von Robert Heinze
Viel wurde über Thilo Mischkes sexistisches Buch „In 80 Frauen um die Welt“ geschrieben und gesprochen, seit der 43jährige als neuer Moderator der Kultursendung „Titel Thesen Temperamente“ angekündigt wurde. Gegen diese Kritik wurde mehrfach das Argument vorgebracht, dass man ein 14 Jahre altes Buch nicht als den einzigen Maßstab für die lange Reporterkarriere von Mischke nehmen könne. Auch nach der Ankündigung der ARD, Mischke als Moderator zurückzuziehen, beklagten Verantwortliche und Journalist*innen, die Qualität seines sonstigen („preisgekrönten“) Werks sei von den Kritiker*innen übergangen worden. Diese Verteidigung unter Hinweis auf Mischkes – durchaus erfolgreiche – Karriere zeigt allerdings weitreichende Probleme mit einem Auslandsjournalismus auf, der sich für den globalen Süden nur als Ort von Leid, Krise und Entmenschlichung interessiert und dessen Regionen und Länder kaum als Gesellschaften mit eigener Geschichte, individuellen Personen und spezifischen politischen und sozialen Kräfteverhältnissen wahrnimmt.
Im globalen Süden nur Gewalt und Leid?
Nach seinen sexistischen (Reise-)reportagen im Gonzo-Stil wurde Mischke vor allem durch die Reihe „Uncovered“ bekannt, in der er laut Beschreibung an „Brennpunkte rund um den Globus“ geht und „in Schattenwelten“ eintaucht, das heißt vor allem von Elend und Gewalt berichtet. Die Dokumentationen der Reihe sind professionell produziert und gut recherchiert, aber tendenziell auf Sensation und Krawall gebürstet. Meist drehen sich die Episoden um extreme (kriminelle oder militärische) Gewalt oder Drogen – in Lateinamerika herrschen die Gangs, im Nahen Osten Terroristen, in Afrika Armut und Warlords. Auch Folgen, die Gelegenheit böten, tiefere Einblicke in fremde Kulturen zu ermöglichen, werden auf diese Weise geframed. Beispielsweise trägt ein Film über das Laamb, das senegalesische Wrestling, den Titel „Das Geschäft mit der Gewalt“ – „je brutaler die Kämpfe, umso voller die Stadien“, so die Sprecherin zu Beginn des Films. Ein in Westafrika verbreiteter Sport mit einer langen Tradition (die auch Musik und orale Literatur umfasst) wird so einzig auf „Gewalt“ reduziert. Die Filme fokussieren stark auf die Reporterpersönlichkeit Mischke, der sich mittenrein begibt, in gefährliche, von Banden beherrschte Stadtviertel, einsturzgefährdete Minen oder vom IS beherrschte Regionen.
Ungewöhnlich ist ein solcher Journalismus über den globalen Süden nicht, auch wenn die Reihe zum Extrem neigt. Aktivist*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen klagen schon lange über die teilweise unzulängliche Berichterstattung, die auf Krisen und Gewalt fokussiert, wenig lokal differenziert und nicht tiefgehend über vielfältige Gesellschaften dieses Teils der Welt berichtet. Eine neue Initiative brachte das Problem im Herbst 2024 wieder in die Öffentlichkeit. In dem Positionspapier „Die Übersehene Welt: Der globale Süden in den deutschsprachigen Medien“, angestoßen von einem Netzwerk von 40 Akteur*innen und Initiativen aus Medien, Wissenschaft und Zivilgesellschaft unter dem Dach der Deutschen Akademie für Fernsehen, wird bemängelt, dass der globale Süden in deutschen Medien quantitativ und qualitativ nur dann auftauche, „wenn Menschen oder Interessen des Globalen Nordens in irgendeiner Form direkt betroffen sind“. Der Kulturwissenschaftler Ladislaus Ludescher hat 2020 in einer großangelegten quantitativen Studie das weiterhin bestehende massive Ungleichgewicht in den Berichten deutscher Medien global aufgezeigt, und diese Studie in den folgenden Jahren weitergeführt.
Nun könnte man meinen, Mischke trage immerhin dazu bei, dieses quantitative Ungleichgewicht zu korrigieren. Aber das Problem, betont der Medienwissenschaftler Lutz Mükke, besteht auch in der Qualität der Berichterstattung: „Selbstbezüglichkeit und Orientierung an den Selbst-, Feind-, Mitleids- und Fremdbildern eigener Werteordnungen und an deren Vorstellungen über politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Vorgänge reichen für Wirklichkeitsentwürfe eines progressiven Auslandsjournalismus in der heutigen vernetzten und multipolaren Welt nicht mehr aus.“
Schablonenhafte Abziehbilder
Dieses Problem der Selbstbezüglichkeit westlicher Berichterstattung ist alt; es wurde bereits 1965 von dem Friedensforscher Johan Galtung und der Politikwissenschaftlerin Mari Holmboe Ruge in ihrer Studie zu den „Nachrichtenwerten“ europäischer Journalist*innen angeprangert . Ebenso alt, und gespeist aus unguten Quellen des kolonialen Rassismus und seiner entsprechenden Abenteuer- und Kolportageliteratur, sind Klischees über Länder des globalen Südens und die Menschen dort. Der kenianische Schriftsteller Binyavanga Wainaina fasste das 2005 satirisch in einem berühmten Text zusammen:
“Behandle Afrika in deinem Text, als wäre es ein einziges Land. Dort ist es heiß, staubig, mit hügeligen Graslandschaften und es gibt riesige Tierherden und große, dünne Menschen, die hungern. Oder es ist heiß und schwül und es gibt sehr kleine Menschen, die Primaten essen. Lass dich nicht von präzisen Beschreibugen aufhalten. […] Verbotene Themen sind: das alltägliche, häusliche Leben, Liebe unter Afrikanern (außer ein Todesfall spielt eine Rolle), Bezüge zu afrikanischen Schriftstellern und Intellektuellen, die Erwähnung von Kindern, die zur Schule gehen und nicht an Frambösie, Ebola oder genitaler Verstümmelung leiden.”
Wainaina erklärte, sein Text bezöge sich generell auf ein im Westen verbreitetes Genre, der tatsächliche Anlass war allerdings die Verleihung eines Preises an den langjährigen polnischen Afrika- und Lateinamerikakorrespondenten und gefeierten Reporter Ryszard Kapuściński. Für Wainaina stand Kapuściński beispielhaft für diese Sorte von Texten und war auch als gefeierter Auslandsreporter und Humanist eines der Vorbilder und der Ursprung dieser Form von Reportage, voll von Klischees über Gesellschaften des globalen Südens, die vor allem an schablonenhaften Abziehbildern und platten Allgemeinplätzen interessiert sei und wenig an individuellen Menschen oder konkreten, historisch gewachsenen sozialen Prozessen.
Der Reporter im Zentrum
In seinem Buch von 2022, „Alles muss raus“, zeigt sich Mischke als Kind dieses journalistischen Genres, verstärkt noch durch einen Gonzo-Journalismus in der Tradition von VICE und anderen, der die (männliche) Reporterpersönlichkeit ins Zentrum seiner Berichterstattung stellt. Während der Urvater des Gonzo-Journalismus, Hunter S. Thompson, diese Form von rabiatem Ego-Journalismus nur als Reporter innerhalb der USA selbst etablierte und beispielsweise über die Suche nach Glück in Las Vegas schrieb, konnte VICE sie ohne große Schwierigkeiten mit dem “Kriegsberichterstatter” verbinden, der längst ein ähnliches Selbstverständnis entwickelt hatte, sich aber stilistisch in Texten und Filmen noch nicht so sehr selbst ins Zentrum stellte. In Verbindung mit der Selbstzentrierung des Gonzo-Journalismus wurden die Gefahr und das Elend in den Kriegsgebieten des Globus für den Reporter nur die Folie, vor der er sich selbst bewährt, ihr stellvertretend ins Auge blickt, um der Welt kundzutun, was in den schlimmsten, extremsten, gewalttätigsten Orten der Welt geschieht. Die an diesen Orten Lebenden kommen kaum mit eigenen Stimmen vor, außer um zu bezeugen, wie groß die Gefahr und das Elend sind.
Laut Klappentext sei es Mischkes “offener Blick für Menschen und ihre Geschichten, ja ein unersättlicher Hunger auf Lebenserfahrung“, der ihn um die Welt treibe. Er widme sich in “Alles muss raus” „den ganz großen Themen: der Liebe, dem Altwerden, der Religion, der Familie, dem Tod, den Drogen, der Freundschaft.“ In den Texten klingt das unter anderem so: „Liebe, so wie wir sie kennen, ist ein Luxus der Industrienationen. […] Wir haben nicht nur die Würde, nicht nur die Rohstoffe, die Leben aus Afrika, Südamerika, Asien gezogen, wir haben den Menschen die Fähigkeit zu lieben genommen. […] Was ist die große nigerianische Liebesgeschichte des 21. Jahrhunderts?“ Eine besonders absurde Feststellung, zumal einfaches Googeln hätte zeigen können, dass es gerade in Nigeria eine boomende Romance-Literatur gibt und Nollywood natürlich Liebesfilme am laufenden Band produziert, die im ganzen Kontinent populär sind. Das Buch ist voll von solchen Behauptungen, unterfüttert durch keinerlei Recherche, aber viel eigene Erfahrung eines Journalisten, der sich brüstet, in sieben Monaten 20.000 Flugkilometer zurückgelegt und insgesamt über hundert Länder bereist zu haben. Die Menge an Reisen allein scheint ausreichend, um pauschale Behauptungen über die Mehrheit der Welt zu äußern. Ob er sich in Mogadischu, Kabul oder El Salvador befindet, ist aber letztlich egal: um Mischke ist nur Tod und Elend, niemand lächelt, in El Salvador zwitschern nicht einmal die Vögel. Die Begleitung eines Forensikers und eines Vaters, der nach dem Ort sucht, wo sein ermordeter Sohn begraben ist, ist für Mischke nicht etwa Anlass, über die Gründe für die Gewalt nachzudenken oder den Vater (der in der entsprechenden „Uncovered“-Folge kurz interviewt wurde) und den Sohn genauer zu portraitieren – etwa im Buch Material zu präsentieren, das es nicht mehr in die Episode der Doku-Reihe schaffte – sondern für lange Reflektionen darüber, wie es ihm selbst ging, als seine Großmutter starb.
Zu viel und zu wenig
Wie Binyawanga Wainainas Satire zeigt, ist Mischke dabei bei Weitem kein Einzelfall. Die spezielle Form der Gonzo-Krisenreportage ist in weniger sensationalistisch aufbereiteten Medien zwar zurückgeschraubt. Aber ein Fokus auf Kriege, Krisen, Armut und Elend ist allgegenwärtig: ein Blick auf den globalen Süden in der Tradition der von “Band Aid” besungenen mitleidig-herablassenden Klage “Do They Know it’s Christmas?”. Dass beispielsweise in Afrika im letzten Jahr (2024) in 19 Ländern erfolgreich Wahlen abgehalten wurden, die meisten davon auch bei Machtverlust regierender Parteien friedlich, wurde in Deutschland kaum berichtet, im Gegensatz zu dem einen Land – Mosambik – in dem Unregelmäßigkeiten bei der Wahl zu Protesten und Gewalt führten.
Das Problem an der Auslandsberichterstattung über den globalen Süden ist zweigeteilt und paradox: Auf der einen Seiten gibt es zu wenig Berichte über einige der weltweit größten Krisen (wie die Bürgerkriege in Äthiopien und Sudan, die Hungersnot im Jemen oder die Verschärfung des globalen Hungerproblems während der Coronapandemie). Gleichzeitig zeigt sich auf der anderen Seite ein zu starker Fokus auf Gewalt und Elend auf Kosten ausführlicher Reportagen über den Alltag in nichtwestlichen Gesellschaften, über die Menschen und ihren Zusammenhalt, ihre Beziehungen, ihre Lieben und ihr Leben. Das hat auch ganz konkrete Auswirkungen auf die Menschen im globalen Süden. Wenn Mischke in einer Folge „Uncovered“ im Ostkongo nach ausgebeuteten Minenarbeitern, Kinderarbeit, vergewaltigten Arbeiterinnen und conflict minerals sucht, befindet er sich im Einklang mit der sonstigen Berichterstattung und Berichten vieler NGOs. Bei sogenannten conflict minerals handelt es sich um Rohstoffe aus Krisengebieten, deren Abbau und Handel oft mit Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Korruption verbunden sind. Allerdings beklagen Vertreter*innen der communities in der Region und Wissenschaftler*innen schon seit Längerem, dass das „conflict minerals“-Narrativ so nicht mehr zutrifft. Stattdessen führt diese Erzählung dazu, dass Menschen, die oft informelle Minen in Gemeinschaft betreiben, Schwierigkeiten haben, bessere Preise für die geförderten Mineralien zu erlangen und damit einen Weg aus der Armut zu finden. Mischke wischt in einem Nebensatz beiseite, dass eine Goldmine, deren Gefährlichkeit er gerade noch betonte, von einer Kooperative bewirtschaftet wird („immerhin“) und begibt sich weiter auf die Suche nach möglichst drastischen Beispielen der Gewalt und des Elends, statt die Komplexitäten einer Gegend, in der tatsächlich „militärische Gewalt durch strukturelle Gewalt “ ersetzt wurde, zu erkunden.
Was es bräuchte
Was es statt solcher sensationsheischender Reportagen braucht, ist einerseits eine quantitative Repräsentation, die der Größe des globalen Südens entspricht, vor allem aber auch eine angemessene Repräsentation der Perspektiven aus diesen Regionen der Welt, ein Bewusstsein dafür, dass die Geschehnisse dort viel mehr mit „uns“ im globalen Norden zu tun haben, als wir das oft wahrnehmen. Es braucht dafür nicht einmal ein aufwendiges Korrespondent*innennetz (auch wenn das existierende durchaus ausgebaut werden sollte), es würde schon reichen, mehr Journalist*innen aus den jeweiligen Ländern zu befragen, ihnen Platz in deutschen Medien zu geben, oder ihre Berichte zu lesen, die sie in Medien des globalen Südens wie „Al Jazeera“ oder „The Continent“ veröffentlichen. Die Auslandsberichterstattung der BBC oder des französischen staatlichen Radios, besonders France Inter, könnte in Deutschland als Vorbild dienen, ebenso eigens dem globalen Süden gewidmete Redaktionen wie „Le Monde Afrique“.Es gibt auch in Deutschland Gegentendenzen und in Nischen weiterhin guten Journalismus aus dem globalen Süden. Die Monatszeitung „Le Monde Diplomatique“, der internationale Dienst der „Deutschen Welle“ oder einzelne journalistische Initiativen im deutschsprachigen Raum wie die deutschen „Riffreporter“ oder das schweizerische, auf kritische NGO-Berichterstattung und corporate responsibility fokussierte „Public Eye “ zeigen, wie guter, kritischer Journalismus über und aus dem globalen Süden gehen kann: mit Zeit für Recherche, fundierter Kenntnis lokaler Kontexte und Einbezug lokaler Journalist*innen. Auf Englisch bietet die aus Südafrika betriebene Internetzeitung „The Continent“, die umsonst über Signal und WhatsApp abonniert werden kann, Berichte afrikanischer Journalist*innen aus dem ganzen Kontinent. Eine Kultursendung wie „ttt“ wäre eigentlich ein gut geeigneter Ort, die Problematik eines solchen, von Schriftstellern wie Wainaina schon lange kritisierten, Elendsjournalismus zu diskutieren und Intellektuelle und Künstler*innen aus dem globalen Süden zu Wort kommen zu lassen, um dieses Bild zu korrigieren – das scheinen die Verantwortlichen ebensowenig bedacht zu haben wie den Sexismus, der sich durch Mischkes Äußerungen zieht. Das Problem selbst ist allerdings ein altes und weiterhin in deutschen Medien verbreitetes.
Foto von Carlin Trezil auf Unsplash