Ein Nachruf von Dirk Uwe Hansen
Am 20.1. ist in Athen die Dichterin und Übersetzerin Katerina Angelaki-Rooke gestorben. Eine der größten griechischsprachigen Dichterinnen aller Zeiten, war daraufhin erwartungsgemäß im griechischen Feuilleton über sie zu lesen und im deutschen Feuilleton ebenso erwartungsgemäß nichts. Mag es nun daran liegen, dass sie eine Frau war (sie wär die erste nicht), eine Lyrikerin oder Griechin (anders als im Englischen finden wir auf Deutsch neben versprengten Gedichten in Anthologien nur einen einzigen gedruckten Band mit ihren Gedichten), eine Schande ist es allemal.
Nun ist allerdings hochgelobt so leicht wie totgeschwiegen und mit lebendiger Erinnerung und Wahrnehmung mag beides wenig zu tun haben. Aber was mich berührt hat, war, dass schon in der Nacht nach ihrem Tod viele viele griechischsprachige Autor*innen in sozialen Medien jeweils ein Bild und einen Text von Katerina Angelaki-Rooke posteten. Mehr nicht. So als hätte jede*r giechische Autor*in eben das von ihr im Kopf: ein Bild und einen Text, der wichtig ist. Photographien von Angelaki-Rooke gibt es im Netz mehr als genug, was es allerdings kaum von ihr gibt, sind „Autorinnenphotos“ — ein*e Dichter*in mit dem klassischen zugleich nach innen und in weite Ferne gerückten Photostudioblick. Im Gegenteil: Selbst auf Photos von einer der vielen Preisverleihungen scheint sie stets jemanden anzusehen, um einen Gedanken, einen Scherz oder ein Lächeln zu teilen. Es ist unmöglich, Photos von ihr zu betrachten, ohne dass man sie gern kennenlernen und dieses Gesprächsangebot annehmen möchte.
Diese Menschenfreundlichkeit mag einer der Gründe dafür sein, dass sie für viele der jüngeren Dichter*innen in Griechenland eine so bestimmende Bezugsperson war, der wichtigere Grund ist natürlich ihre Dichtung selbst, die gekennzeichnet ist von großer Genauigkeit in der Beobachtung der physikalischen Welt, die sie in sehr eigener Weise mit der metaphysischen Welt zu verbinden weiß.
Die Augen lieben es,
sich den kleinsten Falten
der sichtbaren Welt zu widmen,
während die Werkstatt im Inneren
die Bilder zu Engeln erklärt,
oder zu Abschiedskarten
mit Pinien darauf.
Katerina Angelaki-Rooke wurde 1939 geboren. Damit gehört sie zur sogenannten zweiten Nachkriegsgeneration, einer Generation von Autor*innen also, die als Kinder die Traumata der deutschen Besatzung und des Bürgerkrieges erlebt haben, als Erwachsene die Jahre der Militärdiktatur und denen es gelungen ist, die griechische Literatur mit der europäischen Moderne zu verbinden — es ist kein Zufall, dass viele dieser Autor*innen auch Übersetzer*innen waren.
Angelaki-Rookes Familie war gut situiert, bildungsorientiert und kosmopolitisch. Ideale Voraussetzungen für eine junge Frau, die, wie sie in einem ihrer letzten Interviews sagte, sich für Literatur und Liebe interessierte, nicht aber für Luxus. Sie studierte Sprachen, reiste viel, heiratete den englischen Altphilologen Rodney Rooke, arbeitete als Übersetzerin und publizierte etwa 20 Gedichbände.
Ihre Poetik bringt sie selbst auf zwei einfache Formeln: „Die Dichtung hat keine Regeln. Regeln hat höchstens jede*r Autor*in für sich selbst“ und „Damit ein Gedicht entstehen kann, muss es eine Wunde geben.“
„Ich stöbere mit der Zunge nach meiner Seele, / die mich angeblich jenseits des Lebens weiterleben lässt. …“ In Katerina Angelaki-Rookes Gedichten stößt Metaphysik immer wieder auf die materiellen Voraussetzungen des Lebens, auf Leidenschaft und Leiden. Das ist keine bloße Metapher, denn sie war seit einer zu spät behandelten schweren Infektion im Kleinkindalter ihr Leben lang leidend, ein Leiden, das sie nach eigener Aussage erst zur Dichterin gemacht hat. Diese Verbindung von Leid, Leidenschaft und literarischer Umformung zeigt sich vielleicht nirgendwo so radikal und so schön wie im Zyklus der „Engelhaften Gedichte“ („Der Grenzengel Einmal / mit seinem schönen steifen Glied…“). Und immer findet sie dafür eine eigene Sprache und für ihre Gedichte eine eigene Form — und darin liegt ihre Bedeutung für die jüngeren Dichter*innen.
Die Narbe
Statt eines Sterns leuchtete eine Narbe über meiner Geburt.
Die Schmerzen, die ich durchlebte
mit meinem unfertigen Körper,
pressten mich zurück zur Dunkelheit des Anfangs.
Ich kroch auf dem Nichts,
die winzigen Finger hielten den Tod
wie ein schwarzes glänzendes Spielzeug.
Ich erinnere mich nicht,
wie es kam, dass ich blühte in der Form einer Wunde,
wie ich lernte, das Gleichgewicht zu halten
zwischen dem Eiter und meinen offenen Augen,
aber da, wo meine Mutter damit rechnete,
dass mich, wie ein Blatt auf dem Wasser,
noch vor Beginn meiner Reise der Fluss mitreißen werde,
sah sie mich plötzlich aus der Dunkelheit emporkommen.
Wer weiß, welche Verhandlungen stattfanden im Verlauf einer Nacht,
was ich gab,
was ich bekam,
worauf ich verzichtete,
was ich versprach, damit mich das Leben behielt als seine Dienerin.
War das Nötigung, Übereinkunft, Drohung?
Sollte ich dankbar sein
für das zerrissene Geschenk des Überlebens
oder rachsüchtig? Hatten sie mir befohlen,
nach oben zu sehen, oder nach unten zur Wurzel der Demut?
Welcher Demut, warum?
Was war das für eine so untragbare Last,
die mich vollkommen erschöpft hat,
noch bevor ich aufgebrochen bin?
Oder habe ich vielleicht eine andere Bürde auf mich genommen
und schleppe sie langsam und hinkend ins Ziel?
Ich überlebte und fing zu spielen an.
Voller Vertrauen stützte ich mich auf das Gerät
und stieg die Stufen hinauf.
Auf dem Dachboden errichtete ich mein Königreich der Träume
aus ausgeschnitten Mannequins,
Florenz nannte ich diese verzauberte Stadt,
elegante Frauen und Männer mit Hut,
an der kleinen Tür nebenan war die Toilettenspülung,
die von Zeit zu Zeit wie ein Blitz hereinbrach
über die immateriellen Gewohnheiten meiner Hauptdarsteller.
Von unten stieg die Wärme dieser Welt hinauf,
die ganze Küche mit ihren Gerüchen, Geräuschen und den vertrauten Stimmen:
„Wie spät ist es? Hast du die Kartoffeln geschält?”
Die Küche war meine Phantasie aus Papier
— so früh also prägen die Pole sich aus?