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Anleitung zum Auswandern  

von Natalia Sadovnik

Zuerst machst du den Fernseher kaputt.

Natürlich sagst du deiner Mutter, es sei der Kater gewesen, wenn du die hässliche Blumenvase umstößt, während ein Film mit Jackie Chan läuft und du deinen Tornado-Tritt praktizierst. Zack, läuft das Wasser schon durch das Lautsprecher-Gitter und füllt die Innenseiten des aufgeblähten sowjetischen Schwarz-Weiß-Fernsehers, der selbstgenügsam auf dem glattpolierten Holzregal thront, seit du dich erinnern kannst.

Du hast schon oft Sachen zerbrochen, inzwischen ist es Teil deiner Identität. Aber es ist einfacher geworden, seit der Kater da ist. Ihn schlägt deine Mutter fast nie, vor allem nicht, wenn sie es erst herausfindet, nachdem das Verbrechen bereits verjährt ist. Meist merkt sie nur, dass du an den Abenden stiller bist, an denen sie zu einem kaputten Fenster, dem Loch in der Wand oder dem verschütteten Parfüm nachhause kommt. Dann weiß sie, etwas ist im Busch. Doch gibt es in eurer Wohnung trotz ihrer Größe zu viele Ecken, die sie untersuchen müsste. Und meist ist sie dafür viel zu müde.

Du wirst also über den Fernseher lügen. Deine Mutter wird dir glauben oder nicht, in jedem Fall wird sie den Reparaturmeister anrufen.

Während er über dem auseinander geschraubten Fernseher kniet, wirfst du dein Haarband auf den Perserteppich an der Wand über deinem Bett, sodass der Kater ihm hinterher springt. So bekommst du die Geschichte deiner Auswanderung von Anfang an mit.

„Was machst du noch hier?“, fragt der Meister deine Mutter, während er die Innereien des Fernsehers herausschraubt. Er selbst geht in zwei Monaten aus Odessa weg.

„Wo soll ich denn hin?“, fragt deine Mutter, und die Frage erscheint dir sehr logisch, im Gegensatz zu dem Rest, der später passiert.

Er schließt seinen Koffer, wischt die grauen Haarsträhnen von der verschwitzten Stirn ab und sagt:

„Ich habe einen Mann für dich.“

„Wen denn?“, lacht deine Mutter.

„Einen guten. Meinen Schwiegervater.“

„Will der auch nach Deutschland? Nein, Mischa. Lass mich“, winkt sie ab. Sie sieht plötzlich ernster und älter aus. 

***

Dann musst du sehr krank werden. Du wirst sowieso oft krank, aber diesmal sind es die Bronchien. Ein paar Wochen lang kannst du schlecht atmen, deine Mutter sitzt an deinem Bett und wechselt die feuchten Tücher an deiner Stirn. Wenn es dir besser geht, simulierst du noch ein paar Tage länger, um im Bett zu lesen und zu essen, was du sonst nicht darfst. Danach schreit deine Mutter dich noch wochenlang nicht an und zwingt dich auch nicht, den Borschtsch aufzuessen, den du erst viele Jahre später mögen wirst.

Als nächstes klingelt der Gasmann. Deine Mutter öffnet nicht. Das Telefon ist das einzige, das sie in den letzten zwei Jahren bezahlt hat, denn das kann dezentral abgeschaltet werden. Für alles andere müsste jemand in die Wohnung kommen. Oft bist du allein zuhause, wenn jemand klingelt. Natürlich machst du nie auf, aber du kletterst auf die Heizung in der Küche und versuchst, aus dem kleinen Fenster zu spähen. Auch im Sommer lasst ihr nicht mehr die Tür auf. Wegen der Besuche der Kommunalverwaltung, aber auch weil der Kater sonst weglaufen könnte.

***

Du musst sehr gut in der Schule werden. Aber das fällt dir eh leicht, du magst es dort, auch wenn du es nie zugeben würdest. Du könntest den ganzen Tag lesen und Aufgaben lösen und verstehst nicht, warum sich sonst niemand dafür interessiert. Du hast Freundinnen, obwohl jede von ihnen früher oder später immer weniger mit dir redet und sich schließlich zu jemand anderem setzt. Aber du versuchst, dazuzulernen. Du hebst nicht mehr als einzige deine Hand. Und wenn deine Ukrainischlehrerin vor der ganzen Klasse sagt, deine Rechtschreibung käme von Gott, weißt du bereits: Das wird deine Beliebtheit nicht steigern.

Du bekommst Übung darin, deine Gesichtszüge zu Stein werden zu lassen: Schmale Lippen, ein klarer Blick vor dich hin. In Mathe verstehst du zwar immer weniger, aber nachdem du deine Klausur beendet hast, hast du meist noch die Zeit, mit deiner Sitznachbarin Lena leise die Papiere zu tauschen und auch ihre Aufgaben zu lösen. Vielleicht ist das der Grund, warum sie am längsten an deiner Seite bleibt.

Sie trägt eine hübsche Uniform mit dem plissierten Rock, ihr Gesicht ist rund und flach, die Augen weit auseinander, ein trübes Grün. Sie ist auf eine beeindruckende Art normal: Ihre Haare sind dunkelblond, sie hat beide Eltern, eine ältere Schwester und sogar einen Labrador, eine Art von Hund, von der du noch nie etwas gehört hast. Sie mag englische Bands, die du nicht kennst, mehr noch, sie hat manche davon schon live gesehen. Eine Woche lang redet sie nur über Kakteen und schreibt in alle Freundschaftsbücher, Kaktus sei ihre Lieblingspflanze. Das fehlt dir: Dinge, die du deins nennen kannst. Du wüsstest nicht, wie du dich für eine Lieblingsblume oder eine Lieblingsfarbe entscheiden sollst. Dinge einzuteilen, das war noch nie deine Stärke. Zumal niemand anderes lila zu mögen scheint und du dir wie eine Idiotin vorkommst.

Nach Schulschluss geht ihr beide langsam nach Hause, die Rucksäcke lässig an einer Schulter hängend, ihrer hellrosa, fast beige, und deiner alt und abgewetzt, wieder in diesem viel zu emotionalen Lila. Wenn sich eure Wege am Milchladen trennen sollen, gehst du normalerweise noch ein Stück mit ihr mit, auch wenn es die entgegengesetzte Richtung ist. Es sind nur zehn Minuten, du genießt die Sonne und die Gespräche mit ihr. Am letzten Schultag holen ihre Eltern sie ab und du gehst allein nachhause. Der Weg ist unangenehm kurz.

Nach den Sommerferien erfährst du, dass sie umgezogen ist. Du fragst dich, warum Menschen immer irgendwohin gehen müssen und nie einfach am selben Ort bleiben können.

***

Du musst immer noch gute Noten bekommen, trotz deiner Matheprobleme, außerdem liest du sehr viel. Also beschließt deine Mutter, dich auf eine jüdische Schule zu schicken. Sie ist öffentlich und daher kostenlos, aber viel besser als deine reguläre Schule.

„Ausgebucht“, sagt die Schulleiterin, eine Nichtjüdin, wie deine Mutter später betonen wird.

„Aber es ist Mai. Das Auswahlverfahren hat noch nicht einmal begonnen.“

„Nun, unsere Plätze sind begrenzt…“

„Sie haben gar nicht gefragt, in welche Klasse meine Tochter geht.“

„Wie bitte?“

„Sie ist sehr intelligent.“

„Schön, aber…“

„Gibt es oder gibt es keine freien Plätze für eine Zehnjährige?“

„Nun. Ich müsste erstmal ihre Noten sehen.“

Deine Mutter steht auf. „Ich lasse ihre Dokumente hier“, sagt sie und legt die Mappe auf den Tisch vor der Schulleiterin. „Und komme in einer Woche wieder.“ Die Schulleiterin betrachtet die Mappe und steht nicht auf.

Draußen stößt deine Mutter auf Sergej, einen einstigen Liebhaber ihrer besten Freundin.

„Was machst du hier?“, fragt er.

„Ich versuche, meine Tochter reinzukriegen.“

„Ach? Vielleicht sitzt sie ja bald neben Saschka. Er wurde gerade aufgenommen.“

Deine Mutter schaut auf. „Dein Sohn? Wie ist er denn reingekommen?“ Mit er meint sie – kein Jude.

Er lacht und reibt seinen Daumen gegen den Zeige- und Mittelfinger.

„Ja, das hat sie gerade auch bei mir versucht“, schnaubt deine Mutter.

„Was machst du eigentlich noch hier?“, fragt Sergej. Auch er hat nicht vor zu bleiben. Aber er braucht eine jüdische Frau. Allein lassen sie ihn nirgendwo rein, sagt er und zwinkert meiner Mutter zu. Sie winkt wieder ab. In der Nacht träumt sie von Müllbergen. Das bedeutet Geld, sagt deine Oma, die ein Buch über Traumdeutung geschrieben hat. Am nächsten Tag geht deine Mutter zum Markt. Sie trifft ihre Freundin Karina und ihre Schwester Sveta. Karina war einmal Lehrerin, jetzt verkauft sie Klamotten in einem Container auf dem „Siebten Kilometer“. Sveta wohnt seit zwei Jahren in Köln, weil ihr Mann eine jüdische Oma hatte. Nach einem mageren Einkauf lädt deine Mutter beide ein. Du sitzt auf dem Sofa und liest, während sie Wein aus Sektgläsern trinken.

„Was machst du eigentlich noch hier?“, fragt Sveta.

Deine Mutter erzählt ihnen von Sergejs Vorschlag. Was für ein Aferist, sagt sie.

„Du bist echt dumm“, sagt Sveta. „Du kannst doch jederzeit zurück.“

Deine Mutter guckt sie an. „Zurück?“

„Weißt du denn nicht, wie viel Geld du aus ihm rausschlagen könntest?“ 

„Zurückgehen“, sagt deine Mutter langsam. „Ja, das wäre möglich.“

Wenn sie gegangen sind, räumt sie die Sektgläser weg. Dann macht sie dir einen Salat aus Tomaten, Gurken und Radieschen und während du beim Essen liest, schaut sie lange aus dem Fenster. Dann nimmt sie das Telefon und ruft den Reparaturmeister an.

„Mischa“, sagt sie. „Ich habe nachgedacht.“

„Wir kommen in einer Stunde“, sagt er.

***

Der Mann, den deine Mutter heiraten soll, hat ein braunes, gesundes Gesicht und hervorquellende blaue Augen, weswegen er dich an einen freundlichen Esel erinnert. Seine Frau, zotteliges graues Haar und schwarze Augen, sieht aus wie eine zappelige Baba Yaga. Sie haben sich bereits scheiden lassen. „Hättest du nur einen Tag später angerufen, wären wir schon auf dem Weg nach Deutschland“, sagt Mischa. Sein Zug fährt um acht Uhr abends, danach steht ihm noch eine sechsunddreißigstündige Busfahrt bevor.

Die Baba Yaga grinst verlegen und sagt: „Am Ende verlässt er mich tatsächlich noch.“ Alle lachen sehr, sehr laut. 

***

Deine Mutter bekommt einen neuen Job als Kassiererin in einem Computerhandel. Es ist schon Winter, um fünf wird es dunkel, um sechs schalten sie den Strom ab, um sieben kommt sie nach Hause. Du darfst keine Kerzen anzünden, also setzt du dich für eine Stunde auf die Fensterbank und schaust auf die Straße. Die Straßenlaternen sind das einzige, was den Raum beleuchtet, allerdings sind die Schatten lang und deswegen versuchst du, nicht ins Zimmer zu gucken. Du spähst nach deiner Mutter, aber du siehst sie nie, wahrscheinlich kommt sie aus einer anderen Richtung. Ihr wohnt im Erdgeschoss. Du könntest die Passanten berühren, wenn kein Glas und Gitter zwischen euch wäre. Die meisten eilen mit eingezogenem Nacken vorbei und sehen dich nicht. Einmal bleibt ein Mann genau vor dir stehen und schaut dich an. Du erstarrst. Erst schaust du an ihm vorbei, als stünde er nicht da, dunkel und stumm, dann kommt dir ein günstiger Gedanke, eine glückliche Gewohnheit, die dich seit eh und je rettet: Lügen. Du stehst auf und winkst, winkst einem unsichtbaren Retter irgendwo in der Ferne, winkst so lange, bis der Mann endlich weggeht. Selbst zwanzig Jahre später, wenn das Haus, in dem du deine Kindheit verbracht hast, von der Landkarte verschwindet, wirst du manchmal von ihm träumen, wie er hinter dem verschnörkelten Gitter steht, ohne den Blick von dir abzuwenden.

Im Januar heiratet deine Mutter den freundlichen Esel im Standesamt am Operntheater. Du bist nicht dabei. Danach füllt sie die Formulare aus und schickt sie nach Deutschland. Die Wartezeit beträgt zwei Jahre. Deine Mutter bekommt die erste Rate vor dem Esel, und du probierst zum ersten Mal im Leben weiße Schokolade. Seit langer Zeit kommt niemand mehr, um die Gaskosten einzutreiben.

Du fragst deine Mutter: „Können wir in Deutschland eine Badewanne haben?“

„Bestimmt“, sagt sie. Und lacht.

Es ist wieder Sommer. Der Baum im Hof hat Aprikosen geworfen, du hast einen vollen Eimer gesammelt. Es wird das letzte Mal sein. Später vertrocknet er, die Erde wird mit Zement übergossen, der Hof als Parkplatz genutzt – aber erstmal kocht deine Mutter jede Menge Marmelade.

Während sie in der Küche steht und rührt, hört ihr einen Knall im Hof. Eure Tür ist offen, es ist ein schöner Sommertag und die Kommunalverwaltung wurde bezahlt. Deine Mutter rennt raus, du hinter ihr. Du siehst drei Schatten in blauen Overalls auf dem Boden. Einer bewegt sich langsam, als würde er in Zeitlupe schwimmen. Daneben Ziegelsteine, Betonplatten und ein umgestoßener Kübel mit weißer Farbe, die sich langsam auf dem Boden ausbreitet, bis unter den Arm des Mannes, der sich noch leicht bewegt.

„Geh wieder rein“, sagt deine Mutter ruhig und fest. Etwas in ihrem Ton duldet keine Widerrede. „Und rühr die Marmelade.“

Heb den Kopf. In der dritten Etage, wo früher ein Balkon war, klafft die Wand auseinander und gibt ihr Inneres preis, nur Drähte und Gitter. 

***

„Es wäre nicht passiert, wenn der dritte nicht raufgekommen wäre“, sagt Gala, die runzlige Nachbarin mit fleckiger Haut.

„Das wird nicht der letzte Balkon sein“, sagt deine Mutter. „Niemand kümmert sich. Wie immer.“

Gala nickt und wechselt das Thema.

 „Ich habe gehört, du ziehst nach Deutschland?“

Normalerweise erzählt deine Mutter den Nachbarn nie etwas Persönliches, aber heute ist sie freigiebiger.

„Wir haben gerade die Anträge abgeschickt.“

„Für Deutschland hatten wir uns auch angemeldet. Aber dann kam die Green Card.“

„Wann war das?“, fragt deine Mutter.

„Das ist schon zwei Jahre her. Bald müssten wir dran sein“, lacht Gala.

„Gala“, sagt deine Mutter plötzlich. „Haben Sie sie noch? Die Formulare?“

***

Der freundliche Esel zieht ein, für den Fall, dass die Konsulat-Mitarbeiter sehen wollen, ob die Ehe echt ist. Morgens, wenn du schon wach bist, bleibst du lange im Bett mit geschlossenen Augen, um nicht mit ihm reden zu müssen. In der ersten Woche kneift er dich immer wieder in die Wange und nennt dich Nachteule. „Er ist ein guter Mensch“, sagt deine Mutter. Und fügt hinzu: „Auch wenn er nicht viel im Kopf hat.“

Monate vergehen. Du beginnst die siebte Klasse. Deine Mutter hat das mit der neuen Schule aufgegeben, da du bald sowieso nicht mehr hier sein wirst – dank Galas Formularen geht das jetzt noch schneller als gedacht. Mathe ist nun in Algebra und Geometrie aufgeteilt. Du bist in beidem nicht gut. Lena ist in den Pausen immer öfter bei anderen Mädchen. Manchmal stellst du dich dazu, aber hast das Gefühl: Wärst du innerhalb einer Sekunde verschwunden, hätte es niemand bemerkt.

In der zweiten Schulwoche träumt deine Mutter von Feuer. „Freudige Botschaft“, sagt deine Oma dazu. Am nächsten Tag kommt der Brief mit der Einreise-Erlaubnis.

***

Deine Mutter bekommt die zweite Rate von dem Esel und kauft einen neuen Fernseher.  Der alte hat seit Wochen nicht mehr funktioniert. Eines Tages kommt ein Ehepaar, schaut sich die Wohnung an. Sie würden sich um den Kater kümmern, bis ihr ihn mitnehmen könnt. Die Frau hat schmale Augen und lange Haare, sie riecht nach Menthol-Zigaretten. Der Mann schaut sich hastig um, stellt kurze Fragen, die deine Mutter nur teilweise beantworten kann. Der Kater bleibt während des ganzen Gesprächs hinter dem Sofa und lässt sich erst wieder blicken, wenn die beiden gehen. 

Du erzählst Lena, dass du in einem Monat nach Deutschland ziehst. Sie nickt, als wüsste sie bereits Bescheid. Bald wissen es alle, aber niemand spricht dich darauf an. Für jedes Fach müsst ihr nun den Raum wechseln und meist setzt sich Lena nun auch im Unterricht zu jemand anderem. An manchen Tagen redet ihr gar nicht miteinander.

****

Am Bahnhof trinken alle Sekt aus Plastikbechern. Sieben karierte Taschen nehmt ihr mit. Und den Karton mit dem Fernseher. „Wo willst du nur hin?“, seufzt deine Oma, die selbst drei Jahre später nach Israel ziehen wird. Diesmal hat sie von schmutzigem Wasser geträumt. Das heißt schlechte Nachrichten. Als der Zug abfährt, trinkt deine Mutter Wodka und schweigt. Du bestehst darauf, oben zu schlafen. Du bist noch nie Zug gefahren. Es ist aufregend. Auch wenn du das Gefühl hast, dein Magen wäre auf den Gleisen geblieben.

Jahre später wirst du beteuern, wie leicht euch dieser Umzug fiel, der offiziell als Flucht bezeichnet wurde. „Das war doch keine Flucht“, wirst du denen sagen, die eines Tages tatsächlich fliehen werden.

Nach einem Tag Zug- und einem Tag Busfahrt kommt ihr müde und übel riechend in Schleswig-Holstein an. Ihr werden an einem großen Haus ausgesetzt, das dich an ein altes Krankenhaus aus einem viktorianischen Roman erinnert. Das Zimmer ist zwölf Quadratmeter groß, Hochbetten, du nimmst wieder das obere. Toilette und Dusche auf dem Flur. Was dir komisch vorkommt: Keines der Fenster in der Stadt hat Gitter. Es ist ein milder Herbst, aber die Stadt ist noch grün, nur wenige Bäume wechseln ins Braune und Gelbe. Die Enten in den Teichen, die kleinen freistehenden Häuschen: Bei Stadtspaziergängen fühlst du dich an Andersens Märchen erinnert. Deine Mutter mag die spitzen Dächer. Die Straßen sind meist leer. Einige alte Menschen drehen sich oft um und starren euch an. Als du zum ersten Mal einen Supermarkt betrittst, bist du beinahe ehrfürchtig. Nur den Kater vermisst ihr. Ihr redet häufig darüber, zurückzugehen, ihn mitzunehmen und heimlich in die Baracke zu bringen, nur solange ihr keine richtige Wohnung habt, wo Katzen erlaubt sind.  

Der Esel bringt dir bei, Fahrrad zu fahren. Seine Hände gleiten an deinem Rücken, bevor du in der Luft schwebst und dich mühelos durch den Hof der Baracke schlängelst, in die man euch versetzt hat. Du hast ein ramschiges pinkes Fahrrad, das dir wie ein Schatz vorkommt. Abends, wenn deine Mutter schon schläft, siehst du oft, wie der Esel Fernsehen schaut. Nackte Brüste, nackte Hintern, Männer, die sich als Frauen verkleiden, all das hast du noch nie gesehen.

Du drehst dich im Bett um und guckst mit. Eines Tages merkst du, dass er nicht den Bildschirm, sondern dich anguckt. Du drehst dich schnell um. Doch nun verändert sich alles. Nun verbindet euch etwas.

Dann fängt es an. Ein Halbsatz hier, ein Blick dort.

 „Was machst du denn, wenn ich dich schnappe?“

„Dann schlage ich Ihnen ins Knie“, sagst du.

„Dir, nicht Ihnen. Wir sind eine Familie.“

„Sind wir nicht!“

Deine Mutter kommt rein. Du rennst aus dem Zimmer.

***

Wenn sie fragt, erzählst du ihr alles, auch wenn es deiner Meinung nach nicht viel zu erzählen gibt. Als du am nächsten Tag aus der Schule kommst, sieht er dich nicht an. Deine Mutter stellt dir Essen hin. Er bekommt keins. Dann geht er raus und kommt erst spätabends zurück. So vergehen Wochen.

Langsam fangen sie wieder an, miteinander zu reden. Wenn niemand im Flur ist, gehst du raus und lässt die Tür leicht geöffnet. Du hörst, wie deine Mutter ihm sagt: „Die schmeißen dich aus dem Land, bevor du bis drei zählen kannst.“ Später belauschst du sie am Telefonautomaten, wenn sie ihre beste Freundin in Odessa anruft. „Bei mir kam er nicht weiter. Und dann das! Kannst du dir das vorstellen?“

Er bringt einen neu aussehenden grünen Sessel vom Schrott. Auch das wirst du später denen erzählen, die nach dir kommen: Schleswig-Holstein scheint ein Land zu sein, in dem man fast alles auf der Straße finden kann. Deine Mutter redet wieder normal mit ihm und stellt ihm auch Essen hin. Auch dich sieht er wieder an, aber fasst dich nicht mehr an. An Weihnachten schmückt ihr den Baum zusammen. Deine Mutter beobachtet euch. Sie sagt: „Wir könnten nachhause fahren. Zu Besuch. Wir haben genug Geld.“

Zwei Tage später kommt ein Anruf von den Untermietern. Der Kater ist weggelaufen. 

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Die Bestatter – Eine Erzählung

Auszug aus einer Erzählung von Thilo Dierkes

Der Test sollte Heranwachsenden, die dem Thema bisher mit zu viel Fantasie begegnet waren, eine genaue Vorstellung ihres beruflichen Werdegangs geben. Durchgeführt wurde er im Hauptsitz der Arbeitsagentur, am Ende einer langen Abfolge von Furnierholztüren und kryptischen Raumbezeichnungen. Fragen, die über einen Röhrenbildschirm flackerten und auf die psychische Verfasstheit der Getesteten abzielten: Wie viel Zeit benötigen Sie, um in einem beliebigen Café Ihre Bestellung zu formulieren? Was fühlen Sie beim Anblick eines Rapsfeldes? No7 rutschte auf einem Stuhl herum. Halten Sie Ihre Bestellungen für gerechtfertigt? Halten Sie eine Entlohnung für angemessen? Halten Sie gerne Reden? Können Sie mit Menschen? Der Test nahm den Großteil des Morgens, des Vor- und frühen Nachmittags in Anspruch. No7 musste sich zusammennehmen, um nicht einem früh erlernten Impuls vorauseilender Enttäuschung nachzugeben. Was können Sie mit Menschen? Als er aus dem Gebäude trat, war er sich nicht mehr sicher, ob er es am Morgen durch diese Tür betreten hatte. Einige seiner Mitschüler_innen standen noch auf dem Parkplatz herum, als sei ihr einziger Zweck einen Schatten zu werfen. Auch er glaubte, versagt zu haben.

Der entsprechende Brief kündigte sich, wie Briefe es oft tun, durch eine Reihe schlechter Omen an: Schwarze Katzen, verunglückende Schornsteinfeger_innen, Scherben, die explodierte Feuerwerksfabrik, zwei Verkehrstote auf der Ausfallstraße, der Winterschlussverkauf, die höchsten Temperaturen, die jemals in einem mitteleuropäischen April gemessen wurden. No7s Großmutter las die Schlagzeilen des Lokalteils vor, während er aus dem Küchenfenster schaute. Es war die einzige Art von Gespräch, die sie führten; zwischen ihnen der Umschlag in tonlosem Grau. No7 sah seine Zukunft vor sich gerinnen; seine Großmutter, die Tanten vor Tagesanbruch im Schatten der Häuserblocks, neben ihnen die Fahrradanhänger mit den Zeitungen. Immerzu schlechte Nachrichten durch Treppenhäuser tragen. Er öffnete den Umschlag, zog den Zettel heraus, wie man ein Pflaster entfernt. Bestatter, stand da. Er stutzte. Ich soll Bestatter werden.

Wie viele seiner Mitschüler_innen bemerkte No7 den allgemeinen Stimmungsumschwung erst, als er sich bereits vollzogen hatte. Eine bleierne Mutlosigkeit hatte sich über den Schulhof gelegt, die sich grundsätzlich von der Großen Panik des letzten Jahres, von der Kleinen Panik des Jahres davor, auch von der latenten Angst unterschied, den Querelen, der Quengelphase und den Wochen des Trotzes. Jene, die bereits einen Brief erhalten hatten, rotteten sich zu verschlossenen Schicksalsgemeinschaften zusammen. Ein Flüstern ging um; haarsträubende Geschichten über Pausenräume und Stechuhren, Versicherungsbeiträge, heimliche Zigaretten in der Lieferzufahrt; von Grußkarten war die Rede, von plastikverschweißten Präsentkörben und Weihnachtsfeiern. Schaudernd imitierten die Schüler_innen einen schwachen Händedruck oder eine Lohnverhandlung, aber stets verstrichen danach einige Momente, ohne dass jemand lachte. Im Gegenteil schien jedes Gespräch damit zu enden, dass die Beteiligten grübelnd und ohne sich zu verabschieden in unterschiedliche Richtungen gingen, auch wenn sie ins selbe Klassenzimmer mussten.

No7 fand sich von all dem ausgeschlossen. Außer ihm sollte niemand Bestatter werden; die ganze Schüler_innenschaft war ihm eine Masse entfernter Bekannter geworden, denen er im Vorübergehen kaum ein Nicken, geschweige denn ein teilnahmsloses Hallo entlocken konnte. Er verbrachte die Pausen größtenteils am Tor stehend, wie um niemand Bestimmtes an der Schule zu empfangen, und beobachtete die Gruppen am Wasserspender, bei den Mülltonnen und an der Tischtennisplatte. Sie sahen jeweils auf ihre eigene Art traurig aus. No7 wusste nicht, ob er traurig war. Erleichtert vielleicht, einen Namen für das zu haben, was er von seinem Leben erwarten konnte; nicht einer der Unglücklichen zu sein, die noch keinen Brief erhalten hatten und mit gesenkten Köpfen über den Schulhof rannten, als fürchteten sie, dass ein enormer Gegenstand auf sie stürzen könne. Zwar kursierte das Gerücht, im Werkraum, zwischen den Farbregalen, träfen sich außerhalb der Unterrichtszeit die Abgeschlagenen, um Bescheinigungen zu fälschen oder Originale gegen Sammelkarten, Alkopops und seltene Kaugummiarten zu tauschen, aber mit Ausnahme der Armbanduhr, die No7 zur Konfirmation bekommen hatte, besaß er nichts von Wert und wollte außerdem vor seinen Eltern nicht lügen müssen. Zumal er schon eine ungefähre Vorstellung seines kommenden Berufslebens hatte.

No7 kannte die Bestatter. Er hatte sie auf der Beerdigung seines Großvaters gesehen. Wächserne Männer in schwarzen Anzügen, die sich während der Zeremonie im Hintergrund hielten, die Arme hinter den Rücken verschränkt und stets bereit den Trauernden handbestickte Taschentücher anzubieten, wenn die Tränen kamen. Die Bestatter besaßen ein ausgeprägtes Gespür für alles Zwischenmenschliche. Sie wussten, wann Abstand geboten war, wann wiederum ein sanftes Berühren des Unterarms Beileid zum Ausdruck brachte. Sie kannten die Unwägbarkeiten von Trauergesprächen, Antworten auf das Warum und Was wäre wenn. Die Bestatter vermieden die offensichtlich und die weniger offensichtlich falschen Worte. In ihren Stimmen lag ein Klingen wie von einem weit entfernten Glockenspiel. Sie rochen immerzu nach Lilien; und ihr Händedruck ließ den Gegenüber mit keinem unangenehmen Gefühl zurück.

Obwohl die Beerdigung wenig mehr als zwei Jahre zurücklag erinnerte sich No7 kaum an den genauen Ablauf. Nur die engste Familie, seine Großmutter, Tanten und Eltern waren dort gewesen. Auf einem Klapptisch hatten Thermoskannen mit Kaffee und angeschnittener Kuchen gestanden, No7 in zweiter Reihe vor dem ausgehobenen Grab. Fliegen auf dem Büffet. Die Fliegen hatten sich ihm ins Gedächtnis gebrannt; und dass plötzlich ein Bestatter neben ihm stand, mit glänzenden Schuhen und Wangenknochen, der in die Knie ging, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Er hielt ein silbernes Kreuz in der Hand, drehte es, als würde er es betrachten. Ließ es letztendlich in eine Anzugtasche gleiten und legte die Hand auf No7s Schulter. Überraschend schwer war diese Hand. Die Grashalme ringsum schienen sich von ihnen abzuwenden, die Grabrede nahtlos ins Rauschen der Birken ins Summen der Fliegen überzugehen. Ein süßlicher Duft stieg um No7 auf. Die Hand des Bestatters auf seiner Schulter wurde schwerer und schwerer. Der schien geradewegs durch ihn hindurch zu schauen, seine Augen in ihre Höhlen zurückzuweichen. Stille.

No7 wähnte sich allein auf der Hinterseite der Welt. Er stand auf dem gekippten Friedhof, umringt von angewinkelten Birken, das Licht fiel hin und her. Jeder Wind scheuchte die Silhouetten kleinerer Tiere durch das Gras entlang der Wege. Zuerst, dachte er, fühlte er nichts. Dann einen ungekannten Schmerz, etwas Bleiernes, Heißes, das in seiner Magengrube wuchs. Er beugte sich über, verkrampft. Er schrie, aber der Schmerz nahm zu. Als würde er ausgekocht. Siedende Säure in seinem Hals, der Schaum, geplatzte Äderchen. Er wollte sich stützen, wollte sich an irgendetwas festklammern, wollte alles zerschlagen und abreißen, wenn nötig. Wollte greifen und fassen, aber seine Hände fanden nur Luft. Nur Luft und Luft und Luft und Schaum in seinem Mund und Säure in seinem Hals und das brennende Ding in seinem Magen – Atmen. Das Gesicht des Bestatters, diesmal besorgter, Schweißperlen auf seiner Stirn. Atmen, Junge, sagte er, die Hände tastend in den Anzugtaschen. No7 nickte, schluckte. Fand seinen Körper, nicht brennend, im rechten Winkel zur Erde. Der Bestatter zog die Hände aus den Anzugtaschen, leer. Er zuckte mit den Schultern. Sein Blick ging zum Grab, das ein Friedhofsgärtner gerade begann zuzuschaufeln. Ich kann dir nicht sagen, dass es besser wird. Es wird eine ganze Zeit nicht besser werden. Nicht heute. Nicht Morgen. Der Bestatter wandte sich wieder zu No7. Aber das weißt du. No7 nickte erneut. Was du nicht weißt – und das ist schmerzvoll. Aber du kannst darum herum leben.

Was ist, wenn ich nicht darum herum leben will?

Niemand möchte das, sagte der Bestatter und drückte kurz No7s Arm. Aber, damit richtete er sich auf, es gibt keine Alternative. Mein Beileid, sagte er und ging den anderen Bestattern nach, die bereits am Friedhofstor standen und ihre Taschenuhren kontrollierten. Der Motor eines Autos sprang an, die Birken rauschten, die Fliegen waren fort.

Irgendwann dann war die Beerdigung für beendet erklärt worden. No7s Tanten hatten den Kuchen eingepackt, die Großmutter noch ein letztes Gespräch mit Gott und dergleichen geführt. Kurz darauf waren sie alle zusammen nach Hause gefahren.

Im Kreis der Familie war der Brief auf allgemeine Zustimmung gestoßen. No7s Großmutter hatte über den Rand der Zeitung geblickt und gesagt: Da bin ich aber froh, seine Tanten hatten ihm überschwänglich gratuliert, als sie aufgestanden waren, seine Eltern hatten ihn abends in die Arme geschlossen und waren ihm durchs Haar gefahren. Neuerdings sagten sie Sätze wie: Dann machst du ja auf eine Art etwas Handwerkliches oder Man braucht nicht für alles ein Studium. Wann immer Bilder von Krawatten in den Werbeprospekten waren, schnitten sie die Seiten heraus und hängten sie an die Kühlschranktür. Es handelte sich dabei um einen einfachen Trick, der die Familie an gemeinsame Ziele, Wünsche, Hoffnungen erinnern sollte. No7s Eltern benutzten ihn oft. Wenn sich sein Vater ein Feierabendbier aus dem Kühlschrank nahm, blieb sein Blick häufig an einem Zeitungsschnipsel hängen, der die Mittelmeerstrände pries, die darüber aufragenden Felsklippen, die darauf thronenden Dörfer. Auf dem dazugehörigen Schwarzweißfoto konnte man das Türkis des Meeres förmlich sehen. No7 kannte diesen Blick; er galt allem Verlorenen. Seine Mutter sah ihn manchmal so an, wenn sie über den Schulabschluss sprach oder Anzüge oder Grundstückpreise in der Region.

Nach dem Tod des Großvaters hatten sie dessen Werkstatt entrümpelt, den Keller, ein vollgestopfter Raum mit niedriger Decke, der in No7 stets das Gefühl hervorrief, eine geheime zweite Tür übersehen zu haben. Die Werkbank, das Transistorradio, alles überzogen von einer dünnen Schicht Staub und Sägespäne. Ein gutes Dutzend halbfertiger Möbelstücke hatten sie herausgeholt, Hocker mit schiefen Beinen, keiner zu gebrauchen. Krumme Regale, in die man nichts hineinstellen konnte. No7 hatte versucht, sich seinen Großvater vorzustellen, rotierend inmitten des Gerümpels, einen Stuhl vor Augen, einen Tisch. Wie ihm die Anzeichnungen misslungen waren, die Säge entglitten. Wie er immer wieder probiert haben musste, sich auf einen der Hocker zu setzen und dann, nach dem fünften Versuch, auf dem Boden liegend weitergetrunken hatte.

Während der Entrümpelung war No7 zu der unbewussten Auffassung gelangt, eines Tages auf eine plötzliche, möglicherweise gewaltvolle Art ums Leben kommen zu müssen, und ahnte ähnliches für seinen Vater, dessen Alltag aus undurchsichtigen Tätigkeiten in einem Lagerhaus am Stadtrand bestand, aus Paketen, die in erratischen Mustern verschoben werden mussten, um eine unheilvolle Maschine zufrieden zu stellen; für seine Mutter, die im Büro stets noch eine kurze Notiz schreiben, eine Akte bearbeiten, ein Fenster öffnen oder schließen musste, bevor sie dazu kam, etwas zu essen oder zu trinken. Nur seine Großmutter und Tanten würden ewig leben. Und wenn sie dann doch stürben, würden die Zeitungen den Betrieb einstellen, die Verlagshäuser Trauerkarten drucken und darauf würde stehen: Wir danken für die Zusammenarbeit.

Photo von sara moezzi auf Unsplash

In ein anderes Leben -Fariba Vafis „Die Reise im Zug“

Von Gerrit Wustmann

Um Erinnerung, die Schwierigkeiten mit der Familie, die man sich nicht aussuchen kann, um Dazugehören und Nichtdazugehören und um ein Leben, das sich immer irgendwie zwischen zwei Stationen befindet, nie wirklich ankommt – darum geht es  in Fariba Vafis Erzählung „Die Reise im Zug“ ( aus dem Persischen übersetzt von Nuschin Mameghanian-Prenzlow), die dieser Tage im kleinen Berliner Bülbül Verlag erscheint.

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