Es regnet Gürtel! Die Kurzgeschichten von Sine Ergün

von Gerrit Wustmann

Wenn ein Buch den Literaturpreis der Europäischen Union erhält, sollte man annehmen, dass seine Übersetzung ins Deutsche eine Selbstverständlichkeit ist. Aber so manche Annahme erweist sich rasch als Irrtum. Ganze sechs Jahre dauerte es im Fall von Sine Ergüns Kurzgeschichtensammlung „Solche wie Sie“, die nun, übertragen von Sebile Yapıcı, im Berliner Dağyeli Verlag vorliegt – und auch das wohl nur, weil es dem kleinen, auf türkische und zentralasiatische Literaturen spezialisierten Verlag gelang, Fördermittel einzuwerben.

Man sollte sogar, um einen Schritt weiter zu gehen, annehmen, dass hiesige Verlage von selbst auf eine starke junge Stimme wie Sine Ergün aufmerksam werden – und würde die Autorin aus einem europäischen Land oder aus Nordamerika stammen, würden die Chancen dafür besser stehen. Aber heutzutage sind selbst große Literaturpreise nichts mehr, das unbedingt Aufmerksamkeit garantiert. Überdeutlich zeigte sich das unlängst am Beispiel der aus Oman stammenden Autorin Jokha Alharthi, deren Roman „Monddamen“ 2019 mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet wurde, den bis dato noch nie zuvor eine arabische Autorin erhalten hatte. Ein Buch, auf das sich die Publikumsverlage sofort stürzen, oder? Noch eine Falschannahme. Die großen Publikumsverlage interessierte das Buch nicht. Es erscheint 2023 in kleinen Bremer Sujet Verlag (abermals ermöglicht durch Fördermittel).

Bücher, wie die von Alharti und Ergün stehen beispielhaft für alles, was am deutschen Buchmarkt falsch läuft – und zeigen, warum Leser*innen gut beraten sind, die kleinen und Kleinstverlage im Blick zu behalten. Denn nicht nur bei nichtwestlichen Literaturen, sondern längst auch bei Genreliteraturen und kleinen Gattungen wie Lyrik und Kurzprosa sind sie es, die Jahr für Jahr mutige und ambitionierte Programme aufstellen, die literarische Vielfalt auf einem umkämpften Markt verteidigen, obwohl das immer schwieriger wird. Da gibt es Verleger*innen, die von ihrer Neugier und ihrer Liebe zum geschriebenen Wort getrieben sind und nicht von der trügerischen Sicherheit verlässlicher Absatzprognosen.

Die Invasion der Gürtel

Aber nun zu Sine Ergüns Buch „Solche wie Sie“. In der Kurzgeschichtensammlung regnet es an einer Stelle Gürtel. Wie bitte? Folgenderweise:

Die Gürtel, die überall verstreut herumlagen, brachten das Leben genau eine Woche zum Stillstand. Die Gebäude waren in Gürteltürme verwandelt worden, und ihr Inneres war in ein unerträgliches Dunkel getaucht. Manche fanden, dass die unterschiedlichen Gürtel die monotone Architektur der Stadt verschönerten, es gab sogar solche, die so weit gingen zu sagen, dass sie als kulturelles Erbe geschützt werden müssten. Es überwogen aber jene, die die Gürtel als eine Bedrohung für die Stadt ansahen.

Gremien werden gebildet, die Behörden greifen durch, die Menschen verstummen, und wer doch mal genauer nachfragt, verschwindet für immer. „Die Invasion der Gürtel“ ist eine Kürzestgeschichte, kaum zwei Seiten lang. Man kann sie (wie einige der insgesamt 23 Storys in diesem schmalen Band) als Weird Fiction lesen, die man nicht unbedingt verstehen muss, um Freude an ihr zu haben. Man kann sie aber auch als Parabel auf gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen lesen, insbesondere auf jene in der Türkei der jüngeren Zeit.

Vieles ist nur angedeutet, Dialoge bilden Kontrapunkte zur Handlung (oder oft auch: Nichthandlung), in das vermeintlich Normale, in das Alltägliche schleichen sich Untertöne ein, Sine Ergün arbeitet mit starken Metaphern, die sich ganz natürlich einfügen in den Fluss ihrer Erzählungen, sei es in Form von Sorgen der Großmutter, sei es, wenn eine Gruppe von Vögeln einen Neuankömmling in ihre Gruppe aufnimmt. Es schwingt stets etwas mit zwischen den Zeilen und unter dem Offensichtlichen. Es gibt Falltüren und Geheimgänge, die bisweilen Bezüge zu den Geschichten untereinander aufbauen.

So ist es mit vielen von Sine Ergüns Geschichten, von denen die meisten nur wenige Seiten lang sind, dafür aber eine Wirkung entfalten, die manchem Roman auf hunderten Seiten nicht gelingt. So wie die Geschichte des Taxifahrers, der seinem vom Krankenhaus abgeholten Fahrgast erzählt, man müsse immer lächeln, immer eine positive Einstellung bewahren, sonst könne man zum Mörder werden in dieser Stadt. Um dann die Anekdote anzufügen, wie er einem Zechpreller mit dem Brecheisen, das stets im Kofferraum liegt, den Schädel eingeschlagen hat.

Es muss noch etwas Unschuld, etwas, das zu uns gehört, übrig geblieben sein, sage ich zu mir selbst, was sollte sonst dieses zerknitterte Taschentuch, diese Wasserflasche, das Brecheisen. Warum sollten wir sonst einander so weh tun?

In der Titelgeschichte verschanzt sich die Protagonistin in einem Hotelzimmer, in dem sie nicht willkommen ist, um sich dann, als die Tür aufgebrochen wird, in Luft aufzulösen. Oder? War sie jemals da? Man weiß es nicht so genau (was sich, das sei angemerkt, wunderbar im Gemälde von Nuray Koschowsky spiegelt, das dem Buch als Cover dient). Auch mit dem Thema Geschlecht spielt Sine Ergün geschickt – nicht in jeder der Storys ist es eindeutig, welches Geschlecht der oder die Erzähler*in oder Protagonist*in hat, was die Frage aufwirft, ob das denn überhaupt wichtig ist. Und wenn ja, warum es wichtig ist. Da, wo es nicht (oder: nicht sofort) klar mitgeteilt wird, darf man sich als Leser*in selbst hinterfragen, indem man beobachtet, welchem Geschlecht die jeweilige Figur von der eigenen Wahrnehmung zugeordnet wird.

Bisweilen geht es auch um eine sich Stück für Stück und erst kaum merklich auflösende Realität, die sich in den Verzweiflungen der Figuren spiegelt, die ihrerseits um Halt in der Welt ringen, nach Fluchtwegen suchen, auch aus der Unmöglichkeit der Kommunikation. Etwa, wenn Ergün ihre Figuren in einer zu renovierenden Wohnung arrangiert, deren Wände komplett schwarz sind, und die einfach nicht weiß werden wollen, egal, wie oft sie überstrichen werden.

An anderer Stelle werden Menschen von durchdringenden Blicken verfolgt, eine Tagträumerin verläuft sich in ihren Träumen und ein Toter klopft bei sich selbst an die Tür, um nach Hause zurückzukehren, Jahre nachdem er von aller Welt vergessen wurde. „Veränderung“ heißt eine Story, „Makellos“ eine andere, in der es darum geht, das jemand eine möblierte Wohnung verkaufen möchte. Ein frisch verheiratetes Paar ist erst interessiert, sagt dann aber doch ab, denn man will sich lieber selbst einrichten, ganz nach den eigenen Vorstellungen, diesem neuen Lebensabschnitt angemessen. Dieser scheinbar so winzige und simple Konflikt stürzt die Protagonistin in eine Krise, weil ihr Selbstbild und ihre Wahrnehmung infrage gestellt werden.

Sine Ergün, Jahrgang 1982, ist Dramaturgin, Schauspielerin, Lektorin, Magazinmacherin. Sie hat eine Künstlerresidenz gegründet und inzwischen drei Sammlungen mit Kurzgeschichten in der Türkei publiziert, ihre Story „Leben, manchmal“ wurde 2013 mit dem Sait-Faik-Preis ausgezeichnet, der höchsten Ehrung für Kurzprosa, die es in der Türkei gibt. Bei der Gelegenheit: Wer die Geschichten von Sait Faik nicht kennt, sie liegen auf Deutsch bei Manesse vor („Geschichten aus Istanbul“), dem entgeht eine der ganz großen Stimmen der Weltliteratur, ein Autor, der ohne Wenn und Aber in eine Reihe mit Giganten wie Poe, Kafka oder Carver gehört. Wer weiß, vielleicht steht Sine Ergün dort irgendwann auch. Das Potential dazu hat sie.

Weltliteratur

Um hier noch einmal den Bogen zum Anfang zu schlagen: Warum ist ein großer Erzähler wie Sait Faik, der auf keiner Weltliteratur-Liste fehlen darf (und es doch tut), in Deutschland so gut wie unbekannt? Warum erscheinen die Geschichten einer starken und vielschichtigen Erzählerin wie Sine Ergün hierzulande in einem Kleinverlag, der kaum im Buchhandel vertreten ist? Die Antwort ist so beschämend wie simpel: Weil beide aus der Türkei stammen. Solange es keinen Nobelpreis oder politische Verfolgung als medialen Aufmerksamkeitsgaranten gibt, bleibt das Interesse überschaubar – und zwar sowohl bei (großen) Verlagen, wie auch dem Feuilleton und dem Publikum. 

Auf die zahlreichen Gründe dafür gehe ich in meinem Buch „Weltliteratur. Warum wir ein neues Literaturverständnis brauchen“ ein. Dabei müsste es doch genau andersrum sein: Ein Feuilleton, das immer nur das Offensichtliche präsentiert, wo Bücher ausschließlich deshalb besprochen werden, weil alle anderen sie auch besprechen, macht sich selbst überflüssig. Ebenso Verlage, die nicht mehr vielfältige (welt)literarische Entwicklungen mitgestalten wollen.

Am Ende hängt es bei uns allen: Wenn wir immer nur dasselbe kaufen, weil es billig und überall verfügbar ist, bringen wir uns um neue Erfahrungen, um Geschmackserlebnisse hier wie dort. Bücher ermöglichen uns den Blick in die Welt, eröffnen neue Perspektiven, nicht nur inhaltlich, sondern auch formal – wir müssen nur zugreifen. Für die türkische Literatur wären Sait Faik und Sine Ergün ein wunderbarer, generationenübergreifender Anfang. 

Photo by Max Nayman on Unsplash

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