Ein Komposthaufen nicht ganz für sich allein / Just a room of one’s own?

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein Komposthaufen nicht ganz für sich allein

von Verónica Gerber Bicecci (übersetzt von Monika Lübcke)

 

Ich stieg mit einem Eimer Biomüll auf meine Dachterrasse und öffnete den Komposter, um mir die Entwicklung der Rotte in seinem Innern anzuschauen. Es war das Ende des Sommers und hatte viel geregnet; die Mischung lief Gefahr zu feucht zu werden und zu verderben. Die sechs Regenmonate in Mexiko-Stadt bringen mich immer wieder auf die gleichen Gedanken: Diese Stadt war einmal ein See, ich bin in der Nähe eines Flusses groß geworden, der in ein Rohr geleitet wurde, und das einzige Süßwasser in meiner Nähe (abgesehen von den Brunnen in den Parks der Umgebung) ist in den künstlich angelegten Seen von Chapultepec.

Verónica Gerber Bicecci (©Adrián Duchateau)

Wie jedes Ökosystem sind diese beiden Seen natürliche Kompostieranlagen, aber bei uns dienen sie auch als Abladeplatz für anorganischen Müll. Bei den Baggerarbeiten im Rahmen des Masterplan zur Rettung des Chapultepec-Parks 2005 wurden 42.911 Gegenstände gefunden, die Spaziergänger weggeworfen hatten; einige stammten bereits aus der Zeit, als Porfirio Días die Seen nach dem Vorbild des Bois de Boulogne in Paris in Auftrag gegeben hatte. Obwohl das Ley Federal sobre Monumentos y Zonas Arqueológicas (Bundesgesetz zum Schutz von Denkmälern und archäologischen Stätten) sie nicht als solche ansieht, hat die Archäologin Guadalupe Espinosa in ihrer Forschungsarbeit „Archäologie des Mülls“ all diese Artefakte als Teil unseres modernen kulturellen Erbes klassifiziert und beschrieben.

  • 350 zerschnittene, mit Schnur präparierte PET-Flaschen zum Angeln,
  • 069 Pappbecher, Strohhalme, Besteckteile, Plastikdeckel und -behälter,
  • 047 Tüten, Verpackungsmaterialien und Aufkleber,
  • 350 Dosen, Draht, Stangen, Pinzetten und andere Metallgegenstände,
  • 057 Sweater, Mützen, Blusen, Hemden, BHs und andere Kleidungsstücke,
  • 760 Mayonnaisegläser, Parfümfläschchen, Soßenflaschen, Salzstreuer und andere Glasbehälter,
  • 366 ganze Flaschen,
  • 349 Dreiräder, Roller, Spielzeugautos, Puppen und andere Spielsachen,
  • 638 Schuhe,
  • 594 Scherben von Tellern, Blumenvasen und anderer Keramik,
  • 359 Münzen,
  • 248 Orangenschalen, Enten-, Hunde- und Hähnchenknochen und anderes organisches Material,
  • 223 Fischnetze,
  • 181 Sonnenbrillen und Brillengestelle,
  • 123 Lippenstifte, Wimperntusche, Puder und andere Kosmetikprodukte,
  • 79 Kreuze, Medaillen, Uhren und verschiedener Modeschmuck,
  • 47 Autoreifen,
  • 33 Ausweise, Kreditkarten, Heiligenbildchen und anderes,
  • 27 Walkmans, Handys, Brieftaschen (manchmal mit Geld), Regenschirme, Glühbirnen,
  • 7 Glücksbringer, Liebesamulette und andere Fetische,
  • 2 Windelreste und
  • 2 Kugeln aus rotem Tuffstein, charakteristisch für die aztekische Epoche.

 

Anscheinend waren unter den 3.047 Verpackungsmaterialien Umschläge mit Werbezettel für Hamburger und für den Freizeitpark Feria de Chapultepec. Da hatte wohl einer keine Lust zum Verteilen gehabt (für einen Hungerlohn stundenlang in der Sonne stehen von allen Leuten schief angesehen) und die Flyer in den See flattern lassen, kommentierte die Archäologin den Fund. Ich stellte mir die Flyer vor und fragte mich, ob diese Werbung die Art von Literatur sei, die uns überleben wird, das, was auch nach dem sechsten Massenaussterben noch da sein würde. Oder ob die nachkommenden Zivilisationen einmal die unversehrte Coca-Cola-Flasche, noch verschlossen mit der Originalflüssigkeit, als unser bildhauerisches und gastronomisches Erbe ansehen werden.

Und dann bewegte sich etwas in der Erde. Ein noch ganz kleiner Wurm, sicher aus einem Ei geschlüpft, das eine der vielen Ameisen, die im Kompost arbeiteten, herbeigetragen hatte. Das versüßte mir den Morgen. Die Ankunft der Würmer war ein gutes Zeichen: beim Aushöhlen und Tunnelgraben nehmen sie organisches Material zu sich und verwandeln es in Nährstoffe; sie sind natürliche Produzenten von Dünger, der zur Regenerierung von verschmutzten und kontaminierten Böden beitragen kann.

Der winzige rosafarbene Wurm erinnerte mich an einen Satz von Virginia Woolf in Ein Zimmer für sich allein: Unter dem männlichen Blick sind wir Frauen ein „sonderbares Monstrum“, das entsteht, „wenn man zuerst die Historiker und dann die Dichter“ liest: „ein Wurm mit Adlerflügeln; der Geist des Lebens und der Schönheit in einer Küche eingesperrt, Speck schneidend.“

Das Bild ist leider richtig; und auch abwertend und grotesk. Aber genau da, zwischen Regenwurm, dem archäologischen Müll des künstlichen Sees, den Worten von Woolf und den Essensresten der vergangenen Woche, fiel mir ein, dass vielleicht der Komposthaufen die Art von Zimmer ist, den das Schreiben heute braucht. Denn ich hatte das Bedürfnis, dieses Porträt des Weiblichen neu zu fassen; ich musste es dringend kompostieren mit:

2 Fragmenten aus dem Manifiesto ferviente (Fervent Manifest) von Mercedes Villalba: „Lernen wir, wie Sprite fermentiert wird, hören wir auf die Stimmen, die die Grenzen unseres Körpers herausfordern. Machen wir sie zu unserer Familie“ und „nicht nur die Toten sind unruhig, auch die Erde um sie herum.“;

1 minimalen Anweisung aus „Camilles Geschichten“[1] von Donna Haraway: „lernen in Symbiose zu leben mit …“;

1 Gemälde von Remedios Varo, Der Landarbeiter, worauf eine Figur zu sehen ist, aus deren Glatze durch eine bergähnliche Maske-Mütze hindurch eine Pflanze sprießt und

Avocadoschalen, Banane und Teebeutel.

Wenn das Bild der Frau als Wurm mit Adlerflügeln aus dieser Zersetzung entsteht, könnte ich mich darin wiedererkennen. Nicht mehr als unsichtbar gemachte, groteske oder apokalyptische Figur, sondern als ein Wesen, das sich diesen so oft verlorenen Körper wieder angeeignet hat, diesen Körper, von dem wir so oft entfremdet wurden und der „sein Leben aus den Leben der unbekannten Vorgängerinnen“ schöpft, wie Woolf weiter schreibt. Schreiben (und bei Schreiben beziehe ich mich immer auf Bilder, Texte und andere Kommunikationsformen) braucht ein Zimmer zum Keimen: einen Kasten mit Löchern, der fähig ist, Leben zu generieren, ein anderes Leben; eines, das achtsam mit Sprachkonfigurationen umgeht, sie lebendig hält und die Toxizität oder Energie der nicht mehr relevanten umwandelt.

Ein Zimmer, nicht mehr ganz für sich allein, denn weitere Arten, Stimmen, Formen und Gegenstände werden herbeigerufen und sich zu einer kollektiven Existenz zusammentun, in der Namen verschwimmen und man nicht mehr so genau wissen wird, welches die Schale von wem war und welches die Idee von wem und wer der verdauliche Rest von was.

[1] Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Aus dem Englischen von Karin Harrasser. Frankfurt(Main)/New York, 2018.

 

Just a room of one’s own?

von Inger-Maria Mahlke

 

Mein „Kunst ist zweckfrei!“-Dogma klingt in der momentanen Weltsituation selbst für mich nach Eskapismus. Dennoch hänge ich mich im Kontext Literatur an dem Wort Zweck auf wie ein Windows 10 PC nach dem Update. Mein Problem kann ich leider nicht poetisch, sondern nur anhand der im Duden aufgeführten zweifachen Bedeutungen des Wortes Zweck erläutern. Danach ist Zweck einmal das, was jemand mit einer Handlung beabsichtigt, zu bewirken, zu erreichen sucht. In der anderen Bedeutung ist Zweck der in einem Sachverhalt oder Vorgang oder Ähnlichem verborgene, erkennbare Sinn desselben. Ich glaube, dass bei den drei Bezugspunkten Autor – Text – Öffentlichkeit/Rezeption die erste Definition des Zwecks auf die Beziehung Text – Autor anwendbar ist, die zweite Bedeutung auf die Konstellation Text – Rezeption, und die Probleme beginnen, wenn Deckungsgleichheit zwischen den unterschiedlichen Bedeutungen und Konstellationen angenommen wird.

In der ersten Variante beschreibt Zweck eine um-zu-Beziehung, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: Ich schreibe einen Text, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, ich schreibe einen Text, um den idealisierten Lebensstil Künstler für mich vereinnahmen zu können. Es gibt das künstlerische Um-zu, die Idee von etwas und den dazugehörigen Gestaltungswillen. Etwas unappetitlicher ist das psychologische Um-zu, Text schreiben hat mit eigenem Erleben / Biografie / sich-an-irgendetwas-Abarbeiten zu tun. All das ist höchstpersönlich, individuell verschieden und geht niemanden was an, denn für die Rezeption des Textes ist es in der Regel irrelevant.

Inger-Maria Mahlke (©Dagmar Morath)

Bei der zweiten Konstellation, Text – Öffentlichkeit, nimmt Zweck die Bedeutung eines von außen in etwas (Text) erkannten Sinnes an. Ein Zuschreibungsprozess, der wie alle Zuschreibungsprozesse mehr über die Zuschreibenden aussagt als über das Objekt der Zuschreibung. Jemand schreibt z.B. ein Buch über seine Heimatstadt, um ein als narzisstische Kränkung empfundenes Scheitern im dortigen Schul- und Gesellschaftssystem zu überwinden, indem er diejenigen Bekannten herabsetzt, die erfolgreicher waren und von denen er sich gedemütigt fühlt. Damit die Herabgesetzten auch darum wissen, versieht er die Figuren mit Eigenschaften, die die Vorbilder identifizierbar machen, zum Teil unter Verwendung antisemitischer Stereotype. Er nennt das Ganze Die Buddenbrooks, rezipiert wird das Buch als Konflikt künstlerische Existenz versus Bürgertum oder Vormoderne versus Moderne. Diese Lesart der Buddenbrooks beruht dennoch nicht auf einem „Missverständnis“. Auch wenn Thomas Manns Um-zu ein „Gibberroman“ war, seine Kindheit erlebte er vor dem Hintergrund eines durch Handel und mittelalterliche Strukturen geprägten Stadtstaates, dessen Weg in die Moderne sich unter besonders theatralischem Weltuntergangsgeschrei genau der Schicht, der die Familie Mann angehörte, vollzog. Diese Lebensrealität des Autors ist, ganz ohne ein Um-zu, als Nebeneffekt in dem Text enthalten.

Die Öffentlichkeit verwandelt sich den Text an, deutet ihn ihren Bedürfnissen entsprechend, dieser Prozess folgt Regeln und ist bedingt durch Kontexte, die nichtliterarischer Natur sind. Ein Buch löst eine gesellschaftliche Diskussion nicht aus, sondern bereits vorhandene Konflikte / Strömungen / Einstellungen suchen sich Texte, anhand derer sie ihre Anliegen diskutieren können. Texte sind Sprechhilfen, aber nicht ursächlich für ein Sprechen. (z.B. Aramburu „Patria“: vor Entwaffnung der ETA wäre ein Sprechen anhand dieses Textes so nicht möglich gewesen.)

Schwierig wird es, wenn eine Identität zwischen dem Um-zu des Autors und dem Zuschreibungsprozess unterstellt wird. Noch schwieriger wird es, wenn dieser gefordert wird, also das Um-zu des Autors einen bestimmten Zuschreibungsprozess und ein bestimmtes Sprechen auslösen soll/will. Als Beispiel mag die furchtbar gut gemeinte und furchtbar schlecht geschriebene, politisch-didaktische Literatur der 70er herhalten. Kurzer polemischer Exkurs: Das ist übrigens genau das Problem an der Forderung nach DEM politischen Buch an die heutige Autorengeneration. In der Regel ist damit das politisch wirksame, sprechauslösende Buch gemeint, welches in zweifacher Hinsicht ein Wunder bewirken soll: einmal DAS gesellschaftliche Problem so perfekt zu analysieren und das Analyseergebnis so perfekt zu kommunizieren, dass die Gesellschaft ihre Einstellungen ändert, sie fähig wird, ihr Verhalten zu modifizieren und so DAS Problem löst. Gleichzeitig stellt es dadurch die gesellschaftliche Relevanz der Literatur wieder her und rettet die Buchbranche. Das kollektive Gefühl, die Gebrauchsanleitung für die Welt verloren zu haben, als Chance für die Kunst. Das ist zynisch.

Was heißt das mit Bezug auf heute, z.B. die Corona-Pandemie? Im Guardian wirft Laura Spinney[1] die Frage auf, wieso die Grippe-Epidemie von 1918 sich nicht in literarischen Werken niedergeschlagen hat, der Kanon der Weltliteratur keinen Influenza-Roman enthält, trotz persönlicher Betroffenheit eines Teils der „üblichen Verdächtigen“ unter den Autoren. Und ob ein literarischer anderer Umgang mit Corona zu erwarten ist? Sie bejaht es, ich wäre vorsichtig.

Erstmal sei angemerkt, dass die Influenza 1918 sehr wohl zahlreich in literarischen Texten erwähnt wird, meist nur als Tatsache (X ist an Influenza erkrankt), in einem Nebensatz. (Selten auch als Plot Twist in der Unterhaltungsliteratur, Love Interest stirbt an Influenza z.B. Agatha Christie.)[2] Selbst der Nebeneffekt des Durchschlagens der Lebensrealität der Autoren in die Texte ist bei der Influenza ausgeblieben. Ich würde vermuten, weil die Epidemie durch die Erfahrung des 1. Weltkrieges überlagert wurde und nach ihrem Abebben das Alltagsleben nicht nachhaltig verändert hat. Das entscheidende Gestaltungskriterium literarischer Texte bleibt ästhetischer Natur, (das künstlerische Um-zu des Autors), eine literarische Verarbeitung von Krankheiten hängt davon ab, welche Funktion sie im Textgefüge einnehmen würde, von ihrem metaphorischen Gehalt. Die vielbearbeiteten Krankheiten bieten in der Hinsicht etwas, Syphilis (deviantes Verhalten und Moral), Krebs (unsichtbare Zerstörung von Innen/ungebremstes Wachstum), Tuberkulose (Auszehrung/Vergänglichkeit), Malaria (Fieber/Entgrenzung) etc. Die Influenza als Metapher? Nicht wirklich. Und Corona? Die Krankheit, die Distanz erzwingt?

Es wird Bücher geben, die Veränderungen (Leben im Lockdown etc.) thematisieren werden, da es aber eine kollektiv verhältnismäßig ähnliche Erfahrung ist, vermute ich, es werden wenige sein. (30 000 Covidioten sind keine gesellschaftliche Strömung, auch wenn sie laut sind.) Und der Nebeneffekt? Hängt von außerliterarischen Kriterien ab, nämlich davon, wie langanhaltend unser Alltag verändert wird. Aber am Ende des Textes bin ich jetzt ungefähr wieder da, wo ich angefangen habe, nämlich bei der Kunst um der Kunst willen.

[1] https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/aug/07/covid-novels-warning-future-generations-first-world-war-spanish-flu-1918

[2] Wen es interessiert: „The spanish flu and the fiction literature“, Emma Vasquez Espinosa u.a. 2020

 

In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.

 

Photo by C D-X on Unsplash

 

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