von Lennart Rettler
Folgenden Fehler sollte man nie begehen: Den Großeltern oder entfernteren Verwandten sagen, dass man irgendetwas besonders mag, das sich als wiederkehrendes Geschenk eignet. Gerade im Bereich von Süßigkeiten gilt es diesen Fehler zu vermeiden. Denn haben sie einmal das Gefühl, deinen Geschmack zu kennen, wirst du für den Rest deines Lebens Toffifee bekommen. Ähnlich wie diese Form der Geschenke-Reproduktion funktionieren moderne Social-Media-Empfehlungs-Algorithmen: Du hast dir diesen Post länger als 3 Sekunden angesehen, dann werden wir deine ganze Timeline für die nächsten drei Tage mit diesem Thema zukleistern!
Vor einiger Zeit hat es ein Video in die Timeline meiner YouTube Shorts geschafft, in dem ein relativ junger Mann mit heller Haut und blonden Haaren „In Germany we don’t say x, we say y“ verlauten lässt. Ich habe mir den Clip selbstverständlich bis zum Ende angeschaut, denn ich wollte ja nicht nur wissen, was wir in Deutschland nicht sagen, sondern ebenso wissen, was wir in Deutschland also doch sagen. Was genau das war, habe ich inzwischen vergessen. Doch für viele Wochen tauchte der junge Mann danach in meiner Timeline auf. Mittlerweile weiß ich sehr viel darüber, was wir in Deutschland nicht sagen und was wir stattdessen sagen.
Diese Art der „Deutschlandisierung“ humoristischen Contents ist mir natürlich bekannt, beispielsweise vom Funk-Ambassador Phil Laude, der eine ganze Comedy-Karriere auf dem Alman-Witz aufgebaut hat. Alman im Kino, Alman auf dem Fahrrad, Alman beim Angeln, Alman beim Date, Alman im Restaurant oder beim Minigolf. Phil Laudes Alman hat mehr erlebt als Kinderbuch-Conni.
Der blonde Junge aus meinen YouTube-Shorts arbeitet jedoch etwas anders. Er spricht zum Teil Englisch. Manchmal hört sich sein Englisch besonders gut, manchmal gespielt miserabel an, schwankte zwischen Native-Speaker und Günther Oettinger. Der Witz seiner Videos folgt immer einem gleichbleibenden Muster. Auf den Satz „In Germany we don’t say“ folgt etwas in englischer Sprache und auf den Satz „We say“ folgte etwas in deutscher Sprache: „In Germany we don’t say: Well, its so cold today” – “We say: angenehm frisch heute.” Während er anfangs zunächst in Winterklamotten im Schneeregen friert, joggt er im deutschen Part dann von der Kälte unbeeindruckt im Tank Top durch den Schneeregen. Die Videos funktionieren formal wie viel aktueller Social-Media-Humor: dieselbe Person spielt mehrere Figuren, wobei unterschiedliche Outfits oder Filter den Zuschauenden bei der Unterscheidung helfen.
Der blonde Komiker heißt Liam Carpenter und ist gebürtiger Brite. Bei Instagram folgen Liam Carpenter 1,8 Millionen User, auf TikTok hat er 2,1 Millionen Follower und knapp eine Million auf YouTube. Letzteres ist besonders interessant, denn auf YouTube hat er nur fünf klassische YouTube-Videos im Langformat hochgeladen, dafür aber über 300 Shorts. Zwei seiner langen Videos sind Zusammenschnitte der „In Germany we don’t say“-Videos, die ihn berühmt gemacht haben. Die anderen drei, und das mag etwas verwundern, tragen die Titel „Liam Carpenter Highlights“, mit dem Zusatz 2016/17, 2017/18, 2018/19. Aus diesen Videos lässt sich erkennen, dass er vermutlich nicht mit der Idee nach Deutschland kam Alman-Content-Creator zu werden, sondern von England nach Deutschland zog, um in München Basketball zu spielen. Mit dem MTSV Schwabing brachte er es auf insgesamt zwölf Einsätze in der Basketball-Bundesliga. In der Kommentar-Spalte seiner Basketball-Highlights-Videos führen die Zuschauer*innen Liams Running Gag weiter: „In Germany we don’t say: ‘Wow great basketballer’, we say: ‘Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn’”.
Mit ihren Inhalten haben Liam Carpenter, wie auch Phil Laude und einige weitere Content-Creator, einen Nerv getroffen. Deutsche lieben es anscheinend, sich selbst bestätigt zu sehen. Das sieht man vor allem in den Kommentarspalten der Videos. Der Alman-Content von Phil Laude und der „In Germany we don’t say“-Content von Liam Carpenter sind offensichtlich Balsam für vom Alltag in Deutschland geplagte Seelen. Die Zuschauer können sich über die Sonderlichkeiten der Mitbürger*innen lustig machen und sich hier und da auch schmunzelnd eingestehen, dass auch sie sich so verhalten. Ein wenig Spott ist okay und erwünscht, aber immer nur so viel, dass die gezeigten Verhaltensweisen wie niedliche Marotten wirken. So schreibt sogar die Bild-Zeitung, die sich für gewöhnlich nicht als Ort für Spott über Deutschland profiliert, über Liam Carpenter: „Heute schießt er mit scharfen Sprüchen gegen Deutschland. Aber natürlich nur zum Spaß und mit einem Augenzwinkern.“
In der Auseinandersetzung mit dem „Deutschsein“ gibt es jedoch einen bedeutenden Unterschied zwischen Liam und Phil. Phil ist ein Alman unter Almans. Liam hingegen, der mittlerweile auch deutscher Staatsbürger ist, hat durch seine doppelte Staatsbürgerschaft zusätzlich eine Außenperspektive. Das verleiht seiner Sicht auf die deutschen Verhältnisse eine besondere Glaubwürdigkeit. Er ist unbefangen. Er muss es richtig wissen. Liam ist der McKinsey-Berater der einberufen wird, um der Managerin zu sagen, dass sie mit ihrer Einsparungs-Maßnahme vollkommen richtig liegt. Selbstbestätigung durch Fremderfahrung. Die Welt ist wirklich so, wie sie uns erscheint. Gottseidank kann das auch ein unabhängiger Berater bestätigen. Aber nicht nur ein Brite, sondern auch ein Amerikaner zeigt uns, wie deutsch die Deutschen sind: der erfolgreiche Content-Creator Jordan Prince macht eigentlich genau das gleiche wie Liam Carpenter, nur mit us-amerikanischem Hintergrund.
Menschen brauchen diese Außenperspektive, um ihre Weltsicht bestätigt bekommen. Aus ähnlichen Gründen sind auch viele Reaction-Videos so erfolgreich. Damit werden Videos bezeichnet, in denen man Menschen dabei zusieht, wie diese auf etwas reagieren. Dazu gehören beispielsweise die zahlreichen „Non-German reacts to German Hip-Hop“-Videos. Gerade zur Musik von Deutschrappern wie GZUZ oder anderen Teilen der 187 Strassenbande gibt es unzählige erfolgreiche Reaction-Videos. Am beliebtesten sind diese Videos, wenn sie aus den USA kommen, dem Mutterland des Rap.
2,4 Millionen mal wurde bspw. eine Reaktion des Kanals „V KINGS“ auf das Musikvideo zu GZUZ „Was hast du gedacht“ angeschaut. In den Kommentaren finden sich viele Menschen aus Deutschland, die betonen wie „real“ GZUZ ist. Ein Kommentar sagt „Proud to be German“ ein anderer „Wer ist auch deutscher und feiert die Reaktion haha“ – der Kommentar hat über 1500 Likes. Reaktionen auf GZUZ garantieren Clicks für den Kanal der V KINGS. Unter den Top 10 Videos des Kanals sind noch zwei weitere Reaktionen auf Musik von GZUZ und auch zu weiteren deutschsprachigen Rappern, wie Olexesh oder Kollegah. Die V KINGS reagieren aber auch auf Musikvideos aus anderen Sprachen und Ländern, von UK Rap bis K-POP.
Auffällig ist, dass die V KINGS (und andere ähnliche Kanäle) die Distinktion der Nationen- bzw. Sprachzugehörigkeit häufig sehr prominent in den Titel der Videos schreiben: „Americans/African First Reaction to FRENCH RAP/DRILL“ oder „Americans/Africans React to UK RAP/DRILL,“ Unterstützt wird die Information aus dem Titel dann meistens durch eine entsprechende Nationalflagge im Thumbnail. Wird auf französische Künstler*innen reagiert, sieht man eine französische Flagge. Wird auf den „Fastest German Rapper Kollegah“ reagiert, taucht die deutsche Nationalflagge im Thumbnail auf.
Dieser Content ist erfolgreich. Der YouTube-Kanal „MoreJps“ hat es beispielsweise auf knapp 50.000 Abonnenten geschafft. Der Kanal gehört einem jungen Amerikaner, der aus seiner amerikanischen Perspektive auf europäische (manchmal auch ozeanische) und vor allem deutsche Eigenheiten reagiert. Seine Videos tragen Titel wie „American Reacts to Football Fans & Atmosphere USA vs. Europe” oder “Americans Try German Snacks! *first time*”. Aber auch (zu meiner Verwunderung) “American Reacts to heute-show (This is What Brexit REALLY means!)” oder „American Reacts to Volker Pispers’ History of USA and Terrorism”. Er lobt die Heute-Show für den „German Sense of Humor“, Volker Pispers für seine brutale Ehrlichkeit und ihn loben die Menschen mit deutschem Background in den Kommentaren für seine Aufgeschlossenheit, sich auch mit Dingen fernab seines Heimatlandes zu beschäftigen.
Der Philosoph Steffen Herrmann schreibt über Selbsterkennung von Identität in Anlehnung an Hegel: „Ein kohärentes Bild unserer selbst vermögen wir uns nur dann zu machen, wenn Andere die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, bestätigen. Kurz gesagt: Erst durch die Anerkennung von Anderen vermag ein Subjekt Gewissheit davon zu erlangen, ob das Bild, das es sich von sich macht, zutrifft“. Zur Selbsterkenntnis brauchen wir also die Bestätigung von außen. Rap der 187 Strassenbande ist so brutal, wie wir ihn wahrnehmen. Volker Pispers ist so ein gnadenloser Satiriker, wie wir ihn wahrnehmen. Die Deutschen sind so, wie wir sie wahrnehmen. Wir sind so, wie wir uns wahrnehmen. Und das wollen „wir Deutschen“ uns nicht nur gegenseitig beglaubigen. Erst wenn uns ein „unabhängiger Beobachter“ unsere Weltwahrnehmung bestätigt, können wir uns wirklich sicher sein: So sind „wir Deutschen.“ In Germany we don’t say: „Haha funny stereotype videos“, we say „Ein kohärentes Bild unserer selbst vermögen wir uns nur dann zu machen, wenn Andere die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, bestätigen.“
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