Die Unfähigkeit zu bremsen – Über eine deutsche Obsession

von Mia Raben

Wir müssten längst ein Tempolimit auf allen Autobahnen haben, so wie der Rest der Welt. Nicht nur wegen der tausenden mehrfach traumatisierten Schwerstverletzten, nicht nur wegen des Klimas und der zusätzlichen Umwelt- und Lärmbelastung, sondern auch aus Gründen der Psychohygiene. In Deutschland regiert auf barbarisch maßlose Weise der Raser, der triebgesteuerte Autofetischist, der Anti-Rationalist – und das schon seit dem Dritten Reich. Unser Land rast auf dem Sonderweg durchs Universum.  Es gehört dringend auf die Couch.

Mein Großvater war Mineralölhändler und solang ich ihn kannte, liebte er schnelle, schicke Autos. Er rauchte Kette, seitdem er als Wehrmachtssoldat mit Anfang Zwanzig in der Nähe der ukrainischen Stadt Charkiw auf eine Miene gefahren war, wobei all seine Kameraden starben. Ich hatte schon früh ein unterbewusstes Gefühl dafür, dass diese drei Dinge – Krieg, Zigaretten, Autos – für ihn irgendwie miteinander zusammenhingen. Aber wie?

In den achtziger Jahren raste er mit 200 Sachen über die Autobahn, während seine zwei Enkelkinder, mein Bruder und ich, auf dem ledernen Rücksitz seines Jaguars saßen. Er „drückte auf die Tube“, und zog dabei genüsslich ein paar Ernte 23 durch. Ich erinnere mich noch an den Moment, bevor wir losfuhren. Der Zwölf-Zylinder-Motor lief schon, mein Vater beugte sich noch einmal durch das Fenster zu meinem Großvater. Er musste laut sprechen, damit man seine Stimme über das mächtige Motorengeräusch hinweg überhaupt hören konnte:

„Bitte, Papa“, flehte er, „ras nicht wieder so.“

Ras nicht so. Genau, mein Großvater war ein Raser.

Der Raser. Der Raser ist heute praktisch vollständig aus dem öffentlichen Straßenverkehr verbannt worden. Weltweit. Die große Mehrheit der Länder dieser Erde hat sich von den zahllosen Argumenten gegen das Rasen überzeugen lassen und ein Tempolimit auf ihren Autobahnen eingeführt. Was für eine vernünftige Welt, denkt man da, denn die Argumente für die Einführung eines Tempolimits auf Autobahnen sind tatsächlich klar und überzeugend. Im Grunde kann niemand, der bei gesundem Verstand ist, in Zweifel ziehen, dass ein Tempolimit auf allen Autobahnen eine sinnvolle Maßnahme für Verkehrssicherheit und gegen Klima-, Umwelt- und Lärmbelastung ist. Hier, der Vollständigkeit halber, noch einmal ein paar wichtige Argumente. Wer, wie die Mehrheit der Deutschen, längst überzeugt ist, kann die nun folgende Liste von Argumenten gern überspringen:

  • Gut dreiviertel der deutschen autobahnfahrenden Menschen fahren durchgehend langsamer als 130 Kilometer pro Stunde, auch auf den 70 Prozent der Autobahnstrecken, auf denen kein Tempolimit gilt. Nur ein bis vier Prozent der Autofahrer*innen fahren überhaupt jemals schneller als 160. Diese sehr kleine Gruppe von Rasern gefährdet also mit ihrem Verhalten die anderen 96-99 Prozent der autobahnfahrenden Bevölkerung.
  • Wer langsamer fährt, verbraucht weniger Brennstoff und die CO2 Emissionen sinken. Die Mobilitätswende ist beschlossene (!) Politik und verlangt, dass verkehrsbedingte Emissionen um 50 Prozent sinken. Bei Tempo 130 würde man zwei Millionen Tonnen CO2 einsparen, ungefähr so viel wie der gesamte innerdeutsche Flugverkehr.
  • Das Tempolimit ist eine Maßnahme, die praktisch nichts kostet, sie betrifft alle gleich und ist schnell umsetzbar. Gurtpflicht und Alkoholverbot galten anfangs auch als „Eingriff in die Freiheit“, und sind heute unumstritten.
  • 64 Prozent der Deutschen haben sich längst FÜR ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen von 130 Kilometern pro Stunde ausgesprochen.
  • Das Tempolimit bedeutet deutlich weniger Lärmbelastung für jene Hälfte der Deutschen, die innerhalb von fünf Kilometer Entfernung von einer Autobahn ohne Tempolimit leben. Bei Reduktion der Geschwindigkeit von nur 20 km/h hört es sich so an, als würde ein Drittel weniger Autos auf der Autobahn fahren, laut einer Studie des österreichischen Umweltbundesamt „Langsamer ist leiser.“
  • Es gäbe weniger Schwerverletzte, also auch weniger schwerverletzte Kinder mit Polytraumata, weniger Tote, und somit weniger tote Kinder durch schwere Verkehrsunfälle. In Deutschland „gönnen“ wir uns ein flächendeckendes 24/7-Versorgungssystem von über 600 Traumazentren mit Hubschraubern und Notfalleinsätzen für polytraumatische Schwerverletzte.
  • Der Stresspegel für Autobahnfahrer*innen, die häufig mit nörgelnden, weinenden oder gar schreienden Kleinkindern im Auto fahren, wäre ohne Raser auf der Autobahn deutlich geringer. Die Unfallgefahr würde weiter sinken.

Man könnte noch viel mehr Argumente anführen. Doch ein verstörend großer Teil der deutschen Bevölkerung wehrt sie voller Inbrunst ab. Unser Land führt kein flächendeckendes Tempolimit auf den Autobahnen ein. Stellt sich die Frage: Warum? Wie kommt es, dass ein angeblich aufgeklärtes Land wie Deutschland sich eine so krasse Irrationalität leistet? Das passt nicht zusammen, oder?

Erklärungen für irrationales Verhalten führen in Deutschland leider schnell zu Hitler. In seinem Buch „Deutschland als Autobahn“ stellt der Autor Conrad Kunze das gleiche fest: „Der Weg zur Frage, wo all die Begeisterung für das Auto herkommt, und warum es so stark in Staat, Nation und Alltag eingebunden ist, führt unweigerlich zu Hitler.“ Dort heißt es weiter: „Ein Grund für das Zurückbleiben Deutschlands hinter der Mobilitätswende in den Städten und Nationen ist der Fetisch um Auto und Autobahn.“

Meine Hoffnung ist nun: Wenn ich diesen „Fetisch um Auto und Autobahn“ etwas genauer unter die Lupe nehme, werde ich zwei Fragen besser verstehen: Warum verhält sich Deutschland so irrational? Warum raste mein Großvater, der uns lieb hatte, mit seinen Enkelkindern im halsbrecherischen Tempo über die Autobahn?

Hierzulande genießt der Raser den Schutz einer mächtigen Elite, die darin kein Problem sieht. Interessant sind auch dazu die Ausführungen von Kunze: 

Und was sich in historischer Rückschau auch sehr deutlich zeigt, ist der temporär elitäre Charakter der Geschwindigkeit. Es war immer eine kleine Gruppe der Reichen und materiell Sorglosen, die Zugang zum jeweils nächstmöglichen Geschwindigkeitssprung hatten. Von den Superreichen öffnete sich der Kreis für die Reichen, die gehobene Mittelschicht und schließlich für die Masse der Arbeiter*innen. Der Vorsprung musste stets erneuert und überboten werden. (Die E-Autos von Tesla beschleunigen schneller als der stärkste Porsche und die Topmodelle fahren 400 km/h.)

Von uns hoch geschätzte europäische Nachbarn fragen sich stirnrunzelnd, was da in Deutschland schon wieder los ist. Dieses fleißige, vernünftige Volk führt kein Tempolimit ein? Merkwürdig. Der Guardian schreibt, der Widerstand gegen das Tempolimit in Deutschland sei vergleichbar mit der Frage des Waffengesetzes in den USA. Auch hierzulande erscheint man ratlos. In einer Ausgabe des SPIEGEL vom August dieses Jahres, dessen Titel ein Grabgesteck mit dem Trauerspruch „Hier ruhen unsere Klimaziele“ zeigt, lese ich, das Auto werde „immer noch als heilige Kuh der Deutschen behandelt: kein Tempolimit, bloß nicht.“

Könnte es sein, dass die deutsche Weigerung, ein flächendeckendes Tempolimit auf Autobahnen einzuführen, ein Auswuchs des deutschen Sonderwegs ist? Der deutsche Sonderweg? Das ist die „problematische Tendenz in der deutschen Geschichte, die Macht über das Recht, das Militärische über das Zivile und die staatliche Exekutive über die parlamentarisch-demokratische Willensbildung des deutschen Volkes zu stellen“. Ich denke an die Macht der elitären Lobbymonster, an die Autoindustrie, an die Ignoranz der Regierenden gegenüber den Umfragen zur Einführung des Tempolimits, an die Vermutung, die auch Kunze in seinem Buch äußert, dass in der Figur des Rasers „Frauenfeindschaft und Maschinenliebe“ zum Ausdruck kommen. Nun, könnte man denken, die Deutschen und ihr Auto halt. Das war ja schon immer eine etwas seltsame, von besonderer Innigkeit geprägte Beziehung, oder nicht? Aber ist es nicht merkwürdig, wie zärtlich die Deutschen am Sonntag ihr Auto waschen, polieren und mit Wachs massieren? 

Vielleicht lässt sich der titelgebenden Theorie “Die Unfähigkeit zu bremsen” mit dem Standardwerk “Die Unfähigkeit zu trauern” näherkommen, mit dem die Psychoanalytiker*innen Alexander und Margarete Mitscherlich in den 1960er Jahren international Aufsehen erregten. Auch heute noch ist es für alle, die die deutsche Gegenwart begreifen und einordnen wollen, außerordentlich lohnend, diese historischen „Grundlagen kollektiven Verhaltens“ zu lesen. Sie machen den „in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus“ verständlich.

Die Theorie der Mitscherlichs lässt sich mit einigen meiner Gedanken zum Tempolimit verbinden.  Ich hoffe, dass dadurch verständlich wird, inwiefern die „Unfähigkeit zu trauern“ bis heute erkennbar ist, eben etwa in der „Unfähigkeit zu bremsen“, aber mit Sicherheit auch in weiteren Bereichen, in denen wir Deutschen auf seltsame Weise nicht vorankommen. Man denke an das deutsche Schulsystem und die darin so oft erkennbaren Überbleibsel der gnadenlosen, militaristischen Hierarchien. Oder man denke an die Unfähigkeit, patriarchalische Strukturen, etwa in der Familienpolitik, wirklich aufzubrechen. Je länger man darüber nachdenkt, wo immer noch Spuren aus längst vergangenen Zeiten nicht endlich weggewischt werden, desto mehr fällt einem auf, wie viel wir uns immer noch leisten, was längst geändert oder abgeschafft werden sollte.  

Das deutsche Volk war während des Dritten Reichs größtenteils einverstanden mit den Ideen des Rassismus und mit der Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus. Sie war, ich leihe mir hier einmal Worte von Thomas Mann, Teil einer „deutsche(n) Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung“. Diese Massenbewegung führte die Deutschen in eine Quasi-Symbiose mit ihrem „Führer“ Adolf Hitler. Als der Krieg 1945 endgültig verloren war und die Gräueltaten der Shoa weltweit bekannt wurden, entstand ein psychologisches Problem für alle, die die Verbrechen Hitlers in irgendeiner Form mitgetragen hatten. Ein Kollektiv, das sich eben noch als „Volk der Auserwählten“ betrachtete und sich als „prädestiniert dafür“ hielt, „über andere zu herrschen“, verlor den Krieg in der „größten materiellen und moralischen Katastrophe unserer Geschichte“. Der Sturz des geliebten Führers, so die Mitscherlichs, „bedeutet darüber hinaus eine traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals, mit dem man so weitgehend identisch geworden war.“

In “Die Unfähigkeit zu trauern” wird nun die These aufgestellt, dass eine Beschäftigung mit diesem Widerspruch zwischen dem eigenen Gefühl des Auserwähltseins und der schmachvoll empfundenen Niederlage abgewehrt wird, um nicht das Gefühl “völligen Unwertes” aufkommen zu lassen. Damit einher geht auch eine Abwehr jeder Form der Trauer. Die Vergangenheit wird also kollektiv verleugnet. Diese Abwehr der „überwältigenden Schuldlast“ hat drei Formen: 1. Gefühlsstarre beim Anblick der Leichenberge und traumartiges Versinken der kollektiven Vergangenheit, 2. Identifikation mit den Siegermächten, 3. Manisches Ungeschehenmachen durch radikalen Wiederaufbau.

Die akute Verliebtheit in den Führer, die libidinöse Energie, die eben noch dem Führer (und der eigenen Auserwähltheit) gegolten hat, muss sich neu orientieren. Das Scheitern des Führers ist durch die Über-Identifikation ein Scheitern des eigenen Ichs. Die Abwehr der Trauer verhindert zwar den Ausbruch der Melancholie, aber nicht die Ich-Verarmung, die uns innerlich orientierungslos macht. Diese innere Orientierungslosigkeit bekämpften wir mit jenem emsigen Fleiß, der das sogenannte „Wirtschaftswunder“ ermöglicht. Das „Wirtschaftswunder“ festigt unsere „auf Selbstwertbestätigung erpichte Art zu lieben“. Wir konzentrieren „all unsere Energie vielmehr mit einem Neid und Bewunderung erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres industriellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung“.

Die Liebe des Volkes neu entflammen lässt jetzt –  und das ist jetzt meine These – das Symbol des Wirtschaftswunders schlechthin: das Auto. Die Objektlibido ist vom Führer zum Auto gewandert. Die Befriedigung unserer narzisstischen Libido erlaubt es uns, weiter „zu funktionieren“ und nicht in einer den Selbstwert zerstörenden Melancholie zu versinken. Man hat es „satt“ sich an die Vergangenheit erinnern zu lassen. Das Gedenken an die Shoah gleicht, nicht an allen, aber doch an auffällig vielen Stellen einer Inszenierung, die der Soziologe Michal Bodemann als „deutsches Gedächtnistheater“ bezeichnet hat.

Aber wenn wir nun an der „heiligen Kuh“ (SPIEGEL) Auto rütteln, woran rütteln wir dann in Wirklichkeit? Vielleicht an der Frage, warum das Auto wichtiger für uns ist, als die Tausenden unnötig schwerstverletzten jungen Menschen auf deutschen Autobahnen? Unser gesellschaftliches ICH scheint nicht in der Lage zu sein, sich in dieser Frage angemessen zu verhalten. Das ES (Raser-Trieb) gewinnt gegen das Über-ICH (es ist gesellschaftlich rücksichtslos zu rasen, also moralisch verwerflich), weil das ICH durch die Anstrengung der Verdrängung so geschwächt ist, geradezu leer. 

Die „Wiedergutwerdung“ der deutschen Gesellschaft kann nur über ein „fortgesetztes Nachdenken“ (Mitscherlichs) stattfinden, und über die Erweiterung der „Einfühlung in uns selbst“ und in die Opfer der eigenen aggressiven Triebdurchbrüche. Nur ein solches Nachdenken und Einfühlen könnte die „Fähigkeit zu trauern“ zurückgeben. Und damit auch die Fähigkeit zu bremsen. „Wenn unter Kultureignung letztlich Triebbeherrschung durch Einsicht verstanden wird, so ist gewiss, dass es sich dabei um eine potentielle Fähigkeit, nicht um eine im Konstitutionsplan des Menschen ungestört ausreifende „Anlage“ handelt.“ Wollen wir, eine sich selbst als kultiviert begreifende Gesellschaft, das vorhandene Potenzial ausnutzen? Sind wir das unserer Gesellschaft nicht schuldig? Warum setzen wir bei der Triebbeherrschung nicht an bei der Beherrschung der deutschen Autobahn?

L., die Tochter meiner Freundin, ist 23 Jahre alt, Studentin, und sagt, sie will keine Kinder. L. ist ein warmherziger, offener Familienmensch, hat einen großen Freundeskreis und liebt Gesellschaft. Zwischen zwei Konzerten auf dem Elbjazz Festival sitzen wir mit einer Weinschorle in der Sonne neben einem stillgelegten Hafenkran, von dem eine Diskokugel baumelt, und ich frage L., warum. Warum sie keine Kinder haben will. Sie sieht mich mit ihren klaren, wachen Augen an und sagt, das sei für sie keine persönliche Frage. Das sei eine gesellschaftliche Entscheidung. Sie wolle kein Kind in ein Land setzen, das sich den aktuellen Handlungsnotwendigkeiten komplett verweigert. Was sie denn als solche bezeichnen würde, frage ich sie. Es gibt tausende Beispiele, sagt sie, zum Beispiel das Tempolimit. „I mean, zu wenig Schilder?!“ Sie schlägt sich an die Stirn. „Die Welt geht fucking unter und wir haben keine fucking Schilder, um ein Tempolimit durchzusetzen?“ 

Es ist eine Tatsache, dass in Deutschland jährlich tausende, meist jüngere Menschen durch das Rasen schwerstverletzt werden, eine Anzahl, die durch eine leicht umsetzbare politische Maßnahme deutlich reduziert werden könnte. „Es gibt keinen rationalen Grund dafür, diesen verkehrspolitischen Weg weiter fortzusetzen.“ So lautet der letzte Satz aus dem Antrag der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen im Verkehrsausschuss, der wegen der Stimmen von Union, FDP, AFD und SPD scheiterte.

Für mich ist der Raser, auch wenn er ein guter Freund oder ein netter Familienvater sein mag, der Inbegriff der Rücksichtslosigkeit. Und so, wie die Nazis es geschafft haben, das „absolut Böse ästhetisch gut zu inszenieren“ (Conrad Kunze), schafft es auch die Raser-Lobby, sich als gut und wertvoll zu inszenieren. “Es wird immer Menschen geben, die ihr eigenes Auto besitzen wollen, denn ein Automobil ist ein sehr emotionales Gut”, sagt zum Beispiel Audi-Chef Rupert Stadler. Und der Verband der Automobilindustrie (VDA), zu deren Mitgliedern Shell und Esso zählen, verkündet in seiner Publikation “Fakten gegen ein generelles Tempolimit” im Brustton der Überzeugung, dass man auf Autobahnen “auch ohne Sicherheitsrisiko höhere Geschwindigkeiten fahren” könne. Ohne Sicherheitsrisiko?!

Unfallchirurg Dr. Christopher Spering (Universitätskrankenhaus Göttingen) ist Mitglied im Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) sowie im Vorstand des Ausschusses für Verkehrsmedizin. Er sagt: „Es geht nicht nur um die Verkehrsunfalltoten auf der Autobahn. Unser Fokus muss sich auf die Schwerverletzten verschieben. Mittlerweile weiß man sehr genau, wie langfristig die Lebensqualität der meistens recht jungen Menschen, die solche Schwerstunfälle erleben, eingeschränkt sein wird: für den Rest ihres Lebens.

Im Jahr 2018 waren das auf deutschen Autobahnen 5.900 Schwerstverletzte. Menschen werden in Spezialkliniken geflogen, dort notoperiert und danach sehr lange Zeit behandelt. Danach kommen sie in eine nochmal sehr lange Rehabilitationsphase. Studien zeigen, dass gerade einmal 50 Prozent dieser Schwerstverletzten wieder arbeiten können.“ Spering betont, dass es tatsächlich einen riesigen Unterschied macht, ob man mit Tempo 130 einen Unfall baue oder mit Tempo 170. Das liege an der Physik:  Je schneller die Masse (das Auto) sich fortbewegt, desto verheerender sind die Folgen eines Zusammenpralls. Es ist weniger wichtig, ob ein LKW oder Auto dich trifft, wichtiger ist, mit welcher Geschwindigkeit der Aufprall geschieht. Die Folgen kann man in der Göttinger Klinik sehen. Spering lädt jeden oder jede, der/die gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen ist, ein, mal bei ihm auf der Arbeit vorbeizuschauen: „Laufen Sie einfach mal einen Dienst lang mit mir mit. Wenn Sie dann noch gegen ein Tempolimit sind, zweifle ich an Ihrem Verstand.“

Und dann gibt es auch noch das weiche Argument, das für das Tempolimit spricht, das mir persönlich besonders wichtig ist: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der reaktionäre und ewig gestrige Machos die Verkehrspolitik dominieren. Man schämt sich einfach im Vergleich zu anderen Ländern. Ich möchte auch nicht das Gefühl haben, in einem Anachronismus zu leben. Da wir uns ja angeblich mitten in der Verkehrswende befinden, ist der Raser an sich zu einem Verstoß gegen die Zeitrechnung geworden. Wann wird die Verkehrspolitik sich endlich in den Strom der Zeit einfädeln? Wenigstens passt es da gut, wenn Christian Linder auf einem Fake-FDP-Plakat zum Thema 9-Euro-Ticket mit Marie Antoinette verglichen wird: „Kein Geld für ÖPNV? Sollen sie doch Porsche fahren.“ Ich hoffe auf baldige Revolution.

Photo von Christian bei Unsplash

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