren sehr anschlussfähig an den Nationalismus und den preußischen Soldatenkult, überzeugten konservative Intellektuelle ebenso wie die gerade entstehenden Naturbewegungen der Jugend. Später, in den Dreißigern, lange nach seinem Tod im Jahr 1914, ließ sich sein Werk nahezu perfekt in die Ideologie und die Propaganda der Nationalsozialisten einfügen. Das “Matrosenlied”, das Löns 1910 im Zuge des Flottenwettrüstens des Deutschen Reichs gegen das Englische Empire geschrieben hatte, wurde schon im Ersten Weltkrieg von hunderttausenden Marinesoldaten gesungen. Im Zweiten Weltkrieg vertonte es Goebbels oberster Propagandakomponist Herms Niel unter dem Namen “Englandlied” zu dem Kriegslied der Nazis.
„Grün ist die Heide“
Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus scheinen in vielen der Lönschen Texte durch, besonders und vor allem aber in seinem Roman “Der Wehrwolf”. Eine Gruppe Heidebauern kämpft darin zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gegen alle anderen, gegen “schwarzbärtiges Ungeziefer”. Diese extrem simple Us vs. Them Konstruktion, in der sich eine reinrassige Volksgemeinschaft gegen Einflüsse von Außen zu verteidigen gezwungen ist, die es zu zersetzen und zu vernichten drohen, zog im Kaiserreich, genauso wie in Weimarer Republik unter völkisch-nationalen Kreisen. Die Nazis priesen den Roman als “Werk nationalsozialistischen Geistes” und Löns als “Künder des Reiches Adolf Hitlers”. Der “Wehrwolf” wurde Schulstoff, wurde millionenfach als Feldlektüre für Wehrmachtssoldaten und Flakhelfer gedruckt und kann zudem als ideeller Wegbereiter für Himmlers Werwolfverbände gesehen werden, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs die Alliierten Besatzer innerhalb Deutschland bekämpfen sollten.
Nach dem Krieg wurde es jedoch nicht still um Hermann Löns, im Gegenteil: 1951 erschien mit “Grün ist die Heide” ein auf Lönsschen Motiven basierender und mit Lönsschen Liedern versehener Heimatfilm. Er wurde einer der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten (sechzehn Millionen Menschen sahen ihn damals). Löns wurde weiter verehrt, jede Schuld und jeder Verdacht wurde aus seinem Werk gelöst, indem man nach außen nun vor allem seine Rolle als vermeintlicher früher “Naturschützer” hervorhob. Es sei von Anfang an eben nur um die Natur, die Tiere und das einfache Landvolk gegangen. Seine Werke wurden neu aufgelegt und millionenfach gedruckt, ein verlorener Krieg, Besatzung, die Verantwortung für die Shoah: Löns simple Heideidyllen waren Balsam für die der einfachen Nachkriegsseelen, seine Literatur funktionierte wie Schlager. So pflasterte man die Neubaugebiete Westdeutschland mit Hermann-Löns-Wegen, -straßen und -plätzen, man gründete Hermann-Löns-Kreise und Gesellschaften. Besonders von den Vertriebenenverbänden, die von Beginn an Sammelbecken rechter Ideologen und Ideen waren, wurde der gebürtige Westpreuße Löns verehrt. Parallel zur unvergleichlichen Schuld, die die Deutschen in der Nachkriegszeit kollektiv fortschwiegen, zu den Waffen, Parteibüchern und Abzeichen, die in Güllegruben oder unter losen Bodendielen verschwanden und den arisierten Vermögen, die in den Wohnzimmern und den Handelskontoren nach und nach im Wirtschaftswunder aufgingen, ließ man wortwörtlich Gras über den anderen Teil des Lönschen Werkes wachsen. Man erinnerte den Jäger und das Idyll für das er stand, aber nicht jene, auf die er schoss. Der brave Deutsche fühlte sich ihm verbunden, wenn er die grünbraunen Landschaftsgemälde mit den Hirschen und den Hunden über dem Küchentisch betrachtete, während man seine Kinder anschwieg. Die Antwort auf die Frage, warum sein Name derart häufig auftaucht ist, also relativ simpel: Er war und ist unglaublich beliebt, er wurde millionenfach gelesen.
Die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen
Vor allem nördlich von Hannover und südlich von Hamburg, in der sich touristisch genutzte Heideflächen erhalten haben, ist Löns Name bis heute absolut allgegenwärtig. Es mag stimmen: Ohne Löns und sein Werk würde die Heide, wie sie in Niedersachen vorzufinden ist, vielleicht nicht mehr existieren. Er selbst war ein früher Mitinitiator des ersten Deutschen Naturschutzgebiets, der Lüneburger Heide (die im Grunde nie Natur war). Er festigte und mystifizierte die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen.
Doch was sagt das im Umkehrschluss aus? Ist die Lüneburger Heide nicht in gewisser Weise Löns Heide? Kann sie überhaupt getrennt von ihm gedacht werden? Was würde das bedeuten? Denn für Löns war die Natur und die Heide immer auch Projektionsfläche für sein eigenes Weltbild, eines, in dem Menschen in Rassen eingeteilt sind, in dem Gewalt das oberste Ordnungsprinzip war, man alten Zeiten nachtrauerte, wo Humanismus und Altruismus mit Jubel und Trara zurechtgeknüppelt wurden und in dem der Mann als Jäger und Heger das Recht besaß, über Leben und Tod und als Patriarch über sein Weib zu bestimmen.
Vielleicht hängt es auch mit diesem problematischen Erbe der Landschaft zusammen, dass sich seit Jahren völkische Siedlerfamilien in der dünn besiedelten Region ansammeln.
Was sagt es im Umkehrschluss über ein Land aus, dass es diesem Mann vehement Denkmäler gebaut hat und sich bis heute tausendfach mit seinem Namen schmückt? Löns war ein Chauvinist, ein Rassist, und ein Sexist, er war besessen von Gewalt, gleichzeitig neigte er zur Sentimentalität. Der allgegenwärtige Diminutiv der Tiernamen, Hasen, Rosen und Blut, schwülstige Liebesschwüre und der gegen alles Artfremde gerichtete Schlachtruf “Shlaah doot” der “Wehrwölfe”. Diese Mischung scheint die Deutschen bis heute zu berühren. Es ist ein wenig so, als sei die Lönssche Idee der Heimat die deutsche Idee von Heimat und umgekehrt: Ein Ort der Idylle und der vermeintlichen Wahrheit, der wahren Natur und der wahren Rasse, der den Deutschen unter Anwendung von Gewalt zusteht, und sonst niemandem.
Diese Idee von Heimat, von der Heide, vom “Land”, ist ein reales, gefährliches Problem. Denn im Geiste einer solchen Heimat werden in Deutschland Menschen ermordet, bis heute. Hunderte deutsche Gemeinden sollten sich deswegen Gedanken machen, welche Art der Heimat sie sein wollen, und ob eine Hermann-Löns-Straße dazu passt.
[1] Bei Zeit Online gibt es ein frei zugängliches, sehr faszinierendes Tool, mit dem sich die Häufigkeit eines Straßennamens in Deutschland überprüfen, sowie seine Verteilung auf einer Karte zeigen lässt: Straßennamen: Wie oft gibt es Ihre Straße? | ZEIT ONLINE
[2] Dupke Mythos Löns, 171, nach Löns, Bauernrecht und Bauernmoral.
[3] Dupke, Mythos Löns, 179
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