von Lukas Betzler und Judith Niehaus
Holt die blauen Bände raus, es ist Marx-Lesekreis: Zu Beginn von Julian Radlmaiers Blutsauger, an “einem Dienstag im August 1928”, wie eine anfänglich eingeblendete Zeitangabe verrät, will eine in den Dünen sitzende Gruppe von Arbeiter*innen das achte Kapitel im ersten Band des Kapital besprechen – Absatz für Absatz. Der Arbeiter Bruno (Bruno Derksen) hat jedoch zu einer Stelle eine brennende, keinen Aufschub duldende Frage. Er zitiert:
[…] ‘Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampyrmäßig’ – Achtung, darum geht’s mir jetzt – ‘die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.’ Und dann ein bisschen später: ‘Die Verlängerung des Arbeitstags in die Nacht hinein … stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut.’ Ja und noch weiter unten steht: ‘daß in der Tat sein Sauger nicht losläßt, solange noch ein Muskel, eine Sehne, ein Tropfen Bluts auszubeuten’ ist. [1]
Bruno rätselt, wie diese Stelle auszulegen sei: “Ja also ist jetzt der Kapitalist ein Vampir, oder wie?” Doch die Lesegruppenleiterin weist ihn entnervt zurecht: Die Passage sei “natürlich nur metaphorisch gemeint”, und das Bild sei zudem ihrer Auffassung nach “etwas unglücklich gewählt”. Zwischen diesen beiden Positionen vermittelt Radlmaier, indem er die Marx’sche Metapher im Modus des fiktionalen ‘Als-ob’ beim Wort nimmt: In diesem Film sind die Kapitalist*innen tatsächlich allesamt ‘Vampyre’ bzw. “Blutsauger”, wie das Glossar der MEW-Ausgabe den Begriff erklärt.
Der Film verwandelt seine Prämisse mit viel Lust am Fabulieren in das anspielungsreiche, voller Anachronismen steckende Pastiche einer, so der Untertitel, “marxistischen Vampirkomödie”. Aber kann eine ins Wörtliche gewendete, aufgrund ihrer antisemitischen Konnotationen zudem keineswegs unproblematische Metapher einen ganzen Film tragen? Kann und darf man, angesichts der zwei politischen Morde, die am Ende des Films stehen (auf spoiler alerts wird hier verzichtet) von einer Komödie sprechen? Und (inwiefern) ist dieser Film marxistisch?
Vampire am Strand
Schauplatz der Filmhandlung ist ein fiktiver Kurort an der Ostsee, der zugleich die Salbenfabrik der begüterten Fabrikantentochter Octavia Flambow-Jansen (Lilith Stangenberg) beherbergt, in der die lesenden Arbeiter*innen beschäftigt sind. Sie produzieren in dieser Fabrik eine Salbe, die gegen die im Ort verbreitet auftretenden, mysteriösen Bisswunden helfen soll – wenn auch nicht so gut wie die Salbe, die “der Chinese” (Kyung-Taek Lie) aus am Strand gesammelten Algen herstellt. Von offizieller Seite werden die Bisse “chinesischen Flöhen” und “mangelndem Hygienebewusstsein” zugeschrieben, doch unter den Betroffenen hält sich hartnäckig die Vermutung, dass es sich tatsächlich um Vampirbisse handele.
Diese Vermutung erweist sich für das Publikum schon in einer frühen Szene als zutreffend: Nachdem Octavias ‘persönlicher Assistent’ Jakob (Alexander Herbst) sich in den Finger geschnitten hat, beißt sie ihm in den Hals, was er, in einem Zustand fast verzückt wirkender Bewusstlosigkeit, über sich ergehen lässt, ohne es anschließend erinnern zu können. Die Vampirbisse sind nicht ansteckend und wohl auch nur selten tödlich. Sie bewirken allerdings Müdigkeit, Erschöpfung und Melancholie – Zustände, die den Folgen von Überarbeit verblüffend ähnlich sind, die aber auch zu den genre-typischen Attributen von Vampiren zählen.
In diesem Film aber sind die Vampire weder lichtscheu noch untot, sie haben nichts gegen Knoblauch und schlafen in komfortablen Betten statt in Särgen. Und auch sonst erfüllt der Film kaum Genre-Erwartungen. Das romantische Klischee des Vampirbisses als erotische Interaktion etwa deutet er nur in der schon geschilderten Blutsauge-Szene an, die in ein weiches, fast rötliches Licht getaucht ist.
Das Ostseestädtchen mit diesen stabilen “vampyrmäßigen” Klassenverhältnissen bekommt nun “Besuch aus der klassenlosen Gesellschaft” – so der Titel des ersten Teils. Am Strand taucht ein vermeintlicher russischer Baron (Alexandre Koberidze) auf, den die faszinierte Octavia sehr zum Missfallen Jakobs, der in seine Herrin unglücklich verliebt ist, in ihrer herrschaftlichen Villa aufnimmt. Der ‘Herr Baron’ entpuppt sich schnell – und nicht zuletzt durch seine proletarischen Umgangsformen – als hochstapelnder Schauspieler namens Ljowuschka, der als ehemaliger Trotzki-Darsteller in Sergej Eisensteins Revolutionsfilm Oktober in Ungnade gefallen ist und nun aus der Sowjetunion nach Amerika fliehen will.
Octavia verspricht, Ljowuschka zu unterstützen, indem sie Filmaufnahmen für seinen Karriere-Neustart in Hollywood finanziert. Gegenüber ihrer ungeliebten Tante Erkentrud (Corinna Harfouch) und ihrem schnöseligen Liebhaber Bonin (Daniel Hoesl) verkündet Octavia, man wolle “[e]ine Vampirgeschichte mit romantischen Elementen” drehen: Und so gibt es dann einen Vampirfilm im Vampirfilm. Dieser Binnenfilm, in dem der Vampir durch den Algensammler gespielt wird, ist durch seine Bildsprache und durch das Ostsee-Setting deutlich als (ironische) Referenz auf F.W. Murnaus Nosferatu (1922) zu erkennen.
Spätestens seit Nosferatu stellt der Vampirfilm eine aus der Filmgeschichte nicht wegzudenkende Tradition dar. Anders als ihre untoten Verwandten, die Zombies, erwiesen sich Vampire dabei als anpassungsfähige Gestalten, die auch jenseits des Horror- und Trash-Genres Verbreitung fanden. Während Zombies wohl nur in Persiflagen komisches Potential haben und für Romanzen so gar nicht taugen, sind die vampire comedy und vor allem die vampire romance inzwischen eigene Subgenres – man denke etwa an Interview with the Vampire (1994) oder die Twilight-Serie (2008–2012).
In Twilight überwindet die Liebe die Grenze zwischen Vampiren und Menschen; in Nosferatu wird der Vampir von Ellens aufopfernder Liebe zu Thomas in die Knie gezwungen. In beiden Fällen bannt die Liebe den Fluch. In Blutsauger hingegen ist die Liebe selbst der Fluch: Sie hält erst Jakob, dann Ljowuschka in stockholmsyndromhafter Abhängigkeit und verursacht schließlich Tod und Leid: Um Octavia vor den berechtigten Vampirismus-Vorwürfen zu schützen, zweckentfremdet Ljowuschka die Filmaufnahmen als ‘Beweismaterial’ gegenüber dem fackeltragenden völkischen Mob, der daraufhin, wie ein einziges so nüchternes wie verstörendes Filmbild zeigt, “den Chinesen” lyncht. Ihre destruktive Wirkung entfaltet die Liebe also, gerade weil ihr transgressive, transformative Wirkungen zugeschrieben werden – insbesondere die Fähigkeit zur Überwindung der Klassenverhältnisse. Zur Erkenntnis der von Octavia einmal in Cannabis-induzierter Hellsichtigkeit ausgesprochenen Wahrheit, “dass heute niemand mehr lieben kann”, sind Jakob und Ljowuschka rettungslos unfähig.
Ist das noch komisch?
Vielleicht haben sie sich in ihrer romantischen Hoffnung auch von der Genrebezeichnung des Films täuschen lassen. Eine Komödie, jedenfalls in der Form des bürgerlichen Lustspiels, endet schließlich üblicherweise mit einer Heirat, oft gar einer doppelten: Der bürgerliche junge Herr heiratet die Tochter aus gutem Hause, der Diener heiratet das Hausmädchen. Schon das hätte die beiden über die Klassengrenzen hinweg Verliebten allerdings stutzig machen müssen, denn diese Grenzen sind am Ende einer bürgerlichen Komödie stets wiederhergestellt und alle Figuren in und mit ihnen zufrieden.
Auch in Radlmaiers Film sind die (freilich nie wirklich bedrohten) Klassenverhältnisse am Ende wiederhergestellt und eine bevorstehende Heirat – oder ein ökonomischer Deal, aber die Übergänge sind hier fließend – zwischen Bonin und Octavia wird angedeutet. Den proletarischen Figuren hingegen bleibt das ‘happy end’ verwehrt: Unter ihnen gibt es drei Tote zu beklagen und nicht den geringsten Grund zu feiern. Dieses Ende, an dem nur die Falschen glücklich sind, wirft die Frage auf, ob nicht auch das ‘Glück’ am Ende der bürgerlichen Komödie immer schon ein falsches war.
Aber auch wenn einem gerade am Ende das Lachen im Hals stecken bleibt, handelt es sich bei Blutsauger um eine Komödie. Ihren Witz entfaltet sie auf verschiedenen Ebenen, insbesondere dadurch, dass sie, ein klassisches Verfahren der Komik, unpassende Elemente miteinander kombiniert. In Blutsauger sind das besonders häufig Anachronismen wie der Kite-Surfer, der unmittelbar nach der Verortung im Jahr 1928 in aller Seelenruhe das Bild und die Wasseroberfläche von links nach rechts durchfährt. Der Film ist durchzogen von derlei zeitreisenden Objekten, meist in Form von Konsumgütern oder Modeartikeln: Coladosen, Converse-Sneaker und sogar ein Kawasaki-Motorrad [2]. Es handelt sich dabei gewissermaßen um visuelle Montagen. Aber auch die eigentliche Montage, der Schnitt, trägt maßgeblich zur Komik bei, mit mal tableauhaft langen, mal collagenhaft kurzen Einstellungen und Sequenzen. Der Schnitt hat einen ebenso lakonischen Charakter wie die ausführlichen Voice-Over-Passagen, in denen mal Rückblenden erzählt und mal aktuelle Ereignisse kommentiert werden.
Die Sprache wirkt bisweilen, als sei sie der Romanliteratur des frühen 20. Jahrhunderts abgelauscht [3], die Figuren sprechen sie auf betont künstliche, manchmal stockend-hölzerne oder dialektal gefärbte Weisen, die ebenso verfremdende wie komische Effekt zeitigen [4]. Die Bourgeois erzählen schlechte Witze, ihre Ironie speist sich in erster Linie aus Häme. Komisch sind sie meist ohne ihr Wissen, etwa wenn der Bürgermeister Dr. Humburg (Andeas Döhler) Tante Erkentrud beschwichtigt, die Organisierungsbestrebungen der Fabrikarbeiter seien “[a]n sich kein Grund übertriebener Sorge: Ein Großteil der Arbeiterschaft ist dem gemäßigten sozialdemokratischen Flügel zuzurechnen.” Doch spätestens wenn Erkentrud daraufhin ungerührt für die Erschießung kommunistischer Arbeiter*innen plädiert, wird deutlich, dass die Komik hier bei aller Unterhaltsamkeit kein Entertainment und trotz des Zitatereigens kein belangloser postmoderner Spaß ist – nein, die Komik ist hier verschwistert mit blutigem Ernst.
Das Schöne an der Arbeit sind die Pausen
Eine gewisse Ernsthaftigkeit ist auch angebracht, will der Film das Versprechen des Untertitels einlösen und nicht nur ein Marx-Zitat wörtlich nehmen, sondern auch selbst marxistisch sein. Blutsauger ist selbstverständlich kein agitatorischer Film im Stile Sergej Eisensteins, auf den er anhand von Ljowuschkas Vergangenheit verweist. Abgesehen von einer Rückblende, die Ljowuschka in einer sowjetischen Fabrik zeigt, sieht man die Arbeiter*innen nie bei der Arbeit, sondern vorwiegend bei den Treffen ihres Lesekreises in idyllischer Dünen-Lage. Kraftstrotzende ‘Helden der Arbeit’ sucht man vergeblich, Müßiggang hingegen schreiben der Film und seine Figuren groß.
Deutlich wird dabei allerdings auch, dass dieses Lob des Müßiggangs Klassencharakter hat. Wenn Octavia schwadroniert: “Was gibt es Dümmeres als Arbeit? Das Leben muss ganz aus Muße und Liebe bestehen, aus Poesie und Abenteuer, sonst ist es keinen Pfifferling wert!”, ist das vor allem Ausdruck der zynischen Verachtung aller Arbeitenden. Wenn hingegen Ljowuschka die langen Drehpausen als “das schönste” bezeichnet, “was es auf der Welt gibt”, und wenn selbst der meist so übereifrige, kleinbürgerliche Jakob bekennt, dass er an den Botengängen zum Telegrafenamt vor allem die “schönen Spaziergänge […] und das dabeiige Rauchen” liebt, scheinen darin die Kritik am Zwang zu Produktivität und der Traum einer Welt ohne entfremdete Arbeit auf.
Jakob wird ohnehin zur interessantesten und zentralen Figur des Films, vielleicht gerade weil seine Lage so widersprüchlich ist. Ihm ist der zweite Teil des Films gewidmet, der den Titel “Tagebuch eines persönlichen Assistenten” trägt [5]. Jakob ist also nicht nur der einzige, der tatsächlich bei der Arbeit gezeigt wird, er darf sogar im Voice-Over die Handlung kommentieren. Eine Sonderstellung nimmt er zudem deshalb ein, weil er – wie er betont – aus einem “bürgerlichen Elternhaus” stammt und weil sich in seiner Arbeitsrealität viele Aspekte heutiger Lohnarbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor wiedererkennen lassen. Entsprechend unwirsch reagiert er auch, als er von einer Arbeiterin auf Wertschöpfungsmechanismen im Kapitalismus angesprochen wird, und erklärt: “Ich stelle aber überhaupt nichts her. Und schon gar keinen Mehrwert.”
Jakobs Plan, durch Aneignung von kulturellem Kapital – demonstriert anhand einer tragisch-komischen Proust-Lektüre und -Mimikry [6] – die Klassenunterschiede zu überwinden und Octavias Herz zu erobern, scheitert und er begeht Selbstmord. Im letzten Teil des Filmes taucht er jedoch als Gespenst wieder auf und versucht, die noch Lebenden auf die Spur der wahren Vampire zu bringen und Ljowuschka an seinen (auch angesichts des Stalinismus) verlorenen Glauben an die Idee einer klassenlosen Gesellschaft zu erinnern. Wenn Jakob einem der Arbeiter den Schrecken unmittelbar vor Augen stellt, indem er ihn zum Schauplatz eines Vampirmahls zerrt, und wenn er Ljowuschka an die uneingelöste Hoffnung der Oktoberrevolution erinnert, spiegeln sich darin die Gesten des Films selbst (oder sogar der Kunst im allgemeinen). Vor dem Hintergrund des realen Scheiterns der kommunistischen Utopie im Stalinismus zeigt Radlmaier einen ebenfalls scheiternden fiktiven Versuch, die Vampir-, also Klassenherrschaft zu überwinden. Jakobs Satz, “Warum nicht aus den Fehlern lernen und es noch einmal anders probieren?”, wird zwar von Ljowuschka nur mit einem bitteren “Ach, leck mich!” quittiert, doch er birgt das revolutionäre Potential des Films. Er mahnt an, nicht von der Sehnsucht nach dem ganz Anderen und dem Glauben an seine Möglichkeit zu lassen.
Die Macht(losigkeit) der Kunst
Wie bereits in Radlmaiers früheren Filmen sind auch in Blutsauger die politische Wirkungslosigkeit der Kunst und ihre Integration in die bestehenden Verhältnisse zentrale Motive. Das veranschaulicht besonders prägnant das Intérieur von Octavias Villa, ein Aspekt, auf den auch das dem letzten Teil des Films vorangestellte, einschlägige Adorno-Zitat den Blick lenkt – schließlich stammt der Satz “Es gibt kein richtiges Leben im Falschen” aus einem Text über Wohnungseinrichtungen.
Octavia schaudert zwar vor der Sowjetunion, doch sie findet dennoch, “dass die jüngste russische Malerei wirklich aufregend ist”. Ein Exemplar dieser Malerei hängt in ihrem Salon: “Fantasie” von Kusma Petrow-Wodkin zeigt ein fliegendes rotes Pferd mit Reiter, eine kommunistische Variante des Pegasus, der Allegorie der Poesie. Das Bild, seinerseits ein Einspruch gegen die schlecht eingerichtete Welt, wird Bestandteil der großbürgerlichen Einrichtung.
Ein ähnliches Schicksal erfährt Ljowuschka selbst, er wird zu Octavias “Renommier-Proleten”, wie Bonin bemerkt (der sowieso die Figur ist, die die Klassenverhältnisse am sichersten durchschaut und das am stärksten ausgeprägte Klassenbewusstsein hat). Der Film scheint mit der Inszenierung dieser Dynamik auch seine eigene Position in der deutschen Filmlandschaft zu reflektieren: So, wie an den Wänden der Villa ein kubistisches Gemälde zwischen Ahnenporträts und Ölschinken hängt, fügt sich Blutsauger zwischen Til-Schweiger-Filmen und französischem Wohlfühl-Arthouse in die Portfolios der Rundfunk- und Filmförderanstalten ein [7].
Gleichzeitig ist das Einwerben staatlicher und privater Fördergelder Voraussetzung dafür, dass Radlmaier erstmals in seiner Filmografie mit renommierten Schauspieler*innen zusammenarbeiten konnte, nachdem in seinen früheren Filmen ein großer Teil der Teams aus seinem privaten Umfeld stammte. Sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsebene stellt sich also die Frage: Als ‘Renommier-Prolet’ der Filmförderung auf ein breiteres Publikum hoffen – oder aber das Team und das Zielpublikum auf das eigene Milieu, eine cinephile, intellektuelle Kulturlinke beschränken? Blutsauger versucht beides: Lilith Stangenberg und Corinna Harfouch spielen hier neben den Lai*innen aus Radlmaiers eigenem früheren Marx-Lesekreis. Und auch als Zuschauer*in muss man zwar nicht unbedingt das Kapital gelesen und einen Theorie-Lesekreis besucht haben – aber um die zahlreichen Referenzen und Zitate einordnen und wertschätzen zu können, ist ein gewisses geteiltes Hintergrundwissen durchaus hilfreich.
Die Anspielungen erfordern allerdings nicht nur eine Einordnung, sondern auch eine äußerst aufmerksame Rezeption, weshalb man Radlmaier und dem August-Verlag umso dankbarer sein darf, dass pünktlich zum Kinostart das Drehbuch des Films veröffentlicht wurde. Das “Buch zum Film” enthält zusätzlich zum preisgekrönten Drehbuch Illustrationen von Jan Bachmann und einen äußerst lesenswerten Essay von Sulgi Lie, mit dem Radlmaier schon lange zusammenarbeitet (und der im Film selbst kurz in einem Koch-Kostüm zu sehen ist).
Lie betont in seinem Text Radlmaiers Distanz zum “Erbe des deutschen Vampirfilms”, den er gewissermaßen mit Eisenstein durchkreuze. Außerdem legt er die Fiktionstheorie und Ästhetik Jacques Rancières an Radlmaiers Film an. Die Bedeutung Rancières für Radlmaiers Filmschaffen dürfte kaum zu überschätzen sein, scheint er doch bewusst genau jene ästhetischen Verfahren einzusetzen – darunter die schon erwähnten Anachronien –, die für Rancière “widerständige Fiktionen” ausmachen.
Widerständige Fiktionen können und sollen eine Lücke zwischen dem Realen und der Fiktion herstellen, in der sich, so Lie, “nicht nur der ästhetische Eigensinn des Kinos ein[nistet], sondern gleichsam auch sein politischer Möglichkeitssinn”. Wie der Pflock in Blutsauger zwar keine Vampire tötet, aber immerhin eine Wassermelone zerteilt, schlägt der Film solch eine Lücke und öffnet auf diese Weise einen Raum für den Wunsch nach einer Revolution, die nicht vergisst, die Lohnarbeit abzuschaffen.
[1] Dieses Zitat stammt, ebenso wie alle folgenden Zitate aus Blutsauger, aus der parallel zum deutschen Filmstart im August-Verlag erschienenen Drehbuch-Fassung, die einige Unterschiede zur Film-Fassung aufweist (vgl. Julian Radlmaier: Blutsauger, Drehbuch. Illustrationen von Jan Bachmann. Mit einem Essay von Sulgie Lie. Berlin: August-Verlag 2022).
[2] Diese ‘Kontaminierung’ der Vergangenheit mit der Gegenwart erinnert nicht nur an Walter Benjamins antihistoristische Geschichtsphilosophie, sondern auch und besonders an Jacques Rancières Begriff der “Anachronie”, mit dem er “Ereignisse, Begriffe, Bedeutungen” bezeichnet, “die die Zeit gegen den Strich bürsten” (Jacques Rancière: Der Begriff des Anachronismus und die Wahrheit des Historikers. In: Eva Kernbauer (Hg.): Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst. Paderborn: Fink 2015, S. 33–50, hier: S. 50). So fruchtbar dieses Verfahren ist, um ein offenes, unabgeschlossenes Bild der Vergangenheit zu entwerfen, so anfällig ist es allerdings für aktualisierende Kurzschlüsse. Das gilt vor allem bei einem Film, der im vorfaschistischen Deutschland der 1920er Jahre spielt und dessen Prämisse ein Kollektivsymbol mit langer antisemitischer Tradition ist. Der Antisemitismus wird zwar an einzelnen Stellen als spezifisches Phänomen sichtbar (Ljowuschka findet in Jakobs Hinterlassenschaften einige offenbar zu Dokumentationszwecken gesammelte antisemitische “Blutsauger”-Karikaturen, Tante Erkentrud bezeichnet die vermeintlichen Verursacher der Bisse einmal als “jüdische Flöhe”), doch es dominiert ein auf fragwürdige Weise verallgemeinerndes Bild: Zum Sündenbock und Opfer des völkischen Mobs wird der als fremd und abweichend markierte Außenseiter – hier der häufig mit rassistischen Ausdrücken beschimpfte Algensammler, der im Wortsinn am Rand der Gesellschaft seiner Arbeit nachgeht. Wenn durch den Ausdruck “chinesische Flöhe” zudem noch Donald Trumps Bezeichnung des Corona-Virus als “chinese flu” aufgerufen wird, droht die Spezifik des eliminatorischen Antisemitismus endgültig aus dem Blick zu geraten.
[3] Radlmaier selbst nennt in einem Interview, das im Presskit des Verleihs abgedruckt ist, Marcel Proust, Robert Walser und Ilja Ehrenburg als literarische Vorbilder.
[4] Nicht nur in dieser Hinsicht erinnert Blutsauger stark an die Kafka-Verfilmung Klassenverhältnisse (1984) von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, in der jede Figur eine eigene, stark idiosynkratische Art zu sprechen hat. Auf Franz Kafkas Der Verschollene und den Film von Straub und Huillet, bereits für Radlmaiers dffb-Abschlussfilm Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes (2017) wichtige Referenzpunkte, wird zudem in einer ganz beiläufigen Anspielung direkt verwiesen: Im Namen “Oklahoma Investment”, von der Octavia Wertpapiere besitzt, klingt das “Naturtheater von Oklahoma” an, in dessen Tradition sich Radlmaiers Filme selbst verorten.
[5] Auch hier wird mit Referenzen nicht gespart, lässt der Titel doch etwa an den von Luis Buñuel verfilmten Roman Tagebuch einer Kammerzofe (1964) oder die Buch- und TV-Serie Vampire Diaries (2009–2017) denken, die in Deutschland unter dem Titel Tagebuch eines Vampirs bekannt ist.
[6] Jakob beginnt mit seiner Lektüre von Prousts Die Suche nach der verlorenen Zeit, nachdem er von Octavia den Auftrag erhalten hat, das Buch für Ljowuschka bereitzulegen. Schon nach wenigen Sätzen, die das Publikum dank der Großaufnahme ebenfalls lesen kann, schläft er jedoch über dem Buch ein. Seine so implizierte Unfähigkeit, das Werk im klassischen Sinne zu verstehen, erzeugt dabei eine besondere Nähe zwischen Jakob und Prousts Ich-Erzähler: Beide schlafen (zu) früh ein.
[7] Blutsauger wurde von WDR und arte koproduziert und von zahlreichen öffentlichen Filmförderanstalten sowie der Kulturstaatsministerin finanziell unterstützt.
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Blutsauger feierte im vergangenen Jahr auf der Berlinale Premiere. Seit dem 12. Mai läuft er in den deutschen Kinos; der österreichische Kinostart ist am 2. Juni.