von Matthias Warkus
Ein trauriges kleines Büchlein
Wer »den neuen Poschardt« und sein letztes Buch von 2020 nebeneinander legt, sieht einen kummervollen Abstieg. Den kann man dem Verfasser selbst allerdings nur zum Teil anlasten. Dass es so billig hergestellt daherkommt, liegt sicher daran, dass das Buch per Amazon selbstpubliziert erschienen ist, nachdem Zu Klampen es dann doch nicht wollte. Damit war eigentlich nicht zu rechnen gewesen: In derselben Reihe, in der Shitbürgertum (ulfposhbooks 2025, 170 S.) dort hätte laufen sollen, ist unter anderem 2020 ein Buch erschienen, in dem sich Jens Jessen über die sexuelle Attraktivität der damals noch minderjährigen Greta Thunberg auslässt.* Daran, dass Poschardt das Niveau unterboten hätte, kann es also nicht gelegen haben. Um darüber zu spekulieren, was wirklich vorgefallen ist, fehlt mir das Insiderwissen. (Es stimmt allerdings, dass das vorliegende Buch mehr Unappetitliches impliziert als das letzte. Dazu später noch mehr.)
Dass schon in der zweiten Zeile ein Komma fehlt (5) und insgesamt kein Mangel an Fehlern herrscht, dass durchweg Silbentrennungen falsch sind, Heinrich Manns Der Untertan sinnentstellend falsch zitiert wird**, dass Poschardt sich ein falsches Bismarck-Bonmot unbelegt zu eigen macht*** – geschenkt. Vielleicht musste alles extrem schnell gehen und selbst mit dem Geld des Multimillionärs war keine Express-Endkorrektur mehr zu bekommen. Auch dass das Buch, das sich selbst als Monographie inszeniert, ein eher eklektischer Zusammenschrieb (Poschardt sagt »Consommé«) von teilweise bereits veröffentlichten Texten ist, ist nicht neu, das war schon Mündig, und genau wie damals geht der Verfasser damit zumindest halb offen um: Er erwähnt es in einer Fußnote (5), gibt aber keinen Nachweis dazu, was bereits wann und wo veröffentlicht wurde; dabei würde man angesichts der Geschwindigkeit der politischen Entwicklungen der jüngsten Zeit rein zum Verständnis gerne wissen, welche Texte wann entstanden sind. Mindestens eine Passage im Buch (zu einem Zeit-Beitrag Robin Detjes von 2014) ist über zehn Jahre alt.
Ein wesentlicher Unterschied zum Vorgänger ist die Kürze der (ohne Vorwort und »Vorvorwort«) 20 einzelnen Kapitel bzw. Beiträge. Bei manchen reibt man sich ganz unironisch die Augen, weil sie extrem knapp sind (drei Kapitel haben nur eine Seite, einige weitere haben nur zwei oder drei) und daher an dem Punkt, wo man den Einstieg in ein Argument erwarten würde, bereits wieder enden. Der Eindruck einer gewissen Zerfahrenheit lässt sich nicht leugnen. Vielleicht gibt es auch deswegen kein Inhaltsverzeichnis, damit dieser Umstand nicht so auffällt. Insgesamt ist das Bändchen geradezu frech aufgeblasen – der Hauptteil nimmt knapp 100 Seiten ein, was durch ein Layout mit ganzseitigen Überschriften und viel Weißraum kaschiert wird. Man müsste eigentlich eher von einer Broschüre sprechen als von einem Buch.
Unter der Form des Werks hat man also bei der Lektüre eher zu leiden. Wird dies durch inhaltliche Stärken aufgewogen? Wir werden später sehen, dass dies eher nicht der Fall ist. Aber der Reihe nach.
Den Mangel an Struktur versucht Poschardt zunächst dadurch zu kompensieren, dass er inhaltlich, emotional und stilistisch maximale Dringlichkeit inzeniert. Inhaltlich dadurch, dass er argumentiert, nur durch die »umfassende« Zerstörung (nicht physisch, sondern disruptiv, »im Sinne Schumpeters«) eines bestimmten deutschen gesellschaftlichen Milieus sei der gesamte Westen als politisch-kulturelles Gebilde zu retten. Emotional durch mehrfache Gesten der Verzweiflung. Die eigenen angeblichen früheren Versuche, »es mit dem kulturell dominanten Links-/Grün-Bürgertum« noch einmal hinzubekommen, nennt er etwa »naiv und feige« (7). Stilistisch schließlich tut er es durch eine nicht bloß polemische, sondern absichtsvoll vulgäre Ausdrucksweise, die sich bereits im fäkalen Titel des Buchs andeutet. Unfreiwillig amüsant ist hierzu der klemmige Satz »Das Shitbürgertum hat den Kompass der Gesellschaft zudefäkiert, wie wir in Franken sagen würden« (8f.) – die »Scheiße«, die später noch mehrfach beim Namen genannt wird, will Poschardt im Vorwort noch nicht in den Mund nehmen. Was meint er nun aber mit dem »Shitbürgertum«, das seiner Meinung nach disrumpiert werden muss, wenn die freie Welt noch eine Chance haben soll?
»Wir« gegen die freien Recken
Obwohl Form und Stil eher anderes erwarten lassen, hat Poschardt tatsächlich so etwas wie ein klares Argument, wenn er es auch eher polemisch-konstellativ umkreist als methodisch darlegt. Es sieht ungefähr so aus: Auf historische Kränkungen wie verlorene Kriege (ab spätestens 1806) reagieren die Deutschen quasi traditionell mit Verbissenheit, Orientierung an menschenfeindlich-kollektivistischen Idealen (»Sparta«, 21) und der Produktion von immer größerem verbrecherischem Unheil. Die Frustration, Schuld und Scham, die sich daraus ergeben, werden aber nicht verarbeitet, indem man etwa offen dazu stünde, dass man das unheilige Ziel verfolgt hat und damit gescheitert ist, sondern abgespalten und verdrängt. »Abspaltung« und »Spaltungsabwehr« sind die Schlüsselbegriffe dieses Buchs: Die eigene moralische Korruption und charakterliche Verworrenheit werden nicht ausgetragen, sondern weggeschoben, man imaginiert sich selbst als moralisch vollständig gut (geworden) und grenzt sich manichäisch von anderen ab, die man als moralisch vollständig schlecht projiziert.****
»Shitbürgertum« nennt nun Poschardt das in Deutschland angeblich hegemoniale gesellschaftliche Milieu dieser Abspalter und Verdränger, Moralisierer und Dämonisierer. Angela Merkel war schon eine seiner Exponentinnen, 2021–2024 ist es dann endgültig an die Spitze der politischen Macht vorgerückt. Es sitzt an allen Schalthebeln. Es charakterisiert sich für Poschardt selbst in seinen zivilgesellschaftlichen Anteilen (angeblich »nahezu alle Amtskirchen«, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, »eine Vierfünftel-Mehrheit der NGOs«, 15) durch ein pathologisches Verhältnis zum Staat, der als allmächtige Instanz verklärt werde. Der Staat diene einerseits als Mittel zur Kolonisierung aller gesellschaftlichen Systeme durch moralische Imperative, andererseits als materielle Nährmutter; Poschardt hält das »Shitbürgertum« für weitgehend direkt oder indirekt aus öffentlichen Kassen finanziert. Auch individuell werden die »Shitbürger« in ihren letztlich unfreien staatsfinanzierten Existenzen vom Ressentiment für die Besserverdienenden umgetrieben – ein Ressentiment, das sie durch moralische Überlegenheitsansprüche und Anzapfen immer mehr staatlicher Ressourcenquellen zu kompensieren versuchen. Aus dieser Dynamik erklärt sich für Poschardt unter anderem das Wachstum des öffentlichen Sektors in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit.
Den Staat will er aber beschränkt und verkleinert sehen, nicht nur, um auf disruptivem Wege die Wirtschaft in Fahrt zu bringen, sondern vor allem, um das »sedierte« Bürgertum (11) wieder aufzuwecken, die angebliche Saturiertheit der Gesellschaft aufzubrechen. Für einen Libertären spricht Poschardt erstaunlich oft über Gemeinschaft – z.B. vom »Nerv der Gesellschaft […], wo der Elan des Einzelnen sich vital in ein Kollektiv fügt« (6f.); ihm geht es weniger um das Heil des »Shitbürgers« als um die Freisetzung des durch ihn unterdrückten Rests. Das Schicksal der Nation steht und fällt für ihn mit einem Kern aus selbstbewusst wirtschaftlich erfolgreichen, staatsfernen, widerständigen, hedonistischen, mit sich selbst im Reinen seienden Bürgern – Trägern der schöpferischen Zerstörungskraft. (Hier klopft der Übermensch an die Tür, in zahlreichen Nietzsche-Verweisen, vor allem mit einem ganzseitigen Zarathustra-Zitat auf S. 66f.)
Diesen triumphierenden Dionysikern gönnt der »Shitbürger« nun natürlich nicht die Butter auf dem Brot und will sie kleinhalten. Stil und Mittel der Unterdrückung der reifen, freien Individuen durch die »infantilen unintegrierten Persönlichkeiten« (15) ist nach Poschardt die Moral. Die ausschließlich als Frau konzipierte »Oberlehrerin« (75) ist ihr Paradigma. Sie konstruiert neben ihrer Vergottung des Staates als zivilgesellschaftliches Pendant auch ein kollektivistisches »Wir«, das sich durch moralistische Ausgrenzung Andersdenkender erhält und stabilisiert.
Dieses Unterdrückungsverhältnis zeigt sich nun in verschiedener Gestalt. Nach Poschardt hält es ebenso die Literatur in Kitsch gefangen wie die deutschen Eliten in provinzieller Stillosigkeit – von der Kleidung bis zum kulturellen Allgemeinwissen. Es bringt immer neue paternalistische Anwandlungen gegenüber vermeintlich schwachen gesellschaftlichen Gruppen hervor; es diskreditiert Fleiß, harte Arbeit und sozialen Aufstieg, deformiert die Sprache, installiert Antidiskriminierungsprogramme und schürt Angst vor disruptiven politischen Figuren wie Donald Trump, Elon Musk und Javier Milei, den Paradigmata des freien, vitalen Genussmenschen und seiner nietzscheanischen Staatsfeindlichkeit.
Diese Namen führen uns von der Diagnose zu einem Therapievorschlag. Ganz zum Schluss skizziert Poschardt eine »Selbsttherapie« des »Shitbürgertums«, die es dazu befähigen soll, Widersprüche auszuhalten, seine Emotionen zu ertragen und »stabilere und liberalere Beziehungen« zu unterhalten (161f.). Das Paradigma einer Intervention in diesem Sinne ist die mehrfach zitierte Rede des Rechten Robert Willacker bei den Wiener Festwochen 2024. Andererseits schreibt Poschardt schon ganz zu Beginn, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Selbsttherapie zustande kommt, »gegen null« gehe (9). Darum rechnet er eher mit einer Zerstörung des angeblichen Hegemonialzusammenhangs von außen. Sie muss für ihn drastisch, mit der im Buch mehrfach erwähnten mileischen Kettensäge geschehen, da das herrschende Milieu sich nach seiner Ansicht so sehr an allen gesellschaftlichen Schlüsselpositionen festgesetzt habe, dass es auf gewohntem politischen Wege eigentlich nicht mehr zu entmachten sei.
Daher müsse es durch Bloßstellung seiner Doppelmoral entzaubert werden. Der pathologische Lügner Trump, der aber wenigstens darin ehrlich sei, dass es ihm immer nur um ihn selbst gehe, leiste dies; er ist für Poschardt buchstäblich eine Brechtbühnenfigur, die das Publikum durch Offenlegung der Inszenierung besonders ernst nehme (»Seine Worte sind der V-Effekt«, 105). Neben dieser Entlarvung sei das »Shitbürgertum« zudem durch Entziehung seiner staatlichen Versorgungskanäle entscheidend zu schwächen (»umfassend zu defunden«, 9)
Aber auch wenn Poschardt den Abbau von Ministerien oder die Privatisierung des öffentlichen Rundfunks in Argentinien feiert, auch wenn er ein kommendes Zeitalter der »Verwilderung« und der »Grabenkämpfe« (157f.) zu begrüßen scheint, geht es ihm dabei letztlich vor allem um die individuelle und soziale Psychologie. Staaten und öffentliche Institutionen sind ihm völlig egal und können im Zweifel sterben, genau wie »jedwede kollektiven moralischen Disziplinierungssysteme« (158f.). Der anarchisch-freie Lustmensch, den Poschardt als Triebkraft alles Guten charakterisiert, soll tendenziell der unsteten, äußerlichen Welt des Materiellen näher stehen als dem »Korsett« der Moral.
Gerade dies macht ihn frei – denn wird die Moral des Moralisten lädiert, sei dies ein »Bauchschuss« für ihn (130), eben weil sie ihm notwendigerweise so viel näher ist als Besitz und Konsum. Vorbildlich ist darum nicht der Mensch mit moralischen Überzeugungen, sondern der Amoralist, der für seine Lebensführung keine Werte benötigt, sondern nur Stil, Mode und ein dickes Auto (daher Poschardts Lobeshymnen auf Gangsterrapper, die dieses Rollenbild für ihn, zusammen mit einem unbändigen Aufstiegsgeist, vorbildlich verkörpern; 112ff.). Wenn das aber alles so ist, muss man sich fragen, woher diese integrierten, freien Menschen die »bürgerliche Exzellenz«, den »Idealismus« und vor allem den Fleiß nehmen, den ihnen Poschardt wieder und wieder zuschreibt (z.B. 150), und woher die »Werte« kommen, die dann doch »eine liberale Gesellschaft zusammenhalten« sollen (96). Hier scheint mir Widersprüchlichkeit als Charakteristikum von Ideologie mit Händen zu greifen.
Blinde Flecken
Es ist bemerkenswert, wie anachronistisch für jemanden, der sich ostentativ als Poptheoretiker versteht, viele kulturelle Bezüge von Poschardts Texten sind. Wenn er nicht gerade Wikipedia-Erläuterungen psychoanalytischer Begriffe aus dem Gedächtnis zitiert (23), hält er sich an den vielfach aufgerufenen Nietzsche, an Tocqueville, Karl Heinz Bohrer oder Deleuze/Guattari. Er bezieht sich auf Popmusik der 70er (Kraftwerk, »Rapper’s Delight«), Hip-Hop von 1989 (»Fight the Power«), einen VW-Werbespot von 2006, eine South-Park-Folge von 2011, die »Pate«-Trilogie, wieder einmal wie so oft auf »Miami Vice«. Als politischer Vertreter von angeblichem kleinbürgerlichem Elitenhass taucht ausgerechnet der 1993 abgetretene Münchner SPD-Bürgermeister Georg Kronawitter auf, eine längere Passage widmet sich Poschardts Doktorvater Friedrich Kittler. Auf dem Rücken des Buchs steht in Versalien »Macht kaputt, was euch kaputt macht«, eine bald 60 Jahre alte Zeile.
Aber das sind Details. Was ist mit dem großen Ganzen? Wie bei vielen Büchern dieser Art sind die Schlussfolgerungen in Shitbürgertum wenig originell; das »anti-woke« Pamphlet ist schließlich mittlerweile ein eigenes Genre auf dem Buchmarkt.***** Die Argumentation wirkt wie üblich auf eine eher selektive Faktenbasis gestützt. Es lohnt sich daher, vor allem zu diskutieren, was Poschardt auslässt. Ich will hier nur wenige Punkte ansprechen und das offensichtlich Abwegige (wie etwa die angebliche erdrückende grüne Dominanz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk) auslassen.
Poschardt bezieht sich maßgeblich auf die umstrittene These eines mehr als 200 Jahre zurückreichenden historischen deutschen Sonderweges. Ganz zu Anfang könnte man also fragen, in welcher Hinsicht Deutschland heutzutage objektiv Sonderwege geht. Was ist in der Bundesrepublik wirklich anders als beim Rest der Welt? Da wäre zum Beispiel die einzigartige Aushöhlung des Wissenschaftsbetriebes durch eine gesetzlich flankierte Einstellungspraxis, die das Gros der wissenschaftlich Tätigen in Kettenbefristungen zwingt, die zudem ein fixes Ablaufdatum haben. Poschardt behauptet, die Finanzierung von Bildungsaufstiegen durch das BAföG im Gefolge von 1968 habe die Nebenwirkung gehabt, die neuen Eliten an den Staat zu binden (109f.). Eine der Haupterrungenschaften des bundesrepublikanischen Sozialstaats (etabliert durch das epochemachende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts am 24.6.1954), in Abgrenzung sowohl zur obrigkeitsstaatlichen Tradition als auch zur realsozialistischen Fürsorgediktatur, ist nun die Ausgestaltung von Sozialleistungen als Rechtsanspruch.
Der Staat kann seit der Umstellung der Ausbildungsförderung auf ein solches Anspruchsmodell 1971 schon rein juristisch keine Loyalität als Gegenleistung verlangen, und mir ist nicht bekannt, dass sozialwissenschaftlich jemals eine besondere Loyalität BAföG-Finanzierter zum Staat aufgefallen wäre. Hingegen zwingt die genannte Befristungspraxis quasi das gesamte wissenschaftliche Personal unterhalb der Professur in Unterwerfungsgesten und filtert bekanntlich sperrige Denker*innen mehr als nur gelegentlich aus. Wer sich in Deutschland ein widerständiges, staatsfernes akademisches Milieu wünscht wie Poschardt (47), müsste sich quasi zwangsläufig für stabile Beschäftigungsverhältnisse und die Abschaffung der nach wie vor salienten Merkmale der Ordinarienuniversität einsetzen. Davon ist bei ihm aber nicht einmal andeutungsweise etwas zu lesen, was auch nicht verwundert. Es liegt dem Libertären notwendigerweise fern, den Aufbau sicher finanzierter Stellen im öffentlichen Sektor zu propagieren.
Eine vergleichbare, eher noch größere Auslassung findet sich dort, wo Poschardt gegen angebliche Vorstellungen, der Staat sei »finanzpolitisch nahezu allmächtig« (63), polemisiert. Deutschland und die seit der Währungsunion und der Eurokrise haushalterisch auf deutsche Linie gebrachte EU sind bekanntlich keineswegs finanziell überdehnt, eher im Gegenteil. Finanzpolitische Allmacht findet sich am ehesten bei den USA, die mit astronomischen, schuldenfinanzierten Ausgaben für Investitionen und Subventionen ihre Wirtschaft unter der recht traditionell sozialdemokratisch agierenden Regierung Biden zu schwindelerregendem Erfolg geführt haben.
Hätte Deutschland vergleichbar gehandelt, hätten in den letzten zwei, drei Jahren ca. 300 Milliarden Euro lockergemacht werden müssen. Dass dies nicht geschehen ist, liegt aber gerade nicht an einer strukturell mangelnden Leistungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte. Poschardt diskutiert das Thema Staatsfinanzen, wie es sich für einen Anhänger der FDP gehört, als wäre die Schuldenbremse völlig sakrosankt, während er zugleich absurderweise behauptet, »Austerität und Haushaltsdisziplin« seien aufgegeben worden (61). Natürlich ist ebenfalls keine Rede von dem weitgehenden fachlichen Konsens, dass eine – zumindest bis vor Kurzem – stabile marktwirtschaftliche Demokratie mit allerbesten Ratings und einem Bruttoinlandsprodukt irgendwo in den Top Ten der Weltrangliste (je nach Berechnungsgrundlage) tatsächlich quasi ›finanzpolitisch allmächtig‹ sein könnte, wenn sie sich nicht selbst Fesseln angelegt hätte, die eigentlich kein VWLer mehr versteht.
Stinkende Ecken
Die große Linie von Shitbürgertum erfordert es, den Zivilisationsbruch im Nationalsozialismus als Folge nicht eines Mangels, sondern eines Überschusses von Moral zu konstruieren. Allerdings kann man die Vorstellung, die verbrecherischen NS-Eliten seien überzeugt davon gewesen, besonders moralisch zu handeln, vorsichtig gesagt mit einem großen Fragezeichen versehen. Die Lektüre von Standardwerken wie Michael Wildts Generation des Unbedingten oder Peter Longerichs Himmler-Biographie lässt eher vermuten, dass die Mörder selbstbewusst amoralisch agierten und die radikale Transgression des Verbrechens geschichtlicher Ausmaße als eine Art zukunftsermöglichenden Bruch mit der Vergangenheit, eine Umwertung aller Werte sahen. Den geistigen Hintergrund dafür boten unter anderem die Vorstellungen von »Tatmenschentum«, wie sie z.B. für die bündische Jugend leitend waren oder in Stefan Georges Lyrik um 1930 ausgedrückt sind (»Jahrhundertspruch«, »Der Dichter in Zeiten der Wirren«). Dies hieße dann aber, dass die NS-Täter Poschardts eigenem Ideal von der massiven, schöpferischen Disruption viel näher standen als der von ihm skizzierten hypermoralischen Abspaltungspersönlichkeit.
Damit kommen wir zu einem der problematischsten Aspekte des Buchs – vielleicht überraschend oder aber gerade besonders zwangsläufig, weil die Anklage angeblicher Heuchelei im Umgang mit dem verbrecherischen Erbe der Vergangenheit für Poschardts Argumentation so wichtig ist.
Nach Poschardt kann man das eigene faschistische oder nationalsozialistische Erbe am besten dadurch aufarbeiten, dass man dazu steht. Das macht unter anderem die postfaschistische italienische Ministerpräsidentin Meloni für ihn unironisch zu »mehr Antifa« »als alle Moralapologeten hierzulande« (34). Logischerweise gilt dann ebenfalls, dass eine mangelnde Absetzung vom Nationalsozialismus oder der Wehrmachtsvergangenheit gerade kein Makel von Martin Heidegger, Ernst Jünger, aber auch Joseph Beuys gewesen sei, sondern für sie spreche (27f.). Richard von Weizsäcker konnte seine berühmte Rede 1985 Poschardt zufolge gerade deswegen halten, weil er seinen Vater, den Kriegsverbrecher, in Nürnberg verteidigt hatte (37). Kohls umstrittenes Gedenken in Bitburg steht für ihn programmatisch auf einer Stufe mit seinem und Mitterands Handschlag in Verdun, gar mit Brandts Kniefall in Warschau.
Diese extrem fragwürdige Theorie wird durch Poschardts Einlassungen zu anderen Menschheitsverbrechen der Neuzeit allerdings noch in den Schatten gestellt. Die Kolonisierung Nordamerikas, die immerhin über fast 300 Jahre hinweg mit konstanter Gewalt einherging, die als Genozid oder zumindest ethnische Säuberung beschrieben werden muss, nennt Poschardt ein »genetisches Experiment«, bei dem eine »vor-zivilisatorische Wildnis« besiedelt worden sei (101). Die Disposition zur Freiheit, zur Disruption, zur schöpferischen Zerstörung scheint ihm generell irgendwie genetisch veranlagt (106) – wobei er zugleich bedauert, der angeblich für den »Shitbürger« typische passiv-aggressive Charakter könnte ebenfalls evolutionär aufgekommen sein (145). Andererseits kennt er keine Hemmungen, selbst völlig im Immateriellen bleibende gesellschaftliche Phänomene mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gleichzusetzen. Nicht nur beklagt er eine »freiwillige Gleichschaltung« der Medien (18) – wo er die angebliche Sprachpolitik der hegemonialen Eliten in Deutschland bespricht, also maßgeblich Richtlinien zu gendergerechter und diskriminierungsfreier Ausdrucksweise, schreibt er in einer längeren Passage voller Gewaltbilder davon, die deutsche Sprache werde vor einen »Volksgerichtshof« gestellt und geschunden wie ein Folteropfer (»Sie liegt da wie ein zerfetzter Leib«, Wörter werden »hingerichtet«, 120).
Ohnehin ist die Sprache eine eigene Anmerkung wert. Der gern karikierte poschardtsche Wille zum dickstmöglichen Auftragen ist noch an vielen Stellen erkennbar, allerdings ist der Duktus insgesamt deutlich freudloser und schlägt weniger Kapriolen als in Mündig. Die vielen dort zu lesenden farbigen Wahnsinnssätze (»In rhizomatisch geführten Betrieben sind die unterschiedlichen Tentakel eben auch Wahrnehmungsassistenten«) fehlen einem hier ein bisschen.
Auffällig ist auch ein kaum unterdrückter Sexismus. Ich hatte bereits erwähnt, dass Poschardt dort, wo er heutige Exponenten des »Shitbürgertums« kennzeichnen will, an mehreren Stellen ausschließlich in der weiblichen Form spricht. Namentlich genannt oder klar erkennbar thematisiert werden ebenfalls in erster Linie Frauen (Annalena Baerbock, Melanie Brinkmann, Alena Buyx, Katharina Dröge, Kamala Harris, Ursula von der Leyen, Angela Merkel, Luisa Neubauer, Mona Neubaur, Anne Will usw.). Zudem kommen durchgehend Vokabeln und Formulierungen vor, die von Poschardt abgewertete Personenkreise als unmännlich oder impotent konnotieren; dies so oft, dass man hier von einer klaren Absicht ausgehen muss: z.B. »schlapper Hängerhedonismus« (87), »der steifste Teil der sonst eher schlaffen Existenz« (129); durchgehend ist die Rede von »Lauchen« und »NPCs« in Anlehnung an rechten Online-Jargon.
Der freie Mensch, die integrierte Persönlichkeit, ist für Poschardt ein Mann mit steifem Penis; oder wenn schon nicht, dann wenigstens eine Frau, die traditionell männlich konnotierte Eigenschaften zeigt wie Saga Norén aus der auch nicht mehr ganz taufrischen Serie »Die Brücke« (»Flirt ist Zeitverschwendung, Romantik Verblendung, Sex das wahre Ding«, 136). Dazu passt, dass der Kriegsdienstverweigerer Poschardt ausführlich Kittlers Fixierung aufs Militärische preist und einen auffälligen Kasernenhofton anschlägt (»Bauchschuss«, »Grabenkämpfe«, das Verb »operieren«). Das Spielerische der Sprache, das in Mündig das Lesen immerhin noch streckenweise zu einem absurden Vergnügen machen konnte, ist hier endgültig einem entfesselten und trostlosen Ressentiment gewichen.
Lieblose Legenden
An Shitbürgertum überrascht, wie lieblos gemacht und unstrukturiert es ist; aber andererseits auch, dass dennoch relativ klar ist, was Poschardt will. Die individualpsychologischen Ausführungen atmen vollständig einen Geist der 80er Jahre, der den Menschen durch Aneignung reprimierter psychischer Anteile, letztlich durch Transgression, Destruktion, »aktiven Nihilismus« (102) in eine Art fröhlich-wilde, polymorph perverse Anarcho-Integration der Seele hinein befreien möchte. Poschardt repräsentiert perfekt eine ganze Kohorte seiner Kollegen aus der »Generation X«, die heute vor den Trümmern einer ironisch-geschmäcklerischen Kultur (Segelschuhe, Popperkoffer, Foucault-Lektüre, Philippe-Starck-Zitronenpresse, Barolo, Monogrammsocken) stehen und zunehmend verzweifelt mit immer radikaleren und irrwitzigeren »Diskursbeiträgen« herumfuchteln.
In dieser Haltung scheint mir das Hauptproblem des Buchs zu liegen, wenn man versucht, die oben angedeuteten stinkenden Ecken zu ignorieren. Es ist dasselbe wie bei Mündig: Poschardt ist in gewisser Hinsicht unerschütterlich optimistisch; er ist sich sicher, dass nichts, was Trump, Musk, Milei oder auch die deutschen Rechtsextremen mit der AfD als ihrer politischen Dachorganisation anrichten können, relevante Schäden hinterlassen kann – genauso wenig wie etwa die Klimaveränderung.
Das moralische Kasperltheater angesichts der Wahlerfolge der AfD, eingeübt im Entsetzen über eine fragwürdig rapportierte Veranstaltung in Potsdam oder ein paar verstrahlte Yuppies auf Sylt, greift zunehmend ins Leere. Dem Land geht es zu schlecht für Postmaterialismus, die schamlose Weise, wie sich der sogenannte Elfenbeinturm selbst steuerfinanzierte Posten und Pöstchen besorgt, während es den Normalverdienern eher schlechter geht, delegitimiert den moralisch hohen Ton, wenn unter dem Vorwand, die Demokratie zu retten, vor allem die eigene Diskurshoheit und Macht gesichert werden soll. (128)
Hier scheint durch, dass Poschardt vermutlich nichts gegen eine durch die AfD beförderte Umwälzung der deutschen Gesellschaft hätte. Dabei soll der autoritäre Etatismus von Björn Höcke und Götz Kubitschek, den er energisch ablehnt (82, 144), zwar gerade nicht zum Zuge kommen. Wie das gehen soll, weiß er aber vermutlich nicht einmal selbst. Dass er bei seinen Lobeshymnen auf Trump und Musk den von Terror und Gewalt flankierten MAGA-Rechtsradikalismus an der Basis völlig auslässt, ist folgerichtig: Poschardt kann sich nicht im Geringsten vorstellen, dass die von ihm angefeuerte Zerstörung irgendetwas Erhaltenswürdiges treffen oder gar Menschenleben ernsthaft lädieren könnte. Diese Art von freischwebender und letztlich entrückter Radikalität erinnert sicherlich an die ihm so wichtige Popkultur der 80er Jahre – aber ebenso an die Intellektualität der 30er. Hoffen wir, dass er sich nicht irgendwann auch damit auseinandersetzen muss, einen Aufstieg des Nationalsozialismus mitbegünstigt zu haben.
Der Verfasser dankt Christoph Koch für die aufmerksame Lektüre und entscheidende Rückmeldungen.
* »Aber wäre Greta Thunberg, die Jeanne d’Arc der Umweltbewegung, als Italienerin genauso glaubwürdig wie als Schwedin? Würde eine Aktivistin aus dem ›Welschland‹ unsere Vorstellungen von Reinheit, moralischer Makellosigkeit genauso beflügeln wie jenes geschlechtsferne Wesen – fern jeder südlich-sündigen Erotik – aus dem skandinavischen Staat, der ja auch sonst gerne als Vorbild politischer Tugend empfohlen wird?«; Jessen, J. (2020), Der Deutsche: Fortpflanzung, Herdenleben, Revierverhalten, Springe: zu Klampen, 22.
**Die Klötze, aus denen der Schuljunge Heßling ein Kreuz baut, um seinen jüdischen Mitschüler zu demütigen, dienen nicht »zum Zeichen« (56), sondern »zum Zeichnen«.
***»Die erste Generation verdient Geld, die zweite verwaltet das Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends« (11). Nach Auskunft des renommierten Zitatrechercheurs Gerald Krieghofer ist dieses Zitat »auf Englisch entstanden und wird Bismarck erst seit ein paar Jahrzehnten untergeschoben«.
**** Unter undogmatischen Linken antideutscher und/oder anarchistischer Färbung gehören mehr oder minder schablonierte Erklärungen dieser Art, gerne mit Bezug auf Die Unfähigkeit zu trauern, Die Wiedergutwerdung der Deutschen usw., seit Jahrzehnten zum diskursiven Handwerkszeug. Auch sie gehen wie bei Poschardt regelhaft mit geschmäcklerischen Abwertungen des Lebensstils der Deutschen insgesamt einher. Die Parallelen reichen bis in die Themenwahl – Poschardts weitgehend treffende Tirade über die Verlogenheit, Anmaßung und Schuldumkehrung der Gruppe 47, unter der insbesondere Paul Celan zu leiden hatte (30ff.), erinnert mich an linke Texte aus den Nullerjahren.
***** Hier eine in ca. zwei Minuten ermittelte, nicht einmal annähernd vollständige Liste von Titeln: Esther Bockwyt, Woke; Susanne Schröter, Der neue Kulturkampf; Varnan Chandreswaran, Gefangen in der Opferrolle; Susan Neiman, Links ≠ woke; Pauline Voss, Generation Krokodilstränen; René Pfister, Ein falsches Wort; Vivek Ramaswamy, Woke, Inc.; John McWhorter, Woke Racism; Alexander Marguier et al., Die Wokeness-Illusion; Eva C. Schweitzer, Links blinken, rechts abbiegen; Richard Hanania, The Origins of Woke; Charles Gasparino, Go Woke, Go Broke; Logan Lancing, The Woke Warpath; Asra Q. Nomani, Woke Army; Edward Dutton et al., Woke Eugenics; Nikolaus Bettinger, Die Woke-Falle; Monika Gruber et al., Und erlöse uns von den Blöden; Carl Rhodes et al., Woker Kapitalismus.
Foto von Niklas Morberg (CC BY-SA 2.0)