von Marcel Krueger
Ein deutscher Journalist hat mich mal gefragt: „Ein Comic über Auschwitz – ist das nicht schrecklich geschmacklos?“ Meine Antwort war nein. Ich denke, Auschwitz war schrecklich geschmacklos.
– Art Spiegelman, 2012
Zwischen Oktober 1966 und Februar 1967 nahm der Historiker, Autor und Holocaustüberlebende Joseph Wulf, begleitet vom Pianisten Friedrich Scholz, neun Lieder in einem Theatersaal in West-Berlin auf. Darunter befanden sich ein Werk des jiddischen Volksdichters Mordecai Gebirtig, zwei chassidische Melodien, zwei Lieder des polnischen Komponisten Jakub Weingarten sowie zwei Lieder, die Wulf selbst geschrieben hatte. Aufgeführt hatte er sie ursprünglich einmal in von ihm organisierten Liederabenden im Konzentrationslager Auschwitz-Monowitz (Auschwitz III). Jedes Stück wird in der Aufnahme aus den Sechzigern mit Titel und Komponist von Wulf mit tiefer, emotionsloser Stimme angekündigt. In den Liedern selbst zeigt sich, dass er kein besonders guter Sänger ist: Wulf trifft nicht immer jeden Ton, ab und zu bricht seine Stimme. Eines der von Wulf komponierten und aufgezeichneten Lieder, „Zunenshtraln“ (Sonnenstrahlen), untermalt eine der zentralen Szenen im kürzlich oscarprämierten Film “The Zone of Interest” von Jonathan Glazer.
Joseph Wulf mag auf den ersten Blick wie eine fast tragische Figur erscheinen. Er wurde 1912 in Chemnitz in eine polnisch-jüdische Familie geboren und wuchs in Krakau auf, wo er nach der Schule eine Ausbildung zum Rabbiner begann. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 wurde er zusammen mit seiner Familie ins Krakauer Ghetto deportiert, wo Wulf sich einer jüdischen Widerstandsgruppe anschloss. 1943 wurde er dann ins Konzentrationslager Monowitz gebracht und konnte kurz vor Kriegsende bei einem der Todesmärsche fliehen. Danach blieb Wulf zunächst in Polen, wo er von 1945 bis 1947 Mitglied der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission war, die die Verbrechen der Nazis dokumentierte. 1947 emigrierte er nach Paris und gründete dort das Zentrum für die Geschichte der polnischen Juden. 1952 zog er dann freiwillig ins Land der Täter nach Berlin, wo er als Mitarbeiter der Bundeszentrale für Heimatdienst (dem Vorläufer der Bundeszentrale für politische Bildung) vor allem über die Veröffentlichung seiner Bücher versuchte, die bundesdeutsche Gesellschaft umfassend über die Verbrechen im Nationalsozialismus zu informieren. Diese Bücher, vor allem die fünf Bände seiner „Kultur im Dritten Reich“, beleuchten anhand von NS-Originaldokumenten und -aussagen Ereignisse wie die Gleichschaltung von deutscher Literatur, Film und Theater nach 1933 oder die Plünderung von Kunst in ganz Europa.
Von 1965 an forderte Wulf die Einrichtung eines internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus in der Berliner Villa, in der am 20. Januar 1942 die Wannsee-Konferenz stattgefunden hatte. Für dieses Vorhaben fand er zwar weltweit prominente Unterstützer, der West-Berliner Senat war jedoch nicht bereit, das Gebäude freizugeben. DerRegierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) behauptete 1967 sogar, dass eine Gedenkstätte im Haus am Wannsee Neonazismus und Antisemitismus fördern könne. Insgesamt stieß Wulf trotz Auszeichnungen wie dem Leo-Baeck-Preis (1961) oder der Verleihung der Ehrendoktorwürde der FU Berlin auf wenig öffentliche oder akademische Resonanz oder Wertschätzung; von keinem akademischen Institut wurde er zur ständigen Mitarbeit auf seinem Gebiet berufen; die gescheiterten Bemühungen um ein Dokumentationszentrum am Wannsee zermürbten Wulf. Am 10. Oktober 1974 verstarb er durch Suizid in Berlin. Im letzten Brief an seinen Sohn David vom 2. August 1974 drückt er seine Enttäuschung aus: „Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“
Der letzte Satz dieses Zitats zeigt, wie passend es ist, dass Wulfs Stimme und sein Akt des geistigen Widerstandes, das Komponieren im Todeslager, im neuen Film von Jonathan Glazer auftaucht. Auch hier spielen die Blumen und das Häuschen der Massenmörder eine zentrale Rolle. „The Zone of Interest“, auf Deutsch etwa „Interessensgebiet“, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Martin Amis und zeigt in einer Reihe von sommerlichen Szenen im Jahr 1943/44 die familiären Abläufe im Haus des Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, gespielt von Christian Friedel, und seiner Frau Hedwig, dargestellt von Sandra Hüller, und ihrer fünf Kinder. Der Film spielt größtenteils im Haus und Garten direkt an der Mauer zum Vernichtungslager, doch außer dem kurzen Einspieler der Stimme von Wulff und der Anwesenheit einiger Häftlingen, die im Haus und Garten arbeiten, wird hier kein Opfer, keiner der Abläufe im Lager direkt gezeigt. Als Zuschauer*innen wird uns kein Blick über die Mauer gewährt, die die von Hedwig Höß gepflanzten Rosen, Sonnenblumen und den Kohlrabi von den Schrecken der anderen Seite trennt. Stattdessen genießt die Familie Picknicks am Fluss und Geburtstagsfeiern im liebevoll gepflegten Garten mit Pool. Im Haus wechselt die Kameraführung, sie folgt den Bewegungen der Protagonisten von Raum zu Raum, fast einer Big-Brother-Produktion ähnelnd, und fängt banale häusliche Szenen ein: die Kinder, die auf dem Weg zur Schule zur Eile angetrieben werden müssen, und Gespräche über Urlaubspläne im Ehebett.
Obwohl oder gerade weil man nur diese häuslich banale Idylle zu Sehen bekommt ist eine der Sachen, die den Film aber so außergewöhnlich machen, ein nagendes Gefühl des Grauens. Es erfasst den Zuschauer nach den ersten Minuten im Hausund lässt ihn bis lange nach Ende des Films nicht mehr los. Der Horror ist größtenteils unsichtbar, aber konstant: Auf der einen Seite hervorgerufen durch das schrecklich eindrucksvolle Sounddesign von Johnnie Burn: ein konstantes Schreien, Lärmen und Knallen von Schüssen aus der Todesfabrik, das jede Gartenszene untermalt, das Rattern ankommender und abfahrender Güterzuge und das dumpfe Wummern, das die aus den Schornsteinen der Krematorien aufsteigenden Flammen und Rauch begleitet; auf der anderen durch das Einsickern der Verbrechen in den häuslichen Alltag. Nachdem sie einige offensichtlich von Opfern geraubte Kleidungsstücke an die Bediensteten im Haus verteilt hat, probiert Hedwig ihre eigene Beute alleine im Schlafzimmer an und findet dabei in der Tasche des glamourösen Pelzmantels einen Lippenstift. Bei einem Ausflug mit seinen jüngsten Kindern im neuen Kanu wird Rudolf Höß bei einer Bade- und Angelpause von einem Strom aus menschlicher Asche im Fluss überrascht. Der ältere Bruder liegt mit einer Taschenlampe in seinem Hochbett und untersucht Zähne. Der jüngere Bruder sitzt allein in seinem Zimmer, spielt mit Würfeln und tritt ans Fenster, als etwas seine Aufmerksamkeit weckt. Wir hören einen Aufruhr, Schreie aus dem Lager, und dann Rudolfs Stimme, die eine Erklärung verlangt. Ein Mann habe sich mit einem anderen um einen Apfel gestritten, wird ihm gesagt. „Bring ihn her“, sagt die Stimme des Vaters. „Ertränk ihn im Fluss.“
Einige wenige Szenen durchbrechen fast die Vierte Wand zum Zuschauer: Während Höß seinen Kindern im Off Märchen vorliest, klettert nachts ein polnisches Mädchen aus der Nachbarschaft in die Baustellen und Arbeitsbereiche rund um das Lager und versteckt hier Äpfel für die Häftlinge. Die Szenen sehen aus, als wären sie durch ein modernes Nachtsichtgerät gefilmt, durch das wir wie ein Aufseher die Vorgänge beobachten. In einer diese Szenen entdeckt das Mädchen eine von einem Häftling hinterlassene Dose mit ein paar Blättern mit dem Text und den Noten von „Zunenshtraln“, welches es dann am nächsten Tag, bei Tageslicht und normalen Kameraeinstellungen, auf dem heimischen Klavier nachspielt – neben einigen wenigen Musikeffekten und Chorstücken von Mica Levi die einzige Musik, die im Film erklingt.
Es gibt wenig internationale und vor allem deutsche Filme aus den letzten Jahrzehnten, die den Holocaust zum Thema haben und sich mit „The Zone of Interest“ vergleichen lassen. „Schindlers Liste“ gehört nicht dazu, es gibt hier keinen „guten Deutschen“, oder gar effekthaschende kinematografische Schauerelemente, bei denen der Zuschauer bangt, ob nun Wasser oder Zyklon B aus den Duschköpfen strömen wird. Kein sicherer, voyeuristischer Blick aus dem Kinosessel auf den wirren Megalomanen im Führerbunker wie in „Der Untergang“ wird dem Zuschauer gewährt, williges Material endloser Memes. Es gibt nur den kalten Blick auf die Täter*innen und ihre Mitläufer*innen.
Von der Schockwirkung am nächsten scheinen Filme und Serien aus den späten 1970er Jahren, einer Zeit in der in Westdeutschland, kurz nach Joseph Wulfs Tod, die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der eigenen Schuld endlich eine gesamtgesellschaftliche Dimension erreichte: Serien wie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ von 1978, besonders aber der Film „Aus einem deutschen Leben“ von Regisseur Theodor Kotulla aus dem Jahr 1977. Basierend auf dem 1952 erschienene Roman des französischen Schriftsteller Robert Merle „La mort est mon métier“ (Der Tod ist mein Beruf), der auf den Verhörprotokollen aus dem Kriegsverbrecherprozess gegen Rudolf Höß und auf dessen autobiografischen Notizen beruht, wird hier in einem Psychogramm die Lebensgeschichte des KZ-Kommandanten erzählt, gespielt von Götz George. Das Spiel von George und Christian Friedel gleicht sich: Beide spielen den Mörder glattrasiert, mit distanziertem Gesichtsausdruck und wenig Empathie, selbst für die eigene Familie. Der Ekel vor dem eigenen Tun ist immer vorhanden, aber durch absoluten Befehlsgehorsam unterdrückt. Beide spielen Rudolf als pedantischen Bürokraten mit dünner Stimme (bei Friedel kommt noch die nach hinten gestriegelte Despotenfrisur hinzu), dessen bedingungsloses Engagement für den Nationalsozialismus ihm einen raschen Aufstieg innerhalb der SS ermöglicht hat.
Im Gegensatz zu der von Elisabeth Schwarz gespielten Frau des Kommandanten, die im Film von 1977 ihren Mann (erfolglos) mit seinen Taten konfrontiert, jubelt Sandra Hüllers Hedwig stattdessen über ihren gesellschaftlichen Aufstieg. „Du bist auf jeden Fall auf deinen Füßen gelandet!“ sagt ihre Mutter bei einem Besuch im Garten zu ihr, nachdem sich beide fragen, ob sich die wohlhabende jüdische Dame, bei der die Mutter früher geputzt hat, jetzt auf der anderen Seite der Mauer befindet. Insgesamt ist es das großartige Zusammenspiel von Friedel und Hüller, das die Banalität der Familie Höß vorführt und uns gleichzeitig einen Spiegel vorhält: In manchen Szenen ertappt man sich dabei, wie man mit den beiden fast mitfühlt – etwa während des Streits, bei dem Hedwig sich weigert, Auschwitz zu verlassen, nachdem Rudolf die Nachricht seiner Beförderung und Versetzung nach Oranienburg erhalten hat.
Folgt man der gegenwärtigen Diskussion um Erinnerungskultur in Deutschland, könnte man meinen, dass wir uns aus der Rolle der Täter befreit haben, um Beobachter und moralische Richter zugleich zu sein. Glazers außergewöhnlicher Film führt diese Vorstellung ad absurdum und konfrontiert seine deutschen Zuschauer*innen mit einer Selbstbetrachtung wie es lange kein Film mehr über den Holocaust getan hat. “The Zone of Interest” zeigt, wie lange man doch unter Umständen bereit ist, um der eigenen kleinen privilegierten Welt willen viele dramatische Entwicklungen um einen herum zu ignorieren, und sogar willfährig Teil einer Mordmaschine zu werden. In einer Zeit, in der Menschen in Deutschland ihre Vorfahren zu großen Teilen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus oder als Helfer untergetauchter Juden verorten würden, ist ein Blick auf den täglichen Umgang mit dem Horror direkt hinter der Gartenmauer essentiell. 10.000 bis 12.000 deutsche Juden haben versucht, der Deportation durch Untertauchen zu entgehen, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand geht von etwa 5.000 Überlebenden aus. Tatsächlich geholfen haben rund 10.000 nichtjüdische Deutsche – bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Millionen im Deutschen Reich.
Wie so häufig braucht es Außenstehende, um den Deutschen einen Spiegel vorzuhalten. Der Film des englisch-jüdischen Regisseurs Jonathan Glazer steht in einer Linie mit den Büchern Joseph Wulfs: Hier sprechen die deutschen Täter und Mitläufer selbst im Amtsdeutsch von ihren Taten – und entblößen sich dabei. Wulf wird auch in den letzten Jahren endlich als Vorreiter in der NS-Forschung gewürdigt. So stützte sich zum Beispiel die Unabhängige Historikerkommission, die 2005 eingesetzt wurde, um die Geschichte des Auswärtigen Amts und des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen, auf seine Dokumentationen. Wulfs Vision einer Gedenkstätte am Wannsee wurde schließlich 1992 mit der Eröffnung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz verwirklicht; die dortige Bibliothek trägt seit Wulfs 20. Todestag 1994 seinen Namen. Im Jüdischen Museum in Berlin wird sein vielzitierter letzter Brief präsentiert, 1996 wurde an seinem Berliner Wohnort Giesebrechtstraße 12 eine Bronzetafel zu seinem Gedächtnis angebracht. Der Stimme Joseph Wulfs kann man heute im Archiv des United States Holocaust Memorial Museum lauschen: Der Journalist Henryk M. Broder, der 1981 einen Dokumentarfilm über Wulf veröffentlichte und die Aufnahmen in seinem Besitz hatte, hat sie dem Museum vermacht. Wulfs Arbeit, sein Widerstand in der Musik und sein kurzer Moment in Jonathan Glazers Meisterwerk bieten uns einen radikalen Ausdruck der Hoffnung. Allerdings ohne deutsches Zutun.
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