von Kais Harrabi
Eine Zeit lang spülte mir der unberechenbare TikTok-Algorithmus jede Menge Nostalgie-Content in meine Timeline: „POV: Freitagnacht in den 80ern in NYC“, auf dem schwarz-verspiegelten Couchtisch im Wohnzimmer einer Penthouse-Wohnung stehen die ersten Gläser mit Drinks, die Kissen auf der riesigen Couch haben noch diesen samtigen Glanz vom Licht der untergehenden Sonne. Durch die Panoramafenster fällt der Blick auf die gegenüberliegenden Wolkenkratzer, in denen nach und nach die Lichter in den Büros ausgehen, nur ein paar bleiben, weil noch jemand eine Nachtschicht schiebt. Die Tonspur dazu tut ihr übriges: „Badge and Gun“ von Sunglasses Kid und Jonny Diggens. Ein Soft-Rock-Track, mit Saxofon, Synthesizern und dem für die Achtziger so typischen Gated-Reverb-Sound auf den Drums. Der Song ist aus diesem Jahr – seit Juni ist er auf Spotify. Die Bilder sind allesamt A.I.-generiert. Das nostalgische 80er-Jahre-New York, das sie beschwören, hat in der Form nie existiert. Genauso wenig wie die anderen Orte, die Accounts wie @NeonDreams zeigen: Ein Suburb in Missouri, eine Strandvilla in Malibu oder die Wüste von Arizona – alles in den Achtzigern oder Neunzigern.
Trotzdem lösen diese Fake-80er-Jahre Bilder bei mir ganz reale Emotionen aus: Ein Gefühl, als hätte ich da Fotos meiner eigenen Penthouses, Malibu-Strandhäuser oder Wolkenkratzerbüros von damals gesehen, an die ich nun mit einem wohligen, leicht melancholischen Gefühl irgendwo in der Mitte zwischen Brust und Bauch zurückdenke. Als 89er-Jahrgang bin ich aber weit davon entfernt, solche Dinge besessen zu haben. Die emotionale Resonanz dieser A.I.-Bilder kommt vielmehr über einen Umweg zustande. Die Posts wecken Erinnerungen an die Filme, die ich in meiner Kindheit und Jugend gesehen habe: Thriller und Actionfilme, in denen die Schurken in solchen Penthouses wohnen; Familienkomödien, die in wohlhabenden Vorstadtvierteln spielten, in denen die Häuser gepflegten Rasen und keine Gartenzäune hatten und die zu Halloween und Weihnachten mit einer nahezu barocken Fülle von Festtagstand geschmückt sind.
Auch eine üppig gedeckte Thanksgiving-Tafel bekomme ich auf TikTok immer wieder zu sehen, bei der einzig ein paar auf unerklärliche Weise in der Luft schwebende Lichtpunkte verraten, dass die das K.I.-Modell wohl auch mit Weihnachtsbildern trainiert wurde. Oder die blaue Stunde am Weihnachtsmorgen – alle noch in den Betten aber das Haus schon in gespannter Erwartung der bevorstehenden Bescherung. Als Kind habe ich mehr als einmal davon geträumt, selbst in so einem Haus aufzuwachen, wie Kevin McAllister in „Kevin allein zu Haus“: riesig, schön eingerichtet, mit liebevollen Eltern, weit entfernt von meiner tatsächlichen Kindheit und Jugend.
Nostalgie ist ein seltsamer Zustand. Über die Jahrhunderte hat sich seine Bedeutung immer wieder verändert, er wurde immer wieder neu definiert. In seinem Buch „What Nostalgia Was“ schreibt der Historiker Thomas Dodman, dass Nostalgie noch im 19. Jahrhundert weniger ein Gefühl war, als etwas das man hatte, wie Tuberkulose oder eine Erkältung. Nostalgie galt als ernstzunehmende Krankheit, der viele Todesopfer zugeschrieben wurden. Der Begriff „Nostalgie“ selbst geht auf den elsässischen Arzt Johannes Hofer zurück, der ihn für seine 1688 vorgelegte Dissertation erfand. Der junge Arzt interessierte sich damals für eine besonders heftige Form des „Heimwehs“ bei Schweizer Soldaten, die fern der Schweizer Berge die französische Armee unterstützten.
Hofers Nostalgie sei eine psychopathologische Reaktion auf das Versetztsein im Raum – nicht in der Zeit, wie heute, schreibt Dodman. Die „Schweizerkrankheit“ wurde vor allem von einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach dem Heimatland hervorgerufen, die die „Lebenskräfte des Körpers aufzehrte“. Nostalgie war vor allem eine Krankheit, die Männer im Kriegseinsatz befallen hat. Dodman führt in seinem Buch reihenweise Berichte von Männern an, die an der Front der jeweiligen Kriege (napoleonische Kriege, amerikanischer Bürgerkrieg usw.) einer Krankheit mit unerklärlichen, lebensbedrohlichen Symptomen zum Opfer fielen. Geheilt werden konnten sie nur durch einen Besuch in der Heimat. Ein wenig, wie das Mädchen Heidi aus Johanna Spyris Roman, das aus den Schweizer Alpen nach Frankfurt ziehen muss, um der jungen Clara Gesellschaft zu leisten. In Frankfurt wird Heidi von einer mysteriösen Krankheit befallen und beginnt zu schlafwandeln. Erst die Rückkehr in die Schweizer Berge lässt sie wieder gesunden.
Abseits von Spyris Romanen, blieb Nostalgie aber lange Zeit vor allem ein Forschungsgebiet für Militärärzte, die sich um die Gesundheit und die Einsatzfähigkeit der (mehr oder weniger) freiwilligen Soldaten sorgten. Erst im nachrevolutionären Frankreich und vor allem mit dem Beginn der Romantik wandelte sich auch das Verständnis von Nostalgie, von einer pathologischen Form des Heimwehs zu einer sentimentalen Sehnsucht nach einer idealisierten Form der Vergangenheit. Und Nostalgie wurde von einem Thema für Ärzte zu einem Thema für Poeten und Schriftsteller. Spyris Heidi-Roman aus dem Jahr 1880 erscheint damals schon fast wie ein Anachronismus, weil er Nostalgie noch als Krankheit und nicht als Sehnsucht zeigt.
Heute ist Nostalgie vor allem ein Thema für Kulturwissenschaftler: Gerade die Popkultur ist voll von nostalgischem Content. Popstars wie The Weeknd oder Sabrina Carpenter lassen mit ihrem Sound den Radiopop der 80er, 90er und Nullerjahre wieder auferstehen, im Kino läuft mit Filmen wie „Alien: Romulus“ oder „Beetlejuice Beetlejuice“ ein Blockbuster nach dem anderen, der sich auf Klassiker der 80er bezieht. Und von Streamingplattformen wie Netflix mit ihrem ungehinderten Zugang zu alten TV-Shows brauchen wir gar nicht erst zu reden. Vermutlich war nie eine Ära nostalgischer als die unsere. Dabei gibt es eigentlich kaum einen Grund dafür, den Blick sehnsüchtig zurückschweifen zu lassen. Das New York der 80er, auf das sich so viele der Nostalgie-TikToks beziehen, gab es so gut wie nicht. Die Stadt galt damals als rattenverseuchtes Höllenloch; die AIDS-Pandemie zog eine Schneise der Verwüstung durch die Kunstszene, das (queere) Nachtleben und die vermeintlich coolen Viertel; nachts alleine in der U-Bahn unterwegs zu sein war keine gute Idee; die Infrastruktur war ein Albtraum. Erst in den 90er Jahren unter Bürgermeister Rudy Giuliani bekam die Stadt ihre Probleme so langsam in den Griff und verwandelte sich in den sauberen, durchgentrifizierten Touristentraum von heute.
Was von den 80er Jahren an visuellem Material geblieben ist, sind vor allem die Hochglanzträume aus Modezeitschriften und Möbelkatalogen – Bildmaterial, das schon damals zum Träumen (und Kaufen) anregen sollte. Und Bildmaterial, mit dem sich heute relativ problemlos generative K.I.-Modelle trainieren lassen. Diese Modelle sind wie geschaffen dafür, Nostalgie zu triggern. Ob Modelle wie Midjourney tatsächlich etwas Neues schaffen könnten, ist eine große Frage. Sind sie einmal trainiert, berechnen diese Modelle stur nach stochastischen vorgaben, welcher Pixel dem Prompt gemäß wahrscheinlich wo welche Farbe haben sollte. Ähnlich funktionieren Chatbots wie ChatGPT, die mit Unmengen an Texten gefüttert werden und dann lediglich berechnen, welches Wort wahrscheinlich als nächstes Folgen könnte. Ist die Datenmenge groß genug, lässt sich natürlich der Anschein von Kreativität erwecken. Am besten sind diese Modelle aber immer dann, wenn sie Bekanntes neu kombinieren müssen, ein Pastiche herstellen – zum Beispiel eines Bildes aus einem Möbelkatalog der 80er, Penthousesetting, Ledercouch, glattpolierter Glastisch.
So entstehen Bilder, die einem vage bekannt vorkommen, wie einem der Schreibstil eines literarischen Pastiches irgendwie vage bekannt vorkommt, wenn man die Referenz schonmal gelesen hat. Was die Nostalgie-Accounts auf TikTok (und anderswo) zeigen, deckt sich erstaunlich genau mit der Nostalgie-Definition, die die Kulturwissenschaftlerin Svetlana Boym in ihrem Buch „The Future of Nostalgia“ verwendet: Nostalgie als Sehnsucht nach einem verlorenen Heim oder nach einem Heim, das niemals existiert hat. Was die Accounts (re)produzieren, sind am Ende visuelle Klischees, generisch genug, um ein nicht genau greifbares Gefühl zu triggern; keine Erinnerung, sondern das Gefühl einer Erinnerung.
Am besten hat diesen Mechanismus wahrscheinlich Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit beschrieben. Er lässt sich (in meinem Suhrkamp Taschenbuch) knapp 65 Seiten Zeit, bis zur Schlüsselszene seines Romans: Der Erzähler Marcel setzt sich hin, trinkt eine Tasse Lindenblütentee und beißt in eine Madeleine, die er in den Tee getaucht hat. Und da überkommt es ihn – nicht direkt Erinnerungen, eher ein sentimentales Gefühl, das er gar nicht so recht zuordnen kann: „Woher strömte diese mächtige Freude mir zu“, fragt er sich. Gute fünf Seiten sehr detailreiche Introspektion später wird Marcel dann klar, woher diese Freude kommt: Es ist die Erinnerung an den Geschmack jenes Madeleine-Stücks, das ihm seine Tante als Kind zu geben pflegte. Und mit diesem Moment überkommen Marcel noch viel mehr Erinnerungen, wie bei einem Dammbruch: das Haus, das Städtchen Combray usw. Nostalgie bezieht sich bei Proust klar auf ein Früher. Und sie braucht einen Trigger, einen sinnlichen Reiz. Das Gefühl, das dieser Trigger hervorruft, ist aber erstmal nicht so genau definierbar, eine „mächtige Freude“ ohne klaren Ursprung. Erst nach fünf Seiten Introspektion identifiziert Marcel die tatsächlichen Orte, Personen und Ereignisse, auf die sich dieses kraftvolle Gefühl bezieht, das er beim Biss in die Madeleine empfindet.
Für die Neon-Träume auf TikTok bleibt allerdings nicht so viel Zeit. Allein das Umfeld der App lädt kaum zur Introspektion ein, sondern fordert permanent Aufmerksamkeit. Das führt dazu, dass Nostalgie auf TikTok darin verharrt, das nostalgische Gefühl heraufzubeschwören. Es bleibt bei der „mächtigen Freude“, aber für die Suche nach ihrem Ursprung ist keine Zeit. Die visuellen Klischees, die die K.I. reproduziert, triggern oft nicht einmal richtige Erinnerungen an die 80er, sondern vor allem an visuelle Repräsentationen von damals – das Penthouse erinnert nicht an das eigene Penthouse, sondern an eines, das man vielleicht irgendwo im Film gesehen hat, in Oliver Stones Wall Street vielleicht. Vielleicht erkennt man auch die Möbel aus Scarface wieder, dessen Dekor nach wie vor so sehr nach 80er Jahre aussieht, wie in kaum einem anderen Film.
Die Nostalgie, die @NeonDreams und die anderen Accounts hervorrufen ist aber keine, die direkt auf diese Filme anspielt, obwohl diese Filme teilweise in denselben Räumen spielen könnten, die auf den Bildern zu sehen sind. In der Erinnerung an die Filme steckt eine zweite, ausgesprochen kraftvolle Erinnerung. Nämlich an die Situationen, in der man diese Filme gesehen hat. Ein Film wie Kevin – Allein zu Haus oder Wall Street ist vor allem mit Erinnerungen an die Situationen verbunden, in denen man sie geschaut hat. Die Kevin-Filme sind klassische Weihnachtsfilme. Die wohlige Behaglichkeit, in der man sich so einen Film ansieht, kommt wohl der Situation gleich, in der der junge Marcel von seiner Tante den Lindenblütentee und eine Madeleine bekommen hat. Die Nostalgie entsteht also in der Erinnerung an die Situationen, in denen man früher mit dieser ästhetischen Erfahrung konfrontiert war: In Filmen oder Serien, oder beim Blättern durch alte Kataloge und Zeitschriften.
Die K.I.-Bilder wecken aber auch falsche Erinnerungen. Ästhetisch sind sie oft viel zu smooth; die Glätte, die die Fotos versprechen, können weder Katalogfotos noch Filme solcher Stilisten wie Top Gun-Regisseur Tony Scott einlösen. Das hat damit zu tun, dass die 80er auch das letzte Jahrzehnt waren, in dem man sich sicher sein konnte, dass das, was man im Kino oder Fernsehen zu sehen bekam, nicht aus dem Computer stammte, sondern eine reale Entsprechung hatte. Selbst hyperstilisierte Filme wie Wall Street, Martin Scorseses Die Zeit nach Mitternacht oder Tony Scotts Fortsetzung von Beverly Hills Cop haben immer noch eine physische Qualität, die Filmen spätestens ab den Nullerjahren mit dem Siegeszug von CGI verlieren. Kamerafahrten wahren nicht immer smooth, Nebel, Dunst und Rauch sind essenzielle Teile der Bildgestaltung und Innenaufnahmen wirken häufig zu hell ausgeleuchtet.
Die Neon-Dreams sind dagegen weich, sauber und soft – idealisierte Erinnerungen, False Memories, die ihre Betrachter auf eine introspektive Suche schicken, die hoffnungslos ist und die einzig einen vagen, süßlichen Schmerz darüber triggert, dass diese Räume nie in dieser Form existiert haben, nicht einmal in den Filmen und Magazinen von damals. So enthalten einem diese A.I.-Nostalgie-Accounts den Abschluss des nostalgischen Prozesses vor, das Schwelgen in den Erinnerungen, wie Proust es nach der Madeleine-Szene viele Seiten lang tut. Sie sind die perfekte Form von Boyms Nostalgie als Sehnsucht nach einem Heim, das man nie hatte; eine Sehnsucht also, die man nicht befriedigen kann. Zu Johannes Hofers Zeiten reichte es noch, die Schweizer Soldaten, die von dieser Krankheit befallen waren, zurück in die Heimat zu schicken, wo es ihnen oft schnell wieder besser ging. Heidi, im Jugendbuch von Johanna Spyri half das auch noch. Zu Prousts Zeiten konnte vielleicht konzentriertes Erinnern noch helfen, die Sehnsucht nach der verlorenen Zeit zu befriedigen. Aber was hilft gegen die Sehnsucht nach einer Zeit, die wir nie besessen haben?