von Eva-Sophie Lohmeier
Eigentlich ist das Genre der gehobenen Unterhaltung ein sehr ehrenwertes. Wenn man mal wenig Lust hat auf Ostkonflikte und komplex verwobene Metaphernfelder, aber noch nicht bereit ist für Buchhandlungen am Meer zum Verlieben, dann greift man gern in diese Sparte. Und es gibt ja auch eine Menge erfolgreiche Beispiele: Die Bücher von Dörte Hansen, Alena Schröder, Mariana Leky lassen sich sehr gut lesen, man bekommt keine übermäßig schlechte Laune und wird definitiv nicht dümmer dabei. Wie in jedem anderen Genre kommt es auch hier darauf an, dass gut erzählt wird, dass das Handwerk stimmt und Figuren wie Umfeld plastisch werden. Es gibt gute und schlechte Unterhaltung, und diese Bücher lassen sich auch anhand von Kriterien innerhalb ihrer Sparte bewerten. Wenn man also ein Buch aus diesem Bereich kritisiert, sollte man das nicht tun, weil man eigentlich etwas anderes erwartet, zum Beispiel Literaturpreis- und Feuilletonliteratur.
Ein wenig knifflig wird die Sache, wenn die Autorin eines Genreromans von sich selbst etwas anderes erwartet, nämlich hohe Literatur. Das ist leider bei Caroline Wahl der Fall. Sie schreibt Unterhaltungsliteratur, aber ihren Äußerungen in den sozialen Medien oder in Interviews ist zu entnehmen, dass sie das ganz und gar nicht so sieht und eigentlich mit einer Nominierung für den Deutschen Buchpreis gerechnet hat. Auf Instagram schreibt sie: „bin traurig und wütend, dass ich nicht auf der longlist stehe, auch wenn ich’s irgendwie wusste. zu erfolgreich, meinte agentin. (…) auf jeden fall habe ich gehofft, draufzustehen und tat weh, als kein anruf kam. (…) wobei mich der gedanke, dass ich nächste woche weiterhin auf der doppel-1 stehen könnte, am meisten tröstet. aber ey, wenn ich nächstes jahr nicht mindestens auf der shortlist stehe, dann wandere ich aus. bussiiiiii“. Das blieb nicht unbemerkt. „Unverstellt, ungefiltert zeigt sie die Schürfwunde, die diese Nichtnominierung bei ihr gerissen hat“, schreibt Bernhard Heckler in der Süddeutschen Zeitung, und es klingt leise Bewunderung durch.
Lauter fällt die Bewunderung angesichts von Wahls Unbescheidenheit bei „Welt“-Totalreporter Frédéric Schwilden aus, der mit Wahl einen Porsche kaufen gehen will, wozu es dann aber nicht kommt, weshalb die Austernbar im KaDeWe als Luxusersatzchiffre herhalten muss. In seinem Text schreibt er, ihre Aussage im Podcast „Hotel Matze“, sie wolle irgendwo die Beste und eine der bekanntesten Autorinnen Deutschlands sein, habe er fantastisch gefunden, und begründet das folgendermaßen: „Weil es ja bei den medial präsenten Autorinnen und Autoren sonst immer nur um Welt retten, Ungerechtigkeit abbauen und sowas geht. Aber das glaube ich denen ja nicht. Eigentlich gehe es denen vor allem um sich.”
Man kann Caroline Wahl wirklich nicht vorwerfen, wenig an sich zu denken. „Das Ziel ist, die Berechtigung zu haben, jedem den Mittelfinger zu zeigen“, wird sie in der Austernbar zitiert. Dann kauft sie sich noch eine Prada-Sonnenbrille.
Es gibt eine Menge Argumente dafür, eine unverstellt erfolgreiche Autorin zu sein. Warum soll sich eine Frau nicht ein teures Auto anschaffen, wenn sie es sich leisten kann, und allen den Mittelfinger zeigen? Warum soll sie nicht anstreben, die Beste zu werden, und sich über die Doppel-eins auf der Bestsellerliste freuen? Vielleicht ist ein Argument dagegen, dass ihre Bücher, auch wenn sie sich gut verkaufen und auch wenn sie mit freundlichen Kritiken bedacht wurden, einfach nicht gut sind.
Sehr erfolgreich wurde Wahl mit ihrem Debütroman „22 Bahnen“, bislang um die 350.000 Mal verkauft. Die Geschichte erzählt von Tilda, einem Mathematikgenie im letzten Semester, und ihrer kleinen Schwester Ida, die noch die Schule besucht. Die beiden Mädchen wachsen vaterlos bei ihrer alkoholkranken Mutter auf. Geld ist knapp. Tilda arbeitet in einem Supermarkt an der Kasse und versorgt die Familie, Fluchtort ist ihr das Freibad, in dem sie, so oft es geht, ihre Bahnen schwimmt. Dort begegnet Tilda Viktor, dem großen Bruder ihres russischstämmigen Freundes Ivan, der im Sommer zuvor tödlich verunglückte. Viktor hat eisblaue Augen, blonde Haare und grinst oft. „In »22 Bahnen« haben wir zum Beispiel im Lektorat ganz viele eisblau leuchtende Augen vernichtet“, sagte Wahl letztens dem „Spiegel“, aber gefühlt sind immer noch ein Dutzend drin. Ungefähr da könnte der böse Verdacht aufkommen, dass Wahl über ihre Figuren gar nicht so viel zu sagen hat.
„Seine verstrubbelten weißblonden Haare, die markanten, harten Züge seines gebräunten Gesichts, seine gerade Nase, die scharf geschnittenen Augenbrauen, der schmale Mund. Schön, denke ich. Er dreht sich zu mir, und ich sehe beeindruckt, wie sich das Gesicht verändert, noch schöner wird, ein Flackern in seinen Augen, ein belustigtes Grinsen, er zieht die Augenbrauen fragend hoch, bevor er den Blick wieder auf die Straße richtet und seine Gesichtszüge sich wieder zu dem griechischen, strengen Profil versteinern, alles eine Sache von Millisekunden, wobei ein leichtes Lächeln noch kurz bleibt.“ – Das ist also Viktor, eine Ansammlung an Klischees.
Aber auch vieles andere bleibt blass. Tilda arbeitet in einem Supermarkt. Jeder, der einmal in einem Supermarkt gejobbt hat, weiß, dass das ein ganz eigenes Universum ist. Man lernt Fachbegriffe wie „Mopro“ und „Gondelende“, es gibt einen Frühstücksraum, schlechten Kaffee, und interessanterweise auch andere Menschen, die dort arbeiten. Man muss ja nicht gleich die Arbeiterprosa des Bitterfelder Wegs neu erfinden, aber ein wenig Interesse an den sozialen Umfeldern, in die man seine Figuren hineinsetzt, wäre schon schön. Tildas Interesse an Mathematik erschöpft sich darin, dass die Zahlen des Buches ausnahmslos nicht ausgeschrieben werden, ansonsten sitzt sie mit dem College-Block am Küchentisch und rechnet Beispielaufgaben durch wie eine Achtklässlerin. Die alkoholkranke Mutter ist ein Bündel aus recherchierten Symptomen, kein echter Mensch. Immer wenn sie „Feuer in den Augen“ hat, wird es gefährlich.
Im zweiten Roman „Windstärke 17“ widmet sich Wahl dem weiteren Lebensweg von Tildas kleiner Schwester Ida. Tilda hat inzwischen Eisblaue-Augen-Viktor geheiratet und entzückende Zwillinge bekommen, man lebt als Professorin und IT-Berater in einer Hamburger Altbauwohnung. Ida ist vor allem wütend. Nach dem Tod der Mutter hat sie die Wohnung fluchtartig mit einem, wie immer wieder betont wird, blauen Hartschalenkoffer und dem Nötigsten verlassen. Ja, der blaue Hartschalenkoffer ihrer Mutter wird ähnlich oft erwähnt wie die eisblauen Augen im ersten Buch, er ist eine Metapher für die Möglichkeiten von Mutters ungelebtem Leben. Ida strandet samt Koffer auf Rügen, trifft dort eine Ersatzfamilie, Knut und Marianne, die sie gerne aufnehmen, ihre eigene Tochter ist nämlich nicht so nett. Ida merkt, dass sie eigentlich nur schreiben will. Und einem geeigneten Love Interest begegnet sie auch, diesmal heißt er Leif, ist DJ und hat grüne Augen. Er pflegt seinen Opa und kocht Marmelade.
Beide Love Interests, Viktor wie Leif, haben interessante Augenfarben und Berufe, sind etwas verstockt, haben aber einen guten Kern und lieben aufrichtig. Sie sind nach Anfangsschwierigkeiten emotional verfügbar, sehen sehr gut aus und sind praktischerweise beide auch noch sehr wohlhabend. Und zwar alles in jungen Jahren selbst erarbeitet, nicht geerbt. Wenn es solche tüchtigen Herren mit güldenem Herzen braucht, um die armen, begabten Waisenkinder zu freien, damit ihnen die Welt offensteht, dann sind wir endgültig im Reich der Genrekonventionen angekommen, wo die verarmte Nichte vom Land an den vermögenden Pferdebaron mit „hazel eyes“ verkuppelt wird. Gut, die Sprache bei Wahl ist moderner, bei ihr sind Dinge „krass schön“, Leute chillen und tragen Outfits.
Außerdem spielt das Wetter immer eine große Rolle, im zweiten Buch auch das Meer. „Das Meer, das so krass wunderschön und gewaltig ist, zeigt mir, dass ich mit meinen Nichtigkeiten ganz klein und egal bin“, heißt es da, als sei das eine weltumstürzende Erkenntnis. Werden die Gefühle zu stark und die „Wutklumpen im Bauch“ zu groß, muss immer erstmal ein Unwetter aufziehen, um sie in ordnungsgemäßer Heftigkeit abzubilden. Und manchmal wird einfach ein random Naturereignis kommentiert.
In „22 Bahnen“ liest sich das so: „Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit. Winter, Frühling und Sommer sind auch okay, aber der Herbst ist magisch. Der Herbst ist ein Magier, der alles verzaubert. Er hüllt die Welt in Wind, Nebel und Regen, und es riecht nach Leben. Grün wird zu Feuer. Manchmal wirkt das Feuer braun und grau an einem regnerischen Tag. Aber dann kommt an dem braungrauen Tag die Abendsonne heraus, und alles leuchtet golden und glitzert. Und der Duft. Magie.“
Nur ein Zehntel dieser poetischen Energie, die hier auf unbestimmtes Grünland losgelassen wurde, wünschte man auch dem Supermarkt, in dem Tilda arbeitet.
Abgesehen davon passiert erschreckend wenig. Es wird sehr viel geschwommen, geredet, sich manchmal erinnert. Man fährt mal mit dem Auto wohin, und reichlich Energie geht drauf, um Frühstück oder Abendessen zuzubereiten. Wenn Geld da ist, gibt es viel Aufschnitt, wenn wenig Geld da ist, gibt man sich zumindest Mühe. Vor allem in „Windstärke 17“ wird wieder und wieder die Heimeligkeit der soeben gefundenen Ersatzfamilie beschworen, indem Toastscheiben, Kaffee und Linzer Torte um die Wette duften, und zwar mehrfach am Tag. Kurz duftete es etwas weniger, als die Ersatzmutter Marianne eine Chemotherapie beginnt, aber dann wieder mit unvermindertem Einsatz.
Alles das liest sich in seiner abgegriffenen Schlichtheit und seiner Begeisterung für ein Erzählen, das alle Sinne anspricht, in dem die Dinge intensiv riechen und schmecken, ein wenig wie die üblichen Schwarten aus der Kategorie „Ein Buchladen am Meer zum Verlieben“, aber keine dieser Autor*innen wurde bislang dabei ertappt, sich zu beschweren, dass sie nicht für den Buchpreis nominiert wurde. Diese Autor*innen schreiben Genre-Romane, und sie sind sich dessen auch voll bewusst. Sie schielen nicht nach Preisen, sie pflegen ihre Leserschaft und freuen sich an guten Verkaufszahlen. Wenn man also Caroline Wahl für ihre Ehrlichkeit und Unverstelltheit lobt, dann sollte man nicht ganz vergessen, dass hier jemand leider angesichts der eigenen Prosa einen 500.000 Exemplare großen blinden Fleck hat, der auch durch Fleiß und Ehrgeiz nicht zu beseitigen ist.
Im Podcast „Hotel Matze“ sagt Wahl über ihr eigenes Schreiben:
„Schreiben, das hab ich jetzt gemerkt, irgendwie hab ich immer son Zuhause gesucht, so immer schon, und irgendwie nie richtig angekommen. Und ich hab jetzt keinen Ort oder kein Zuhause gefunden, aber ich hab jetzt gemerkt, dass dieses Schreiben wirklich ein Zuhause ist, was ich irgendwie überall mitnehmen kann und was irgendwie, ja, was ich irgendwie brauche, was auch oft anstrengend ist und Scheiße und manchmal kriegt man’s auch nicht hin. Aber wenn man dann irgendwie zum Beispiel irgendwie Trauer versucht darzustellen in Bildern, in Figuren, in Dingen, und am Ende des Tages hat man’s irgendwie geschafft, das auszudrücken, dann fühl ich mich selbst auch ein bißchen leichter.“
Und hier spricht eben keine Genre-Autorin, die einfach ihre Leserinnen mit Geschichten glücklich machen will. Sondern jemand, der das Schreiben als etwas Existenzielles begreift und sich damit in eine lange, wenn auch inzwischen etwas angegilbte Künstlertradition stellt. Jemand, der gar nicht anders kann, als zu schreiben, weil er sonst platzt. Das Problem ist eben: Das Ergebnis sollte dann auch entsprechend existenziell ausfallen und nicht nur mit abgegriffenen Wettermetaphern in Milieukulissen hantieren, in denen behauptete Figuren mit Augenfarben duftendes Frühstück machen und ab und zu stirbt jemand an einer sorgfältig ergoogelten Krankheit.
Zum Glück ist Wahl auf der Bestsellerliste noch immer gut vertreten. Mit dem Taschenbuch „22 Bahnen“ steht sie aktuell auf Platz 2, mit dem Hardcover „Windstärke 11“ auf Platz 4 der Bestsellerliste. Das sollte Trost genug sein.
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Foto von Sebastian Unrau