von Matthias Warkus
Das größte globale kulturelle Einzelereignis der Moderne, wenn nicht aller Zeiten, war die amerikanische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg. Das größte regelmäßig wiederkehrende globale kulturelle Phänomen der Moderne ist Weihnachten in seiner aktuellen Fassung als säkularisierte, transnationale atmosphärische Veranstaltung. Es liegt auf der Hand, dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte.
Und in der Tat gibt es ein Konvolut äußerst bekannter kultureller Äußerungen am exakten Berührpunkt beider Phänomene, nämlich die anlässlich von Weihnachten entstandene amerikanische Popularmusik aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Kern des Kanons der amerikanischen »Christmas Songs« verdankt sich den »Kriegsweihnachten« 1941 bis 1944.
Das Flaggschiff ist dabei »White Christmas«, uraufgeführt am Weihnachtstag 1941, achtzehn Tage nach dem Angriff auf Pearl Harbor. Bis heute handelt es sich dabei mit vermutlich über 100 Millionen verkauften Exemplaren – alleine 50 Millionen von der Originalaufnahme mit Bing Crosby –, um die erfolgreichste Single aller Zeiten, und den mit mehr als 500 Versionen meistgecoverten Weihnachtssong überhaupt.
Mit »White Christmas« war der Markt für säkulare Weihnachts-Popsongs etabliert. Ihm folgte unter anderem das außerhalb der USA weniger bekannte, aber dort enorm beliebte Medley »Happy Holiday/The Holiday Season« (1942). Wieder an das nostalgische, melancholische Muster von »White Christmas« halten sich »Have Yourself a Merry Little Christmas« und »I’ll Be Home for Christmas« (beide 1943), die das Motiv endgültig auf den Punkt bringen. Vor allem um diese beiden letztgenannten Lieder soll es mir im Folgenden gehen.
Ich möchte aber zuvor wenigstens erwähnen, dass danach noch »Let it Snow, Let It Snow, Let It Snow« und »The Christmas Song (Chestnuts Roasting on an Open Fire)« entstanden, beide im Juli 1945, als der Pazifikkrieg noch nicht beendet war und man durchaus damit rechnete, die Kampfhandlungen bis weit ins Jahr 1946 fortsetzen zu müssen: Die Invasion der japanischen Hauptinseln war vorläufig für den 1. November 1945 (Südkyushu) und den 1. März 1946 (Honshu) angesetzt.
Bereits 1944 hatte spätestens das letzte Aufbäumen Deutschlands in der Ardennenoffensive ab dem 16.12. an der amerikanischen »Heimatfront« für ein deprimiertes und enttäuschtes Weihnachten gesorgt. Das Gefühl, in einer apokalyptischen Endzeit, einem nie enden wollenden, immer weiter ins Unvorstellbare eskalierenden Krieg zu versinken, setzte sich fest. Lee Sandlin schreibt 1997 in »Losing the War«, einem der sicherlich besten essayistischen Texte über die amerikanische Kriegsbeteiligung überhaupt:
Sogar in Amerika, der am wenigsten beschädigten aller am Krieg teilnehmenden Nationen, griff das letzte Kriegsjahr dann doch die Grundbedingungen des Lebens an. Nachdem jener übermütige Sommer der Erwartung [1944] vorbei war, wurde die Lebensmittelrationierung strenger als zuvor wieder eingeführt. Der Schwarzmarkt trocknete aus, und Rindfleisch wurde zum ersten Mal seit Kriegsbeginn knapp. Zum Jahresende hin herrschte ernsthafter Mangel an Heizöl, mitten im kältesten Winter seit zehn Jahren. An beiden Küsten wurden die Städte nachts immer noch verdunkelt, und um Brennstoffe zu sparen, ordnete die Regierung in den Städten des Mittelwestens »brownouts« an – alle Geschäfte hatten mit Einbruch der Dämmerung zu schließen. Zum ersten Mal seit Anfang des Krieges gingen auch in Chicago wie in allen anderen großen Städten der nördlichen Hemisphäre die Lichter aus.
Lee Sandlin 1997, Übers. M.W.
Für den Fall einer Invasion der japanischen Heimatinseln rechneten die amerikanischen Streitkräfte mit Verlusten, die jene des gesamten bisherigen Krieges übertreffen konnten. Zudem war damit zu rechnen, dass Japan mit Beginn der Invasion alle ca. 100 000 amerikanischen Gefangenen töten würde.
In diese Stimmung hinein lauten die ursprünglichen ersten Verse von »Have Yourself a Merry Little Christmas« angemessen endzeitlich:
Have yourself a merry little Christmas
It may be your last
Next year we will all be living in the past.
Aber auch die auf Wunsch der Erstinterpretin Judy Garland aufgehellte spätere Textfassung beschwört, dass man sich bald wieder – wenn das Schicksal es erlaubt – treffen möge wie in alter Zeit:
Once again as in olden days
Happy golden days of yore
Faithful friends who were near to us
Will be dear to us once more
Someday soon, we all will be together
If the fates allow
Bis dahin gilt es, sich weiter irgendwie durchzuwurschteln:
Until then, we’ll have to muddle through somehow
»I’ll Be Home for Christmas« ist noch desolater, denn die Pointe seines Texts ist gerade die, dass das lyrische Ich nur davon träumt, zu Weihnachten zu Hause zu sein:
I’ll be home for Christmas
If only in my dreams
Man könnte es so sagen: Das global standardisierte, melancholisch rückwärtsgewandte Midcentury-Weihnachtsgefühl, das Berit Glanz vergangenes Jahr in ihrem Beitrag über Weihnachtslieder in der Popkultur umrissen hat, hat als seinen finsteren Kern, wie hoffnungslos unerreichbar in New York oder Chicago 1944 ein Weihnachtsfest scheinen konnte, für das alle nach Hause kommen und bei dem es so viel Licht, Wärme und Essen wie vor dem Krieg geben würde.
Dass das Schema so gut funktioniert, hat natürlich auch damit zu tun, dass es erstens im Zusammenhang von Advent und Weihnachten auf der Linie zwischen dem christlichen Ursprung des Fests (und seinen etwaigen heidnischen Substraten) und dem heutigen säkularisierten, kanonisch nostalgischen Weihnachten ein überall dichtes Kontinuum von etablierten Zeichen gibt, die mit Hoffnung, Erlösung, Fremdheit, Heimkommen, Licht im Dunkeln, Vervollständigung von Familie und so weiter zu tun haben.
Zweitens war die konkrete Situation der amerikanischen Kriegsweihnacht bereits mit langanhaltender Melancholie aufgeladen, da das Land erst mit dem Krieg aus der Großen Depression herauskam und man je nach persönlicher Situation nicht bloß zwei oder drei Jahre zurückgehen musste bis zu einem »Weihnachten, wie es früher einmal war«, sondern deutlich mehr als zehn. Auch wenn es vor »White Christmas« noch keine Produktion kanonischer amerikanischer Weihnachtssongs gibt, ist das Muster von melancholischer Sehnsucht, nach einem schwach verschlüsselten Prä-Depressions-Früher bereits verfügbar. Nicht zuletzt schlägt Judy Garland in ihrer Person selbst die Brücke von »Over the Rainbow« zu »Have Yourself a Merry Little Christmas«.
– Das amerikanische Kriegsweihnachten 1944 war darum so außerordentlich desolat, weil ihm der euphorische Sommer 1944 mit der Hoffnung auf eine baldige Kapitulation der Achsenmächte vorausgegangen war, sich nun aber die dystopische Vorstellung eines nie mehr endenden Krieges breitmachte. Die Pointe dabei, im Dezember 2021 darüber zu schreiben, ist so offensichtlich, dass es mir fast ein bisschen unangenehm ist, sie auszubuchstabieren.
Ich habe am Samstag vor dem dritten Advent mit einem kleinen Chor im Nieselregen auf einem Feld nördlich der Marburger Innenstadt Adventslieder gesungen. (In der Stadt für Publikum zu singen war nicht genehmigt worden, da befürchtet wurde, es könnten sich Menschenmengen bilden.) Zu Beginn der zweiten Strophe von »Die Nacht ist vorgedrungen« überflog uns ein Intensivtransporthubschrauber und mir kamen fast die Tränen. Es ist geradezu gespenstisch, wie kulturelle Muster und Sinnzusammenhänge, massenfabrizierte Atmosphären, die ihre Wurzeln in andere Zeitalter strecken, sich sofort und bereitwillig an dem festmachen, was wir nun seit bald zwei Jahren »die aktuelle Situation« nennen.
Es überrascht daher nicht, dass unsere »aktuelle Situation« eine Epoche ist, die vermutlich einmal auch dafür bekannt sein wird, dass in ihr zuvor nie gekannte Mengen an Weihnachten hergestellt und verbraucht wurden – allein die amerikanische Fernseh- und Streamingindustrie präsentiert in der aktuellen Saison die Rekordzahl von mindestens 146 neuen Weihnachtsfilmen. Im ersten Covid-Winter 2020 war bereits eine Steigerung der Serienfertigung von Weihnachtsfilmen zu beobachten gewesen, auch aufgrund von größeren Anstrengungen konkurrierender Medienunternehmen wie Hallmark und Netflix, den Markt zu erobern.
Nicht alles, was mit Weihnachten und historischen Ausnahmesituationen zu tun hat, landet auch im dauerhaften atmosphärischen Inventar. So sind beispielweise die deutschen Kriegsweihnachten beider Weltkriege mit ihrer eigenen Atmosphäre aus Durchhalterhetorik, selbstgefälliger Askese zugunsten der Front und Chauvinismus völlig weggeschoben und verdrängt worden. Vermutlich entscheidet sich zwischen jetzt und Weihnachten 2022, ob auch die Pandemiewinter mit ihren Einschränkungen, ihrem Leid und ihrer Frustration in den Bauch des allesverschmelzenden popkulturellen Melancholie- und Hoffnungsmonsters Weihnachten einverleibt oder doch eher als Ausnahme ausgeklammert werden.
Foto von Kieran White