von Natalia Sadovnik
So lebe ich: als Affe unter Affen
echt kummergebrandmarkt, mit sündiger Stirn,
schleudre ich mich gegen steinharte Wände,
bin ihr Sklave, Sklave, niedrigster Knecht.
Mit gewichtstrunkenen Schritten und firm
paradieren indes die Affen und tun so behände. (Wassyl Stus)
Deutsche Talkshow-Gäste dürfte das besonders freuen: Um die Hintergründe des russischen Krieges gegen die Ukraine zu verstehen, müssten sie nicht einmal Deutschland verlassen. Beginnen können wir in Bad Ems, wo der russische Zar Alexander II einst seinen Spa-Urlaub verbrachte. Die Gedenktafel am Haus der Vier Türme erinnert immer noch an seinen Emser Erlass von 1876, der Bücher, Theaterstücke und Konzerte auf Ukrainisch verbot. Dreizehn Jahre zuvor hatte der Innenminister Pjotr Walujew Ukrainisch bereits aus wissenschaftlichen und religiösen Schriften im Russischen Kaiserreich verbannt. Es war nicht das erste Mal: Bereits Peter der Große hatte das Ukrainische in mehreren Druckereien untersagt, eine ähnliche Sprachpolitik verfolgte auch seine Tochter Ekaterina.
Diese Sprache, dieses Volk, kann und darf es nicht geben, verkündete auch Walujew – etwas, was die Ukrainerïnnen im Laufe der Geschichte noch oft zu hören bekamen. Wer wie Taras Schewtschenko, zuweilen als ukrainischer Goethe etikettiert, doch gerne mal auf Ukrainisch dichtete, wurde oftmals ins Exil geschickt und mit Schreibverboten mundtot gemacht.
Sieht man sich die Ergebnisse der Volkszählung von 1897 an, mag man sich den Ärger der russischen Führung kaum vorstellen. Die zeigen nämlich, dass in den Gouvernements Charkiw, Kyïw oder etwa Cherson überwiegend Ukrainisch gesprochen wurde, genau wie in den Gebieten um Odessa. Kleine, aber symbolträchtige Randnotiz: Im selben Jahr wurde der Herausgeber des ersten großen ukrainisch-russischen Lexikons Boris Grintschenko, der aus Charkiw stammte, aus der Schule geschmissen – fürs Lesen „verbotener ukrainischer Literatur.“ Ukrainisch unterrichten zu dürfen, dafür setzte er sich viele Jahre später ein, bis er schließlich das Land verließ.
Viele wird überraschen: Auch im Donbass lebten vor hundert Jahren überwiegend Ukrainerïnnen, auch wenn sie damals „Kleinrussen“ genannt wurden. Das zeigt der Zensus der Sowjetunion von 1926. In der Oblast Donezk war die Bevölkerung größtenteils ukrainisch, der Bachmut-Kreis war nahezu komplett ukrainischsprachig, die Sloboda-Ukraine war ein Sammelbecken der ukrainischen Intelligenz. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Ukrainisch im Osten und im Zentrum der Ukraine nach und nach zurückgedrängt. Zum einen, weil hunderttausende Russen für die Arbeit in den neuen Fabriken und Bergwerken dort angesiedelt wurden. Zum anderen durch eine rigorose Sprachpolitik: Auf der Arbeit war Russisch Pflicht.
Die ukrainische Sprache blühte kurz in den zwanziger Jahren auf, als die Bolschewiken die Minderheitensprachen förderten, um sich ihre Unterstützung bei der gemeinsamen sowjetischen Sache zu sichern. Die Schulen stiegen auf Ukrainisch um, die Alphabetisierung stieg, unzählige Wörterbücher erschienen, Literaturzeitschriften sprossen aus dem Boden. Eine Rechtschreibreform wurde in Charkiw verabschiedet, die die ganze Ukraine unter einer einheitlichen Orthografie zu vereinen suchte und über die lange und gründlich debattiert wurde.
Die goldenen Zwanziger, die gab es also auch in der Ukraine. Sie zeigen, was aus der ukrainischen Literatur hätte werden können – was den Ukrainerïnnen genommen wurde. Denn bald war das Ganze auch wieder zu Ende: Die Ukrainisierung beerdigt, die Rechtschreibreform für „nationalistisch“ erklärt und abgeschafft. Die „rote Renaissance“ – die gesamte ukrainische Moderne, ihre Dichterïnnen und Kulturtragenden – kennen wir heute nur noch als „die erschossene Renaissance“. Etwa 260 ukrainische Schriftstellerïnnen und Künstlerïnnen wurden 1937 im karelischen Waldgebiet Sandarmoch hingerichtet. Unter ihnen auch Walerjan Pidmohylnyj. Sein vor kurzem auf Deutsch erschienener Kyïw-Roman „Die Stadt“ ist auch eine Geschichte dieser kurzen Ukrainisierung.
Wer nicht erschossen wurde, floh oder wurde in den Gulag gebracht.
Unter den Verfolgten sind nicht umsonst oft die Herausgeberïnnen ukrainischer Wörterbücher zu finden, bemühten sie sich doch um die Festschreibung der authentischen ukrainischen Sprache. Die Wörterbücher können auch heute noch viel erzählen. In der Sowjetzeit wurde unter dem Deckmantel der „Annäherung“ das Ukrainische gründlich zurechtgebügelt, viele Begriffe gestrichen, russifiziert oder mit dem Vermerk „Dialekt“ versehen. Ukrainische Suffixe wie -ovi wurden abgeschafft, die Wörter an das Russische angeglichen. Oft war das eine recht stümperhafte Sache: Russifizierte Begriffe wie etwa „kladowshik“ (Lagerhalter) klangen oftmals fremd für das ukrainische Ohr. Auch die Änderung von Pathos in Pafos, von Atheny in Afiny fiel einigen nicht leicht, denn die Ukrainerïnnen hatten ihre Schwierigkeiten bei der Aussprache von F, weshalb aus einem Fylyp, also Philip, im Ukrainischen ein Pylyp wurde. Die „russisch-russischen“ Wörterbücher sind noch heute im Umlauf und verunstalten so manchen ahnungslosen Studentïnnen die Hausarbeiten.
Während die Ukrainerïnnen nach und nach russifiziert wurden, kauften viele von ihnen den Russen auch den Mythos der großen „Brudernation“ ab. Ich bin kurz vor dem Untergang der Sowjetunion geboren. Meine Kindheit verbrachte ich im Odessa der 90er Jahre. Auch nach der Unabhängigkeit hörte ich Ukrainisch nicht einmal außerhalb des Schulunterrichts, wo es ein Randfach war. Die Sprache galt als Bauern-Kauderwelsch, auch weil sie in den Dörfern weniger stark verdrängt wurde. Seit Taras Schewtschenkos „Kobsar“ 1840 erschien und „bei allem Talent“ für die „bäuerliche“ ukrainische Sprache kritisiert wurde, hat sich anscheinend wenig verändert.
Die meisten Odessiten, auch ich, schauten russisches Staatsfernsehen, lasen russische Bücher, verstanden sich selbst irgendwie auch als Russen, selbst wenn in ihren Geburtsurkunden etwas anderes stand. Ein Satz fiel oft: „Chto, my ne russkie?“ – sind wir etwa keine Russen? – gesprochen mit einer symptomatischen Mischung aus Kränkung und Stolz. Hier finden sich wohl die Wurzeln der sogenannten Volksrepubliken von 2014, bei denen anti-ukrainische Propaganda die entscheidende Rolle spielte. Während ich aus Deutschland mit wachsender Befremdung zuschaute (und bald ausmachte), blieben sie dran. Glaubten, was gesagt wurde. Und griffen zu den Waffen.
Als Kind wunderte ich mich nicht, dass ich die Sprache meiner Heimat nicht anständig sprechen konnte. Die Einzelheiten der ukrainischen Sprachenfrage blieben mir, wie vielen Ukrainerïnnen, Deutschen und Russïnnen, lange Zeit völlig unbekannt. Wie zum Beispiel auch, dass Lehrkräfte belohnt wurden, wenn sie Russisch unterrichteten, mit einem höheren Stipendium im Studium oder einem 15-Prozent-Gehaltsbonus – den es für Ukrainisch natürlich nicht gab.
Erst im neuen Millennium wurde auf Ukrainisch unterrichtet. Erst war die Aufregung groß, aber die meisten gewöhnten sich schnell daran – schließlich verloren sie nichts und nichts wurde verboten. Russisch wurde weiterhin unterrichtet, in Odessa spricht man es nach wie vor. Einige, die früher über „das Bauernkauderwelsch“ schimpften, wechseln jedoch seit dem Krieg öfter oder sogar komplett ins Ukrainische – weil sie Russisch nur noch mit Gewalt, Zerstörung und Unmenschlichkeit verbinden. Bitter für alle, die mit Tschechow, Puschkin und Tolstoj aufgewachsen sind. Und verständlich, angesichts der immer noch häufigen Frage, ob Ukrainisch denn wirklich eine echte Sprache sei.
Die russische Regierung ist jedenfalls ganz traditionell vom Gegenteil überzeugt. Ihren Anti-Ukrainismus tolerieren erstaunlich viele Menschen, die sich ansonsten als liberal bezeichnen. Unter anderem, weil Russland die Nazis besiegte. Als hätten die Ukrainerïnnen, zusammen mit vielen anderen Völkern, nicht ebenfalls gekämpft und immense Zerstörung im eigenen Land erfahren. Selbst aus dieser Erzählung wird dieses Volk immer noch oft ausradiert. Genau wie die Belarussen, deren Sprache dem Ukrainischen auch in puncto Unterdrückung ziemlich ähnelt.
Als die Sowjetunion zusammenbrach, waren die Hoffnungen groß und die Enttäuschungen größer. Im Fernsehen schimpften die Menschen offen über ihre Regierungen. Der lange im Keim erstickte Sex strömte aus jeder medialen Ritze. Auf den Straßen wurde geschossen. Einige wurden steinreich über Nacht, andere bekamen monatelang keine Gehälter ausgezahlt. Irgendwo hier tat sich ein Graben auf: In der Ukraine war man zum ersten Mal frei. In Russland sah man sich gedemütigt – das Imperium in Scherben, die Großmacht futsch.
Mit Misstrauen sahen die Menschen sowjetischer Prägung, auch im eigenen Lande, auf die ukrainischen Politikerïnnen herab, die sich gerne mal gegenseitig die Schnauzen polierten. Mit Abscheu spotteten sie über unseren tollpatschigen Pluralismus. Der jedoch ein Gutes hatte: keine Machtkonzentration in einer Hand, in einer Behörde. Die Politik war genauso korrupt, die Züge fuhren unpünktlich, die Straßen waren tragisch – aber wenn genug genug war, gingen die Ukrainerïnnen raus. Auch das fanden viele nicht gut. Was sich dieses Volk eigentlich einbilde, wollten die einen wissen. Wer sie bezahlt habe, schnaubten die anderen. Der Hass wurde stärker, befeuert vom russischen Staatsfernsehen.
Während die russische Regierung mit ihren „Schwulenpropaganda“-Gesetzen, Zensur und politischen Gefangenen das Land zielsicher in Richtung Faschismus führte, übte sich die Ukraine immer weiter in Freiheit. Erst zweimal auf dem Kyïwer Maidan – und nun auf dem Schlachtfeld. Dieser Paranoia-Krieg wird oft sinnlos genannt, aber natürlich hat jeder Krieg irgendeinen Sinn: Wer seinen eigenen Bürgerïnnen Freiheiten wegnimmt, für den sind freie Nachbarn gefährlich. Besonders solche, die es trotz Unterdrückung irgendwie schaffen, als Nation gestärkt herauszukommen.
Vor diesem Hintergrund wundert es weniger, dass Ukrainisch erstmal die einzige Amtssprache der Ukraine bleibt – auch wenn so gut wie alle Russisch sprechen und die Mischung der beiden Sprachen zur ukrainischen Normalität gehört, ob in den Straßen, in den Ehen oder in Talkshows. Oder dass der Tolstoj-Platz in Zentrum von Kyïw in den Wasyl-Stus-Platz umbenannt werden soll. Aus Russland hört man: Was hat Tolstoj euch Ukrainern getan, lasst doch die Weltkultur in Ruhe. Ihr Nazis.
Das stimmt, Tolstoj hat uns tatsächlich nichts getan. Ein wenig übelnehmen könnte man ihm höchstens die toxischen Äußerungen seines Ur-Ur-Ur-Enkels, der im russischen Fernsehen Propaganda verbreitet, aber dafür kann der alte Klassiker natürlich wenig. Die Geschichte von Wasyl Stus, dessen Zeilen oben zu lesen sind, steht hingegen exemplarisch für die Geschichte der ukrainischen Literatur. Als er gegen die Inhaftierung ukrainischer Intellektueller protestierte, wurde er gefeuert und später, wenig überraschend, in den Gulag gesteckt. Genau wie einst Taras Schewtschenko, seine Zeitgenossin Lina Kostenko und viele weitere bekam er ein Publikationsverbot. Die meisten seiner Gedichte wurden ihm direkt weggenommen, nur wenige konnten aus dem Gefängnis geschmuggelt werden.
Man kann die russische Sprache lieben und sich dennoch fragen, warum so viele russische Namen immer noch die zentralen Plätze und Straßen der Ukraine schmücken, während russische Intellektuelle diesem Land, dieser Sprache seit Jahrhunderten das Existenzrecht absprechen und die „große russische Literatur“ der unbedeutenden ukrainischen gegenüberstellen – deren Schriftstellerïnnen so viel mehr hätten schaffen können. Wie Wasyl Stus, dessen Gedichte es übrigens auch in deutscher Übersetzung gibt. Kurz nachdem er 1985 für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde, starb er, krank und kummergebrandmarkt, in sowjetischer Haft.
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