von Till Raether
Haben Kriminalroman-Autor*innen eigentlich irgendeine Art von Verantwortung? Vor ein paar Jahren hätte ich auf diese Frage vermutlich glatt und schriftstellerig geantwortet: Ja, nicht zu langweilen. Oder, an einem anspruchsvolleren Tag: Ja, auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam machen, die Abgründe hinter der Normalität auszuloten, sowas. Ich hätte mich also in Gemeinplätze gerettet, denn ich habe in meinen ersten Jahren im Krimi-Genre wenig über die Verantwortung der Autor*innen nachgedacht. Warum eigentlich? Und wie hat sich das geändert?
Sandra Beck hat im letzten Jahr bei 54books einen Text über die Parallelität der Bilder des Mordes an George Floyd und der gleichzeitig ausgestrahlten Kriminalerzählungen im Fernsehen geschrieben. Für mich als Autor war er ein Aha-Erlebnis. Das Wichtigste, was sie in „Die zweiten Seiten von Law & Order – Über die kulturelle Diskrepanz von Bildern“ im vergangenen Juni geschrieben hat, ist für mich Folgendes:
[Die] Erzählstruktur [der meisten Kriminalerzählungen] ist darauf zugeschnitten, Zuschauer*innen zu überzeugen, sie würden als Teil der Polizei ähnlich denken, fühlen und handeln. Damit steht die Frage nach den gesellschaftspolitischen Auswirkungen der police procedurals als einer Schule der Empathie im Raum. Zentrales Ziel dieses Curriculums scheint es zu sein, kritische Systemfragen umso nachhaltiger auszublenden, je ausführlicher über die emotionalen Belastungen der Ermittler*innen gesprochen wird. (…) [D]ie Signatur kriminalliterarischen Erzählens [ist] eine monoperspektivische Verengung auf die Wahrheit der Ermittlungsbehörden und die sie narrativ absichernde Affektpolitik.
Tatsächlich ist ja kein anderes Genre so fest an eine staatliche Institution gekettet wie der Kriminalroman an die Polizei; nicht einmal die romance novel an das Institut der Ehe. Im Gegenteil, ihre Autor*innen stellen klassische, staatliche sanktionierte Partnerschaftsformen ständig aufs Neue infrage. Nur der Kriminalroman ist diese narrative, emotionale und ästhetische Symbiose mit einem Instrument staatlicher Autoritätsausübung eingegangen. Die Implikationen dieser Symbiose waren mir zwar vage bewusst, aber erst Sandra Becks literaturwissenschaftlicher Text hat meine Wahrnehmung deutlich geschärft. Mir wurde klar: Ich möchte eigentlich nicht so weitermachen. Das hat für mich sehr aktuelle Konsequenzen, denn ich habe nach der Lektüre von Sandra Becks Text die Arbeit an “Hausbruch”, dem sechsten Kriminalroman über den Kommissar Adam Danowski begonnen. Gleichzeitig habe ich angefangen, eine neue Ausgabe der ersten Bände vorzubereiten. Ich hatte also reichlich Gelegenheit, mir die Frage zu stellen: Wie kam es eigentlich dazu, dass ich selbst über fünf, sechs Kriminalromane eine „monoperspektivische Verengung auf die Wahrheit der Ermittlungsbehörden und die sie narrativ absichernde Affektpolitik“ vornahm?
Krimi-Autor werden – die beste Option?
Zu Beginn des Jahres 2012 war ich mit meinem Literaturagenten zum Mittagessen in einem Lokal in Hamburg verabredet, ein Problemgespräch, weil es nicht so gut lief mit meinen Büchern. Das mit den Unterhaltungsromanen hatte ich irgendwie nicht hinbekommen, zwei oder drei hatte ich wieder abgebrochen, und erzählende Sachbücher, meinte mein Agent, liefen derzeit nicht so gut. Nach einer Weile sagte ich, einem vagen Kindheitstraum ebenso wie wirtschaftlicher Erwägung folgend: „Wie wäre es mit einem Krimi?“ Da es im betreffenden Restaurant um die Mittagszeit recht laut war, verstand ich, dass der Agent sagte: „Ja, das ist wohl deine beste Option.“
Auf dem Nachhauseweg, als ich das Gespräch, euphorisiert durch den Zuspruch, noch einmal Revue passieren ließ, wurde mir klar, dass er vermutlich in Wahrheit gesagt hatte: „Ja, das ist wohl deine letzte Option.“
Ich würde also sagen, dass ich, wie viele andere Autor*innen, aus wirtschaftlichen Erwägungen zum Kriminalroman gekommen bin, Kindheitstraum hin oder her. Ja, ich habe schon als Grundschüler Krimi-Titel gezeichnet und getextet, auch wenn ich danach meist nur noch die Energie für zwei, drei Seiten hatte („Der Mörder kam im Leichenwagen“, Berlin 1978). Aber wichtiger als diese biographische Vorprägung war der Umstand, dass der Kriminalroman in Deutschland für Schriftsteller*innen die aussichtsreichste wirtschaftliche Perspektive bietet: 65 Prozent der Deutschen lesen „gern“ Krimis, über 23.000 Krimis sind in Deutschland erhältlich, mehr als jedes vierte aller verkauften Bücher ist ein Krimi.
Anfangs ging ich recht naiv an die Sache heran. Ich schlug dem Agenten eine Reihe über eine junge Frau vor, die als Redakteurin einer Promizeitschrift entlassen wird und sich nun mit ihren professionellen Kenntnissen als Privatdetektivin in Berlin selbständig macht.
Mein Agent sagte: „Wenn du im Krimi anfängst, musst du dich an ein paar Regeln halten. Das muss an einem Ort spielen, wo die Leute gern hindenken. Hamburg oder sowas, nicht Berlin. Dein Ermittler muss ein Kommissar sein. Das ist vertraut, das erwartet man einfach. Und damit man ihn unterscheiden kann, muss er irgendeine psychische Beschädigung haben.“
Überraschendes innerhalb klarer Grenzen
Ich erfüllte diese Parameter von meinem ersten Krimi an gewissenhaft. Meine Hauptfigur Adam Danowski ist der klassische Hauptkommissar, er ermittelt in Hamburg und erhält im ersten Band die Diagnose, er sei „hochsensibel“. Ich hatte kein Problem mit der klaren Ansage des Agenten, denn natürlich gaben mir diese klaren Parameter Sicherheit. Zugleich regten sie mich an, innerhalb der Grenzen, die sie vorgaben, möglichst viel Überraschendes zu machen. Aber ich bediente und bediene damit die Klischees, die die deutsche Kriminalerzählung der Gegenwart vorrangig prägen:
1. Ästhetik des Settings („schöner Ort“)
2. Verankerung der Hauptfigur in der vertrauten Struktur des Polizeiapparats („Kommissar*in“)
3. Unterscheidbarkeit der und Anschlussfähigkeit an die Hauptfigur durch psychopathologische Eigenheit („psychische Beschädigung“)
Auch meine Kriminalromane sind also im Sinne Sandra Becks eine Empathieschule für den Standpunkt und die Perspektive der Polizei. Denn der beschädigte Ermittler Adam Danowski führt diese mit außerordentlich viel Autorität ausgestattete staatliche Struktur in den psychologischen und empathischen Nahbereich der Leser*innen. Erstens durch seine Beschädigung, zweitens dadurch, dass wir an seinem Privat- und Familienleben teilnehmen und ihn als, „fast eine[n] von uns“ erleben, wie zum Beispiel der „Freitag“ über Adam Danowski schrieb.
Ich habe nie die Illusion erzeugt, der Ermittler könnte am Ende der jeweiligen Erzählung so etwas wie eine tatsächliche oder symbolische Ordnung wiederherstellen. Es gehört zur Ästhetik von Krimi-Genres, die nicht cozy crime oder humorvoll oder sehr regional sind,dass am Ende die ermittelnde Polizei die Wunden der Verletzten nicht heilen und die Schäden der Gesellschaft nicht reparieren kann, oft nicht einmal durch den symbolischen Akt einer Verhaftung oder Verurteilung. Spätestens seit den rororo-Thrillern der Sechziger und Siebziger Jahre gehört es zur Praxis der deutschen Kriminalerzählung, dass das Verbrechen entweder auf einen nicht behebbaren sozialen Missstand oder auf eine dahinterliegende Verschwörung verweist, die größer ist als die Befugnisse der psychisch angeschlagenen Ermittler*innen.
Mir fallen jedoch keine Beispiele ein, bei denen die Institution Polizei selbst grundsätzlich und nachhaltig zum Gegenstand dieser pessimistischen Praxis wird. Ich kenne Kriminalerzählungen, in denen Polizist*innen versuchen, die Institution, an die sie immer geglaubt haben, vor jenen Polizist*innen zu schützen, die diese Institution pervertieren. Ich kenne Kriminalerzählungen, in denen Ermittler*innen sich desillusioniert von der Institution Polizei abwenden. Aber nicht, indem sie diese aktiv, im Sinne von Reform oder Abschaffung, infrage stellen, sondern nur im Rahmen einer individuellen Entscheidung.
Zwei Irrtümer des Krimi-Autors
Das bereitet mir inzwischen Unbehagen. Ich sage inzwischen, weil ich zu Beginn meiner Laufbahn als Krimi-Autor zwei Irrtümern aufgesessen bin.
Irrtum 1: Das Genre Kriminalroman enthebt mich als Autor von der Verantwortung, mich mit der Realität des von mir benutzten Materials auseinanderzusetzen, weil Genre sich aus Fiktionalitäts-Markern zusammensetzt.
Irrtum 2: Polizei ist cool.
Denn: Die Waffen. Die Uniformen. Die Büros. Das Blaulicht. Die Rituale. Die Ermächtigung. Die Gewalt.
Beide Irrtümer sind in ihrer Auswirkung auf die Praxis des Kriminalromanschreibens und auf die Rezeption des Kriminalromans fast unentwirrbar miteinander verknüpft: Ich erteile mir als Autor und Leser die Lizenz von Irrtum 1, weil ich die Ästhetik von Irrtum 2 genießen möchte.
Die Konsequenzen von Irrtum 2 sind mir egal, weil ich mich durch die Lizenz von Irrtum 1 quasi im verantwortungsfreien Raum befinde.
Diese beiden Irrtümer führen zu einer merkwürdigen Vermischung und Nähe von Staatsapparat und Literatur, in ästhetischer wie in räumlicher Hinsicht. Zum Beispiel beim verbreiteten Phänomen von Krimi-Lesungen auf Polizeiwachen, in Gerichtssälen, auf Friedhöfen oder in der Pathologie. Überhaupt gibt es ein merkwürdiges Nebeneinander von Autor*innen, die, etwa in der Ästhetik ihrer Selbstinszenierung, Fernsehkommissar*innen nacheifern, und Polizist*innen, die sich bei der Ästhetik und den Ritualen des Buchgeschäfts bedienen, indem sie selbst Autor*innen und Vorlesende werden. Ich nehme mich da gar nicht aus: mein erstes Porträtfoto als Krimi-Autor war betont düster und ernst, aufgeladen nicht mit der Gravitas des Literaten, sondern dem Vibe des entschlossenen Serien-Darstellers. Und, ein Beispiel für die andere Seite des Phänomens, ich habe einmal auf einem Krimifestival nach einem Polizei-Profiler gelesen, der aus seinem bei einem großen Verlag erschienenen Buch über Fälle aus seiner Praxis vorlas: echte Opfer, echte Tote, echte Trauernde. Im ästhetischen Rahmen einer „langen Krimi-Nacht“. Es war ein Moment verstörender Dissonanz. Mir ist kein anderes Genre bekannt, in dem es zu ähnlich deutlichen Überlagerungs- und Rückkopplungseffekten kommt.
Aus Sandra Becks Kritik an der Kriminalerzählung als Empathieschule der Polizei ergeben sich für mich auch wegen solcher Rückkopplungseffekte ganz persönliche Fragen. Ich möchte sie am Beispiel meines ersten Kriminalromans „Treibland“ beantworten, der 2014 erschien und von einem kriminell herbeigeführten Ausbruch eines Ebola-ähnlichen Virus‘ auf einem Kreuzfahrtschiff im Hamburger Hafen handelt. Der Roman wird jetzt, parallel zum neuen Band “Hausbruch”, neu aufgelegt. Ich mag ihn immer noch sehr, nicht zuletzt, weil ich ihn jetzt als Beginn einer Entwicklung sehe. Denn im Nachhinein frage ich mich:
Wie groß war meine Nähe als Schreibender zur Polizei schon beim Recherchieren und Figurenerfinden?
Sehr groß. Ich habe bei einem Hauptkommissar vom Landeskriminalamt Hamburg recherchiert, war also im Polizeipräsidium und habe mir die Organisationsform der Hamburger Mordbereitschaften und den Ablauf von Mordermittlungen erklären lassen. Ich habe das dort erworbene Wissen vertieft, indem ich mit meinem Cousin, Hauptkommissar an einem Dezernat für Tötungsdelikte, über Details gesprochen habe. Im Buch steht die Psychologie der ermittelnden Beamten im Mittelpunkt, obwohl auch aus der Perspektive von Opfern und Täter*innen erzählt wird. Das emotionale Zentrum aber ist immer beim Treiber der Polizeiarbeit, und obwohl ich auch unter Virolog*innen und Kreuzfahrt-Crewmitgliedern recherchiert habe, hat die Büropolitik der Polizeibehörde im Buch eine größere Wichtigkeit als der Arbeitsalltag etwa auf einem Kreuzfahrtschiff. Und, auch das darf man nicht vergessen, im Laufe der Zeit wird mein Kommissar mit seiner psychischen Beschädigung zum festen Bestandteil meiner Identität oder Performance als Autor. Auch, wenn ich andere Bücher schreibe, taucht in meiner Biographie der Hinweis auf „[m]einen hochsensiblen Kommissar Adam Danowski“ auf.
Wie sehr habe ich mich bei true crime bedient, um Unterhaltung herzustellen?
Sehr viel. Ich überführe reale Schicksale in das Gefäß einer Literaturform, die zwar immer wieder das Motiv der Gesellschaftskritik bemüht, die aber aus der Sicht des Leser*innen-Interesses ganz vorrangig der Unterhaltung dient. Das tue ich etwa, indem ich reale Berichte über Ebola-Infektionen und Ebola-Tode literarisiere. Also strenggenommen weniger true crime, aber definitiv true victim.
Wie sehr habe ich Rassismus und Sexismus reproduziert, indem ich durch Sprache und Handlungen „Authentizität“ usw. erzeuge?
Das Buch beginnt mit einem willkürlichen Gewaltakt an einer Frau, der für meine heutigen Begriffe zu anschaulich beschrieben ist. Zwar habe ich während ich das Buch geschrieben habe eine Art Lernprozess durchlebt und dieser Nebenfigur am Ende eine wichtige Rolle bei der Aufklärung des übergeordneten Verbrechens zugedacht, ich habe der Figur durch einen entscheidenden Auftritt hoffentlich Handlungsfähigkeit gegeben; aber schon die Art, wie ich das formuliere, zeigt mir, dass hier etwas nicht stimmt, also eben nicht verantwortungsbewusst ist. Das betrifft auch die Sprache. An einer Stelle benutzt ein Polizist das deutsche N-Wort, damit die Leser*innen begreifen, wie rassistisch diese Figur sich verhält. In der neuen Ausgabe des Buches, die jetzt erscheint, habe ich das N-Wort gestrichen. Die Figur wird ohne das Wort genauso begreifbar. Ich erinnere mich aber noch an den Impuls, dieses Wort 2013, als ich das Buch schrieb, der rassistisch handelnden Figur als Authentizitätsmarker in den Mund zu legen. Es fühlte sich falsch an, aber auch so, als müsste es so sein, als müsste der Krimi eben schonungslos im Sinne von hart sein, womöglich so hart, dass es selbst dem Autor unangenehm ist, hart auch im Sinne von rücksichtslos. Wie aber sollte ich das buchstäblich verantworten, also im Sinne von: darauf antworten, die Antwort nicht verweigern, wenn jemand mich dafür haftbar machen wollte? Ich hätte es nicht gekonnt und könnte es auch jetzt nicht.
Wie sehr habe ich durch dieses gefühlte Genre-Underdog-Ding offenbar den Eindruck gehabt, ich könnte mir alles erlauben?
Mit „das gefühlte Genre-Underdog-Ding“ meine ich: die wohlwollende Abwertung des Genres im literaturkritischen und privaten Diskurs: Von der stehenden Rezensions-Formulierung, dass ein Buch so gut sei, dass es eigentlich „schon kein Krimi mehr“ sei, bis hin zu der mir oft gestellten Frage: „Willst du nicht mal einen richtigen Roman schreiben?“
Tatsächlich ist das ein Teil des Zaubers, den das Schreiben im Genre für Autor*innen hat. Die Außenwahrnehmung erlaubt eine Selbststilisierung als jemand, der etwas „nicht Richtiges“ tut, etwas, was außerhalb oder unterhalb gängiger literarischer Qualitätsmaßstäbe steht. Wenn hierzu, wie so oft im Krimi, Darstellung von Gewalt vor allem an Frauen, Affirmation von Grenzüberschreitungen der Polizei, Pathologisierung aus der Norm fallenden Verhaltens oder Traumata als Verbrechensmotive dient, entsteht eine toxische Brühe. Für die man dann als Autor*in dann aber nicht mehr verantwortlich ist, denn man folgt ja scheinbar a) nur den Genre-Regeln, und b) lassen die Leser*innen sich ja sehenden Auges darauf ein. Wir haben ja sozusagen per Handschlag den Krimi-Vertrag besiegelt.
Das Krimischreiben ändern
Ich glaube, ich hatte von Anfang an ein vages Unbehagen an dieser scheinbaren Verantwortungsfreiheit des Genres. Denn ich lese in “Treibland” rückblickend viele Versuche, mich und meine Figuren von den Untiefen der toxischen Brühe fernzuhalten: Der Kommissar hadert mit seiner Polizeiarbeit, krimitypische Sexismen und Rassismen von Figuren werden im Text problematisiert. Aber erst durch den erwähnten Text von Sandra Beck ist mir klargeworden: Ich möchte mein Krimischreiben bewusster ändern, nicht nur stellenweise.
Meine Kollegin Simone Buchholz hat im Oktober 2020 in der „Zeit“ die Corona-Pandemie den Wendepunkt für ihre Wahrnehmung des Kriminalromans genannt. Sie schreibt:
(…) Das Genre könnte sich angesichts dieser Superkrise einfach mal selbst zerlegen, sich in die Luft jagen, sich dort völlig neu zusammensetzen und als etwas Aufregendes wieder landen, im Bücherherbst 2021 oder so. Ich stelle mir also diesen neuen Kriminalroman vor, diese frischen Züge des alten Genres. Ich stelle mir etwas vor, dessen Grenzen sich auflösen, das sich selbst angreift, (…) das sich nicht mehr auf der sicheren Bühne bewegen will, (…) und hinter der Bühne, backstage, lauert das komplett Unbekannte, das, was wirklich wehtut, die Einsamkeit, die Stille, eine Figur, ganz allein, das Selbst außerhalb aller Zusammenhänge und vor allem außerhalb jedes Ermittlungszusammenhangs, weil, was will man denn noch ermitteln, wenn sowieso kein Stein mehr auf dem anderen steht.
Mein Aha-Erlebnis im Bezug auf den Krimi war jedoch eben nicht die Pandemie, sondern so etwas wie die Gemengelage von NSU, Black Lives Matter, ungeahndeter Polizeigewalt, sichtbarer oder verborgener Komplizenschaft bis hin zu NSU 2.0 und darüber hinaus. Ich würde sagen, um Simone Buchholz‘ Formulierung aufzugreifen: Was will man denn noch ermitteln, wenn jede Ermittlung im Kriminalroman dazu dient, ein System zu reproduzieren und zu affirmieren, dass in sich reformbedürftig und bis zur Reform schädlich für alle Beteiligten ist?
Aber was bedeutet das nun, welche Schlüsse habe ich für mich daraus gezogen beim Schreiben von “Hausbruch”?
Eigentlich müsste ich mir abgewöhnen, vom Kriminalroman oder vom Krimi zu reden, wenn ich über meine Arbeit spreche oder nachdenke. Es gibt die Begriffe police procedural und roman policier in dieser Breite und Tiefe nicht im Deutschen, aber im Grunde müsste ich sagen, dass die ersten fünf Kriminalromane, die ich geschrieben habe, Polizeiromane sind. Der sechste, der, wie in Erfüllung von Simone Buchholz‘ Forderung, jetzt also im Herbst 2021 erscheint, ist vielleicht zum ersten Mal ein Kriminalroman in dem Sinne, dass er nicht ästhetisch aufgeladen und getragen wird durch die Institution Polizei.
Denn: Ich kann nicht mehr wie bisher über die Polizei schreiben. Ich müsste entweder alles über die Polizei wissen oder nichts, um anders über sie schreiben zu können. Ich müsste so viel recherchieren, dass ich Polizeiromane schreiben kann, die das Alltagswissen, das Muskelgedächtnis, das biographisch Gelernte von Polizist*innen kennen und wiedergeben und brechen und verfremden.
Dies wird mir nicht möglich sein. Denn selbst, wenn ich die unerschöpfliche Zeit und die übermenschliche Disziplin hätte: Die Quellen, aus denen ich als Autor bei der Polizei schöpfe, sind mir entweder persönlich verbunden, oder sie sprechen aus einer Position des institutionellen Eigeninteresses mit mir. Ich filtere dann, was für mich gefiltert worden ist. Das Ergebnis bleibt bestenfalls trübe oder es wird dünn und durchsichtig. Ich müsste daher vielleicht so über die Polizei schreiben, als wüsste ich nichts, als erfände ich sie jedes Mal aufs Neue. Ich müsste, wenn man so will, so über die Polizei schreiben, wie Kafka über die Strafprozessordnung geschrieben hat. So, wie Marlen Haushofer über die Konstruktion transparenter Außenwände geschrieben hat. Ich müsste die Polizei allegorisieren, sie als irreale, metaphorische Instanz einsetzen, wodurch, wenn alles gutginge, eine Hyperrealität entstehen müsste. Aber dadurch würde ich mir das, was die Polizei in der Realität ist und wo sie defizitär ist, im besten Fall auf Armeslänge vom Leibe halten.
Noch viel realistischer über die Polizei zu schreiben, wäre also eine Flucht in die Recherche. Aber noch viel literarischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Kunst. Was also soll ich tun, als Genre-Autor?
Von der Polizei wegschreiben
Ich denke, ich muss die Leser*innen und mich selbst von der Polizei wegschreiben. Das versuche ich in “Hausbruch”. Entlang der Linien und Grenzen, die das Genre vorgibt. Ich finde es interessant, dass die Geschichte des Kriminalromans bisher eine Geschichte der Annäherung an die Polizei ist. Über die ersten Jahrzehnte war der Kriminalroman auch bei den Ermittler*innen, hauptsächlich Privatdetektiv*innen, eine Außenseitererzählung. Diese Tradition haben wir abreißen lassen. Seit den Fünfziger Jahren sind wir, und damit meine ich Krimi-Autor*innen, aber auch Krimi-Leser*innen, überwiegend besessen davon, wie und dass die Polizei arbeitet. Dabei haben wir aber den Anspruch, unseren Kuchen zu behalten und aufzuessen: Die Außenseiterposition des Detektivromans haben wir auf den Polizeiroman übertragen, indem wir uns auf das Privatleben der Ermittler*innen konzentrieren, indem wir über Polizist*innen schreiben, die mit ihrer Arbeit und womöglich der Institution Polizei hadern. Wodurch wir, wie Sandra Beck argumentiert hat, die Identifikation mit der Polizei noch verstärken, indem wir die Polizist*innen näher an unsere eigene Arbeitnehmerpsychologie und an unsere eigene Erfahrenswelt heranrücken.
Es gibt aktuelle Beispiele, wie es gelingen kann, sich und die Leser*innen wieder von der Polizei wegzuschreiben. Merle Kröger, „Die Experten“, die Romane von Zoe Beck, ganz aktiv der aktuelle zehnte Band von Simone Buchholz‘ Chastity Riley-Serie, „River Clyde“. Hier ist die Polizei entweder untätig und unwissend an der Peripherie, wie bei Kröger, oder erzählerisch umgangen durch work-arounds neuer, schillernder Institutionen der imaginierten nahen Zukunft wie bei Beck, oder die Institution Polizei und Staatsgewalt löst sich von der Identität der Hauptfiguren in einem geisterhaft, surrealen Spiel wie bei Buchholz.
Für meinen eigenen Kommissar habe ich einen Weg gewählt, der vielleicht symbolisch ist für mein Handeln als Kriminal- oder Polizeiroman-Autor: Er möchte die Polizei ganz dringend verlassen, er hat das Gesuch zur Auflösung des Beamtenverhältnisses schon formuliert. Davon handelt jetzt “Hausbruch”. Aber ob und wie sein und mein Ablösungsprozess gelingt, wird mich noch einige Jahre beschäftigen.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag bei der Tagung „Kriminalerzählungen der Gegenwart“ der Universität Bonn im April 2021
“Hausbruch” erscheint am 14. September bei Rowohlt Polaris, die Neuauflage von “Treibland” zeitgleich bei rororo.