Von Gerrit Wustmann
Um Erinnerung, die Schwierigkeiten mit der Familie, die man sich nicht aussuchen kann, um Dazugehören und Nichtdazugehören und um ein Leben, das sich immer irgendwie zwischen zwei Stationen befindet, nie wirklich ankommt – darum geht es in Fariba Vafis Erzählung „Die Reise im Zug“ ( aus dem Persischen übersetzt von Nuschin Mameghanian-Prenzlow), die dieser Tage im kleinen Berliner Bülbül Verlag erscheint.
Es ist ein kurzer Text, kaum zwanzig Seiten, zweisprachig, in einer bibliophil ausgestatteten, von Ina Abuschenko-Matwejewa illustrierten Ausgabe. Dass solch kurze Texte einzeln erscheinen, nicht als Teil einer größeren Sammlung, ist nach wie vor ungewöhnlich, zugleich aber eine gute Idee. In Anthologien gehen einzelne Beiträge nicht selten unter, verschwimmen in der Masse der Geschichten, und wenn sie das Pech haben, auf einen schwächeren Text zu folgen, laufen sie Gefahr, flüchtig überlesen zu werden.Das ist nicht weiter schlimm bei populären Autor*innen, aber für die weniger bekannten ist es ohnehin schwer genug, aus der gigantischen Masse der jährlichen Novitäten herauszuragen.
Nun ist es nicht so, dass Fariba Vafi, Jahrgang 1962, nicht populär wäre – zumindest nicht in ihrer Heimat Iran. Ihre Romane und die bislang fünf Storysammlungen sind dort Bestseller, sie hat so ziemlich alle namhaften Literaturpreise des Landes abgeräumt. In Deutschland ist sie allerdings noch ein Geheimtipp. Trotz dreier übersetzter Romane (zuletzt „Der Traum von Tibet“, 2018, und „Tarlan“, 2016 mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet) und durchweg wohlwollender Presseaufmerksamkeit, sucht man ihre Bücher in den Bestenlisten vergeblich, obwohl sie dort eigentlich hingehören.
Die„Reise im Zug“ eignet sich wunderbar als Einstiegstext, denn wer ihn gelesen hat, wird umgehend auch die Romane lesen wollen. Die Universalität, die maximale sprachliche, und, damit einhergehend, atmosphärische Verdichtung, treibt Vafi in ihren kürzeren Texten auf die Spitze. „Die Reise im Zug“ liest sich, als hätte die Autorin einen umfangreichen Roman so weit wie es nur geht heruntergekürzt, auf seine absolute Essenz verknappt – und doch fühlt man sich hinterher, als hätte man eine Reise mitgemacht, einen ganzen Roman gelesen. Das ist eine hohe Kunst, die, man darf das sagen, nur wenige Autor*innen beherrschen, und zwar weltweit.
Worum geht es? Um eine Mutter und eine Tochter, die einander schon länger nicht gesehen haben. Die Tochter studiert in Berlin, die Mutter sitzt im Zug, unterwegs zu ihr, und während sie dort sitzt erinnert sie sich an ihre letzte Zugfahrt, die bereits zweiundzwanzig Jahre her ist, damals noch mit ihrer ungeborenen Tochter im Bauch. Eine Familienreise war das, zu einer Hochzeit, zehn Menschen in zwei Abteilen, Geschwister, Onkel und Tanten, kleine Kinder, der Ehemann hat sich in berufliche Verpflichtungen gestürzt, um der Reise nach Teheran zu entgehen. Und die Mutter? Sitzt zwischen der unablässig schnatternden Verwandtschaft, die ihr so fremd ist, und blickt aus dem Fenster. Die Landschaft rauscht vorbei, aber eigentlich ist es ihr Leben, das da vorbeirauscht. Immer mal wieder versucht sie, sich in die meist banale Konversation einzubringen, sie tut so, als würde sie von all den kleinen und großen Sticheleien nichts mitkriegen. Sie fühlt sich als Fremdkörper unter diesen Blutsverwandten, die ihr ferner nicht sein könnten, und diese wiederum merken das und lassen es sie spüren.
Und dann sitzt sie in dem anderen Zug, im Heute, mit ihr im Abteil zwei deutsche Frauen, die sich auf Deutsch unterhalten. Die Mutter versteht sie nicht, ist wieder isoliert, und als die Tochter anruft, um sicherzugehen, dass ihre Mutter die Haltestelle nicht verpasst, versichert diese, dass sie sich auf das Wiedersehen freut. Und man weiß: Sie freut sich nicht. Sie weiß nicht, wo und wer sie ist, aber eines weiß sie sicher: Dass sie die richtige Haltestelle schon vor Jahrzehnten verpasst hat.
Fariba Vafis Geschichten spielen meist auf engstem Raum. Mal im Schlafsaal einer Polizeischule für junge Frauen („Tarlan“), mal im Kreis einer Familie, unter deren Oberfläche es brodelt („Der Traum von Tibet“) oder im Verhältnis eines Ehepaares, das aneinander vorbeilebt („Kellervogel“). Das Zugabteil reduziert das Setting noch weiter, man denkt an Sartres Satz über die Hölle, ist aber nie ganz sicher, ob es wirklich die anderen sind, oder ob auf die anderen bloß projiziert wird, was im tiefsten Inneren der Protagonistinnen verborgen liegt: „Sie kam sich vor wie eine Passagierin, deren Koffer inspiziert und dem etwas Wertvolles entnommen worden war. Das Getue der Familie verstärkte dieses Gefühl in ihr“, heißt es an einer Stelle der „Reise im Zug“. Ein verlorener Schlüssel steht an anderer Stelle stellvertretend für die Suche nach einem Zugang: Zur Familie, zu sich selbst, zur Welt.
Und während man liest, fragt man sich unwillkürlich: Wo habe ich meinen Schlüssel eigentlich verlegt? Hatte ich ihn je in der Hand? Nun, vielleicht: Die Literatur kann so ein Schlüssel sein. Fariba Vafi weiß das. Es spricht aus jeder Zeile ihrer Bücher.