Formsache – Philip Saß’ virtuoser Gedichtband

von Moritz Hürtgen

Die Behauptung, dass in der gesamten DACH-Region kein Mensch mehr Lyrik schreibt, die sich reimt und ein Versmaß einhält, ist gewiss weit hergeholt, aber so unheimlich weit nun auch wieder nicht. Das klassische Formgedicht ist heute ungefähr so angesagt wie Dieselautos. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Sonett an unseren Woke-Universitäten verboten … – lieber noch mal von vorne:

Das klassische Formgedicht ist heute eher ein Nischenphänomen. Das komische klassische Formgedicht verkörpert, weil Büttenreden von Marie-Agnes Strack-Zimmermann nicht gewertet werden, die absolute Nische. Zeitschriften wie das Titanic-Magazin oder unabhängige Verlage wie Kunstmann räumen ihm ehrenwerter Weise Plätze ein, obwohl sie damit tiefrote Zahlen schreiben. Aber Tradition verpflichtet: Dichter wie F.W. Bernstein oder Robert Gernhardt (beide tot) aus der Neuen Frankfurter Schule haben Nachfolger wie Thomas Gsella oder Fritz Eckenga (beide mehr oder weniger lebendig) inspiriert und schließlich auch den jungen Mann aus Norddeutschland, von dessen erstem Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ (container press) hier gesungen werden soll: Philip Saß.

Saß ist zwar Debütant, aber bei den genannten Institutionen kein Unbekannter. Die Titanic-Redaktion schätzt ihn seit Jahren als hervorragenden Beiträger, bei Kunstmann machte er anderen Dichter:innen das Leben schwer, indem er neben ihnen in einer Anthologie glänzte. Und nun aber schnell dahin, wo es nicht nur glänzt, sondern auch schillert; nämlich in Saß’ Gedichtband.

Die Heide ist recht reich an Raum

(meist nutzt man ihn zum Wandern),

doch abgesehn von manchem Baum

arg arm an allem andern.

Alle Achtung, atemberaubende A-Alliteration! So schonungslos kritisiert Saß jedenfalls seinen Urlaub in der Lüneburger Heide. In zwei weiteren Strophen führt er seinen Heidenhass noch aus, aber man kann schon an dieser einen erkennen, dass sich hier einer in der Form zuhause fühlt. Die Kunst, so ins Formkorsett zu dichten, dass es kaum auffällt – Saß beherrscht sie. Da wird nicht krampfhaft im Satzgefüge umgestellt, damit es passt, es fließt einfach alles. Und wenn getrickst wird, dann richtig:

Der Wind weht sacht,

ja: lind. Und in d-

er Ferne lacht

ein Kind.

So einen Zeilenumbruch wie im „Depressiven Morgenlied“ muss man erst einmal hinbekommen. Aber das macht die komische Lyrik eben aus: Es ist nach Gernhardt für sich gesehen schon albern, sich an Jahrtausende alte Formen zu halten, ein bisschen Witz bekomme man als Dichter dadurch einfach so geschenkt. Und wer die Form blind beherrscht, kann anfangen zu spielen, um das Vergnügen noch zu steigern. Saß lässt in „Abschaffung der Schwerkraft“ kaum eine Gelegenheit dazu aus.

Besonders sticht der Band durch die Formenvielfalt hervor. Da gibt es nicht nur ein paar Sonette und ABAB-Hits zum Mitschunkeln. Nein, Saß hat wahrscheinlich in alten englischen Folianten und weiß Gott wo ausgefallene Gedichtformen ausfindig gemacht und füllt die Gefäße mit seinen Ergüssen. Ein Geheimnis macht er aus seiner Methode nicht:


Find ein Versmaß und bespiel es (aber kein zu diffiziles),
und wenn dir keins einfällt: Stiehl es!

So empfiehlt es Saß in „Rat“, das sich im Abschnitt „Kunst“, dem dritten des Bandes, findet, die anderen beiden Kapitel heißen „Gunst“ und „Dunst“. Schön, dass auch hier auf den Reim geachtet wurde. Leider geht es im etwas langen Kunstteil des Buches in zu vielen Versen ums Dichten selbst. Schön wäre: ein bisschen weniger Metaware. Nicht ganz so viel von Nabelschau, dafür noch was zu Kabeljau. Denn wer Saß‘ „Lob des Rosenkohls“ liest, bekommt Appetit auf mehr:

Der Käfer frisst am liebsten Mist,

   weil ihn sein Duft betörte,

und der Gourmet genießt Filet,

   das einem Reh gehörte.

Mir dünkt derlei Vergnügen hohl,

ich brauche nichts als Rosenkohl.

[…]

Ich wiederhol: O Rosenkohl,

   ich mag nichts anderes kochen;

statt Karfiol und Sanostol

   verzehr ich schon seit Wochen

nur Rosenkohl, nur RO-SEN-KOHL!

(Ich höre auf, mir ist nicht wohl.)

Der Streit darüber, ob Rosenkohl genießbar sei, brachte in den letzten Jahren vor allem auf Twitter bereits zahlreiche Späße hervor. Sogar bedeutende zeitgenössische Schriftsteller positionierten sich zum meistgememeten Gemüse. Saß aber geht weiter und hebt das profane Für und Wider Rosenkohl in eine beinahe schon göttliche Form, die Trost und Segen spendet. Auch das lässt sich in die Tradition der Neuen Frankfurter Schule einordnen, wenn man sich an Eckhard Henscheids kunstvolle Romane erinnert, in denen Schnapsgetränken wie dem Sechsämtertropfen Hunderte Seiten gewidmet wurden.

Nicht Wunder nimmt es da auch, dass einige Gedichte regelrecht und im besten Sinne satirisch daherkommen. Das Sonett „Tellkamps Lied“ sei hier – der Verlag wird es bestimmt erlauben, weil es beste Werbung für das Buch ist – vollständig zitiert:

Der Dichter gilt nichts mehr in deutschen Landen.

Man blickt auf ihn, als schriee er in Brunft:

Einst habt ihr treu vor meinem Turm gestanden,

jetzt macht ihr ihn zur Flüchtlingsunterkunft.

Wann kam der Sinn fürs Schöne euch abhanden?

Woher der Hass auf meine rechte Zunft?

Los, liebt doch mich und nicht den Muselmann, denn

allein aus mir spricht die Vernunft. –

Doch ihr in den Gesinnungskorridoren

begehrt, ein weises Maul wie meins sei stumm!

Statt Statuen für mich wird Minarett

um Minarett gebaut … Ich hab verloren

und nun nicht einmal mehr ein Publikum

(nur Nazis, Suhrkamp und die FAZ).

Besser geht es nun wirklich nicht, und es sind nicht die einzigen Strophen in diesem Band, die in Perfektion verfasst sind. Ganz egal, ob Saß die Grabrede auf einen Querdenker vorlegt oder ob er über Liebe, Ufos, Skispringer oder Jump ’n’ Runs dichtet. Zur Vielfalt in der Form kommt bei ihm die thematische, sodass man sich fragt, warum Saß bisher zwar Publikums- und Jurypreis des (fantastischen!) Großer-Dinggang-Lyrikwettbewerbs in Menden (Sauerland) gewonnen hat, noch nicht aber alle hochdotierten Preise der DACH-Region. Das kann, das muss jetzt kommen.

Denn dank Philip Saß funkelt es mystisch in der Nische für komische Lyrik. Sein Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ ist ein sagenhaftes Werk, das zudem noch einlöst, was der Titel verspricht. Die strenge Form hat Gewicht, und vielen Dichter:innen gelingt es nicht, dieses aufzuheben. Die Eleganz und Leichtigkeit der Saßschen Verse aber bringt die Form federleicht zum Schweben.

Philip Saß: Abschaffung der Schwerkraft. Container press, 2023. 140 Seiten, 12 Euro.


Foto von Anastasiia Kamil auf Unsplash

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