von Cordula Kehr
Hochstapler sind prädestiniert für Literatur. Davon zeugen das ganze Genre des Schelmenromans oder kanonische Figuren wie Tom Ripley und Felix Krull. Die großen Betrüger der Gegenwart sind aber weniger Dandys als Broker, sie arbeiten nicht im Luxushotel, sondern im Büro und machen Anlageberatung. Ein solcher Finanzbetrüger und seine Betrugsmasche stehen im Zentrum von Emily St. John Mandels gerade erschienenem Roman Das Glashotel, dessen Handlung vom Fall Bernie Madoff inspiriert wurde. Madoff führte jahrzehntelang ein gigantisches Ponzi Scheme, mit dem er an die 5.000 Menschen schädigte und für das er 2009 zu 150 Jahren Haft verurteilt wurde. Mandel erzählt die Geschichte eines globalen Finanzskandals und einer jungen Frau, die an einen Betrüger gerät.
Männer betrügen mit Ponzi Schemes, Frauen haben ein Schicksal
Mandel ist nicht die erste, die den Finanzskandal um Madoff fiktionalisiert. Eine ganze Reihe literarischer und filmischer Werke sind mittlerweile erschienen, die „das größte Ponzi Scheme der Geschichte“ adaptieren. Und nicht wenige setzen dabei die Frau an der Seite des Betrügers ins Zentrum, denn dieses Setting eignet sich sehr gut, um den Betrug an der Gesellschaft im Näheverhältnis der intimen Paarbeziehung zu spiegeln. Den Frauen fällt dabei in der Regel die Rolle der unwissenden und loyalen, meist auch sexuell betrogenen Ehefrau zu.
So ist Meredith, die Protagonistin von Elin Hildebrands 2011 erschienenem Roman Silver Girl, selbstverständlich unschuldig. Der Finanzbetrug ist bei Hilderbrand hauptsächlich Kolorit, die Handlung bedient die Klischees des trivialen Frauenromans: Meredith sucht nach dem Skandal Zuflucht bei ihrer besten Freundin, gemeinsam wagen sie auf einer Insel den Neuanfang. Als sie erfährt, dass ihr Mann eine jahrelange Affäre hatte, findet sie Trost bei ihrer Jugendliebe. Auch in Randy Susan Meyers 2017 erschienenem Roman The Widow of Wall Street steht Phoebe jahrelang ahnungslos hinter ihrem Mann. Sie geht in ihrer Rolle als philanthropische Ehefrau auf und unterstützt unwissend ihren Gatten als öffentliches Gesicht seines illegalen Unternehmens. Der einzige Verdacht, den sie gegen ihn hegt, ist der, ihr untreu zu sein [1].
Auch Mandel wählt für Das Glashotel über weite Strecken die Perspektive der Frau an der Seite des Betrügers. Wir erfahren von Vincents Kindheit und Jugend in Kanada, beobachten, wie sie mit dem Finanzier und Betrüger Jonathan Alkaitis eine Beziehung eingeht, und wie sie nach seiner Verhaftung auf einem Frachter anheuert, bis sie bei einem Sturm verunglückt [2]. Durch diese Perspektive kann Mandel den Leser*innen einen emotionalen Zugang zum Geschehen eröffnen und sie einladen, sich zu identifizieren und mitzufühlen. Mandel zeigt den Betrüger Alkaitis als Familienmenschen und Meister des sozialen Rollenspiels; und sie erzählt Vincents Lebensgeschichte und darin eine Vielzahl an Beziehungsgeschichten und -dramen.
Im Gegensatz zu Hildebrand und Meyers zeichnet Mandel ihre Protagonistin jedoch ambivalenter: Vincent sieht in Jonathan die Gelegenheit auf ein angenehmes Leben, ihre Beziehung bezeichnet sie als „Transaktionsabkommen“. Vincent – das wird von verschiedenen Figuren festgestellt – ist ein ungewöhnlicher Frauenname.
Aber macht das Vincent automatisch zu einer ungewöhnlichen Figur?
„Sie hätte es undankbar gefunden, von einem Job zu reden, da sie Jonathan wirklich gernhatte. Zwar war es nicht gerade die Romanze des Jahrhunderts, aber das musste es ja auch nicht sein.“
Vincent unterscheidet sich von Hildebrands und Meyers Protagonistinnen, da sie die Beziehung mit Jonathan aus Eigennutz eingeht. Doch Mandel legt Wert darauf, sie dennoch als gefühlvoll zu charakterisieren. Vincent hat Jonathan “wirklich gern” und selbst in der Verneinung wird die “Romanze des Jahrhunderts” als Ideal formuliert. Vincent ist vielleicht etwas berechnender und nicht “blind vor Liebe”, aber sie durchschaut Jonathan trotzdem nicht. Letztlich löst Mandel sich kaum vom Topos der betrogenen Ehefrau. Vincents Lebensgeschichte – der frühe Tod der Mutter, die schwierige Beziehung zum Bruder, das Verhältnis mit einem Betrüger und der eigene Tod, ihr Ertrinken im Ozean – liest sich wie das tragische Frauenschicksal, das für Frauenromane typisch ist. Originell wird der Roman erst dort, wo der Finanzskandal selbst in den Mittelpunkt rückt, wo er nicht in Hinblick auf Vincents Leben, sondern als eigene Geschichte erzählt wird. In der vielstimmigen und detailreichen Schilderung der Betrugsmaschinerie werden ihre Grandiosität und gleichzeitige Banalität sichtbar.
Sozialkritik durch beschlagene Glasscheiben
Im titelgebenden Glashotel, einem abgelegenen Luxushotel auf Vancouver Island, kreuzen sich die beiden zentralen Handlungslinien: Die Kindheits- und Jugendgeschichte von Vincent und ihrem Bruder Paul findet hier ihren vorläufigen Höhe- und Endpunkt; Vincent und Jonathan lernen sich kennen und ergreifen die Gelegenheit, die sie einander bieten. Mandel führt die beiden Handlungsstränge – Vincents Lebensgeschichte und Geschichte des Finanzbetrugs – in einem dramatisch aufgeladenen und atmosphärisch dichten Moment zusammen. In der Nacht, in der Jonathan Alkaitis ins Hotel kommt, schreibt ein zunächst unbekannter Täter „Schlucken Sie doch Glassplitter“ an die gläserne Fassade des Hotels. Die Gäste und Angestellten sind tief erschüttert:
„‚Niemand sollte so etwas sehen müssen.‘ In Leon Prevants Stimme schwang ein bekümmertes Beben mit, das er rasch mit einem Schluck Whiskey hinunterzuspülen versuchte. […] Vincent polierte weiter Gläser. Walter ging, um ein Wort mit ihr zu reden, sah im Näherkommen aber, dass ihr Tränen in den Augen standen. ‚Alles in Ordnung?‘, fragte er leise. ‚Es ist schrecklich‘, sagte sie, ohne aufzublicken. […] In den Stunden nach dem Graffiti wirkte der Wald draußen auf neue Weise dunkel, und die Schatten kamen ihm dichter vor, fast, als steckten sie voller Gefahren.“
Vincent reagiert besonders heftig auf die Botschaft an der Wand. Sie bricht mit ihrem Bruder, den sie verdächtigt, das Graffiti geschrieben zu haben, kündigt ihren Job als Kellnerin und beginnt ihr Leben an Jonathans Seite. Figurenpsychologisch ist dieser Ausbruch kaum begründet [3]. Vielmehr funktionieren das unheimliche Graffiti und Vincents Reaktion darauf als Scharnier zwischen Lebens- und Betrugsgeschichte. Das Glashotel wird eigens zu einem Ort „außerhalb von Zeit und Raum“ stilisiert, einem “ganz unwirklichen Palast”, einem magischen Ort, an dem der Übergang in die Sphäre des Geldes und des Betrugs möglich ist.
Als magisch lässt sich grundsätzlich der Ton des Romans beschreiben. Mandel legt einen atmosphärischen Schleier auf die erzählte Realität. So lebt Vincent mit Jonathan im „Königreich des Geldes“ und es ist „das Geld, das alles so fremd und seltsam macht“. Der Schiffsreeder Leon Prevant aber, der durch das Ponzi Scheme seine Ersparnisse verliert, wird „Bewohner eines Schattenlandes“. Der Roman erhält auf diese Weise eine besondere ästhetische Qualität, der Blick auf die sozialen Verhältnisse und die Betrugsmaschinerie wird allerdings getrübt. Im Schattenland herrschen dunkle Mächte und nicht der globale Kapitalismus. In der allegorischen Sprache des Märchens werden die Ursachen und Auswege aus der sozialen Krise wie durch eine beschlagene Glasscheibe betrachtet [4].
“You can check out any time you like, but you can never leave“
Auch die zahlreichen Geister, die Vincent, Paul und Jonathan heimsuchen, tragen zur magischen Atmosphäre des Romans bei. Diese Geister – verstorbene Verwandte, verunglückte Zufallsbekannte und Opfer des Finanzbetrugs – sind nicht einfach Gestalt gewordene Reue- oder Schuldgefühle der Protagonist*innen oder Boten einer Vergangenheit, die nicht ruht. Im Gegenteil: Sie erzählen ihre eigene Geschichte weiter und führen sie über den Tod hinaus zu Ende. Vincent kann sich nach ihrem eigenen Tod nicht nur mit ihrer verstorbenen Mutter, sondern auch mit ihrem noch lebenden Bruder aussöhnen, und ihren Liebhaber, der des Mordes an ihr verdächtigt wird, in den Augen der Leser*innen entlasten.
Die Figuren des Romans sind in ein dichtes Netz eingesponnen, aus dem sie sich selbst durch den Tod nicht lösen. Dieses Beziehungsgeflecht ist durchaus kunstvoll gestrickt. So treten einige Verbindungslinien zwischen den Figuren erst nach und nach, durch Rückblenden oder wie beiläufig zu Tage. Doch diese Beziehungen illustrieren nicht die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge. Sie tragen kaum dazu bei, die Auswirkungen des Betrugs auf die globalen, extrem vernetzten Märkte zu erfassen. Im besten Fall wirken sie zufällig, im schlechtesten unwahrscheinlich oder beliebig. Indem die Verstorbenen als Geister ihre Geschichten und die der anderen fortschreiben, werden die Beweggründe aller Figuren bis ins letzte Detail ausbuchstabiert. Komplexe Fragen von Schuld, Mitwisserschaft und Verantwortung werden auf diese Weise zu einfach beantwortet.
Der reale Finanzbetrug, Madoffs Ponzi Scheme, hat zu einer jahrelangen gerichtlichen Aufarbeitung geführt, da sich die Fragen „Wer wusste wie viel? Wer hat Schuld und muss finanziell haften? Wie konnte es jemandem gelingen, so viele Menschen zu täuschen?“ nur äußert schwer klären ließen. Der Roman ist in dieser Hinsicht so transparent wie das titelgebende Glashotel: Selbst der große Betrüger ist durchschaubar. Das ist schade. Auch wenn Literatur die Möglichkeit hat, allwissend zu erzählen und Geschichten abzurunden – spannend ist sie, wenn sie dabei eine Hintertür zum Zweifeln offenlässt.
[1] Die Geschlechterrollen sind in diesen literarischen Bearbeitungen eindeutig festgelegt: Sowohl das reale Vorbild – Bernie und Ruth Madoff – als auch die gesellschaftlichen Verhältnisse im Patriarchat scheinen vorzugeben, dass es Männer sind, die solche Wirtschaftsverbrechen begehen, und Frauen an ihrer Seite stehen. Und obwohl eine der ersten Betrüger*innen, die sich durch ein Schneeballsystem bereicherte, die Schauspielerin Adele Spitzeder war, ist diese Art von Verbrechen heute hauptsächlich als Ponzi Scheme bekannt und somit nach einem Mann, Charles Ponzi, benannt.
[2] Zwar wird Vincents Lebensgeschichte nicht immer aus ihrer Sicht und nicht chronologisch erzählt – der Roman beginnt mit ihrem Tod –, sie ist aber die entscheidende Klammer, die die Handlung zusammenhält und vorantreibt.
[3] “If you saw creepy graffiti on a hotel window, would you gasp/burst into tears/be haunted by it for years to come?”, fragt beispielsweise eine Leserin auf der Rezensionsplattform Goodreads. “Why was everyone so upset about it? I don’t get it.”, kommentiert eine weitere Rezensentin ebendort.
[4] So schreibt auch der Guardian: “But there’s a hallucinatory, fairy-dust sheen to The Glass Hotel that makes the real world cruelties of 2008 feel as remote and otherworldly as the transparently symbolic (and symbolically transparent) hotel. […] The language of allegory can illuminate, but it can also be a form of camouflage.”
Beitragsbild von runnyrem