von Isabelle Lehn
(Ein Essay aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)
Warum siehst du so ernst aus, auf deinen Autorenfotos? Hat der Verlag dich so inszeniert? Die Frage eines Studenten beschäftigt mich. In Wirklichkeit wirkst du viel lässiger! Ich muss lachen, weil er mich für lässig hält. Nein, sage ich. Der Verlag hat damit nichts zu tun. Ich allein bin für meine Bilder verantwortlich.
Warum sehen mir meine Fotos nicht ähnlich? Wäre es nicht schöner, ein lässiger Anblick zu sein? Vielleicht, antworte ich, werde ich einfach nicht gern fotografiert. Ich gebe nicht gern ein Bild ab, das mit mir verwechselt wird. Und ich werde nicht gern mit meiner Arbeit verwechselt. Ich will nicht die Frau mit den Lippen sein, die man mit einem Reh verwechselt. Alles schon vorgekommen. Ein Bambi, das für Bambis schreibt. Ich könnte lässiger aussehen, ja. Aber niemand soll denken, dass ich zu lässig denke.
Übertreibe ich ein bisschen? Ein Bild von sich abgeben. Sich einem fremden Blick überlassen, in dem man sich nicht wiedererkennt. Lieber will ich nicht sichtbar sein. Ein Bild ohne Eigenschaften, undurchlässig und schweigsam, in abweisende Farben gekleidet. Ob mein letzter Roman, der vom Scheitern eines ernstzunehmenden Lebens handelt, von seiner Autorin erzählt? Ich will ein Bild, das keine Antworten liefert.
Als Kind stellte ich mir manchmal vor, dass man mich still beobachten könnte. Heimlich, mit versteckter Kamera. Man würde sehen, wie ich wirklich war, wenn ich mich unbeobachtet fühlte: klug und witzig, lässig und wunderbar. Was für ein tolles Kind!, würde man sagen, wenn man mich endlich erkannte. Ich war ein Kind fürs dunkle Zimmer. Für die Freiheit der Einsamkeit, die Unzudringlichkeit von Schallplatten, Büchern und Hörspielkassetten, die keine Notiz von mir nahmen. Ich beobachtete, was im Fernsehen geschah. Der Fernseher sah nie zurück, er beschwerte sich nicht, dass ich starrte. Ich war glücklich, wenn man mich in meinem Zimmer vergaß.
Das Bild, das ich draußen abgab, war allerdings völlig unbrauchbar. In Gesellschaft verwandelte ich mich in ein seltsames Kind. Ich wurde still und ernst, wütend und sprachlos, weil es mir nicht gelang, den room of my own zu verlassen. Ich war wütend auf die Welt, ihre erwartungsvollen Blicke, die laut nach mir greifenden Stimmen, die dieses Kind aus mir machten.
Dass ich meinen letzten Roman schrieb, ist vielleicht auch dem Wunsch dieses Kindes geschuldet. Ein Bild abgeben, das an Ehrlichkeit grenzt, ganz egal wie fiktiv oder real es ist. Wie lebt es sich im room of one’s own, wenn man sich unbeobachtet fühlt? Was spielt sich hinter verschlossenen Türen ab?
Solange mein Zimmer nur mir gehörte, hatte ich kein Geheimnis vor mir. Ich schrieb vor mich hin und machte mir weiß, den room of my own nicht verlassen zu müssen: Niemand wird lesen, was du hier schreibst! Schreib, was du willst! In deinem Zimmer bist du sicher und frei.
Natürlich ahnte ich, dass ich mein Versprechen nicht halten würde. Ich war dabei, mir Gäste in dieses Zimmer zu laden. Mir gefiel, was ich schrieb. Es war gut und witzig, lässig und wunderbar, und wer war ich, es der Welt vorzuenthalten? Die Autorin in mir würde zu eitel sein, diesen Text nicht zu publizieren. Ich wusste es längst. Was ich hier tat, war eine große Schamlosigkeit.
Virginia Woolf sprach von der Notwendigkeit für schreibende Frauen, einen room of one’s own zum Rückzug in die Stille zu haben. Aber sie sprach auch von der Notwendigkeit, diesen eigenen Raum wieder zu verlassen. In ihrem Vortrag Berufe für Frauen aus dem Jahr 1929 benannte sie die „zwei Proben der Schriftstellerin“: Die schreibende Frau müsse die Wahrheit über ihre Erfahrung als Körper schreiben. Und „den Engel im Hause töten“, der von ihr erwartet wird.
Beide Proben handeln von der Überwindung der Scham: Der Engel im Hause muss abgelegt werden, denn er würde sich niemals schamlos verhalten. Er wäre niemals so schamlos, schreibend das Wort zu ergreifen und zu glauben, dass er etwas zu sagen hat. Er würde niemals über sich selbst und den eigenen Körper schreiben. Er würde das Haus nicht verlassen, um seine Gedanken mit anderen zu teilen. Und er würde niemals Gäste hereinbitten, wenn er nicht aufgeräumt hat. Vor allem aber würde er eins nicht: wahrhaftig schreiben.
Konnte es sein, fragte ich mich, dass auch wir an diesen Proben noch scheiterten, knapp einhundert Jahre, nachdem Virginia Woolf sie aufgezeigt hatte? Konnte es sein, dass auch ich noch immer davor zurückschreckte, ohne Scham zu berichten, dass kein Engel in meinem room of one’s own hauste, sondern eine Frau mit Fehlern und Schwächen, deren Körper ihr manchmal zu schaffen machte? Das bin nicht ich!, wollte ich jedem Satz anheften. Das bin doch ich!, schrieb ich stattdessen, Ausrufezeichen. Was ein Mann kann, das konnte ich schon lange. Oder etwa nicht?
Also gab ich dieser Frau meinen Namen. Unter meinem Namen ließ ich sie durch das Chaos führen, das sie im room of her own kuratierte. Ich ließ sie die Fenster öffnen, den Gestank herauslassen, in dem sie vegetierte, und den Müll ausstellen, den sie über die Jahre gesammelt hatte: Ihre gärende Angst vor Versagen, die Sehnsüchte, die unter ihrem Bett verfault waren, den Schmutz der Gedanken und das klebrige Selbstmitleid, die unaufgeräumte Wut, die Reste der Jugend und das Übermaß an Körperlichkeit, den gekippten Stapel aus zu hoch aufgetürmten Erwartungen. Manches davon erkannte ich wieder.
Als der Roman 2019 unter dem Titel „Frühlingserwachen“ erschien, rief er Erstaunen hervor: Mit welcher „Direktheit, Frechheit, Unverschämtheit im Wortsinne – also ohne Scham“ eine weibliche Stimme hier von sich selbst erzählte. Da waren sie also, die Proben der Schriftstellerin, denn meine Bereitschaft, mich ihnen zu stellen, löste noch immer Verwunderung aus. Es sei die „Ausräumung aller Geheimnisse, die Lüftung auch der staubigsten Ecken einer menschlichen Existenz“, fasste eine Kritikerin ihren Eindruck zusammen. Sie schien noch unentschieden, ob das wirklich notwendig war: seinen Dreck mit aller Welt teilen zu müssen.
Ich weiß nicht, ob es notwendig war. Aber dann erhielt ich Emails wie diese: „Danke für das wunderbar tröstliche, komische und abgrundtief wahre ›Frühlingserwachen‹. Danke, Danke, Danke. Es tut gut zu wissen, dass offenbar auch andere solch eine Art Leben führen. Und sei es auch nur eine fiktive Personage. Mir doch egal. Es hilft.“
Der Engel im Hause ist einsam. Er erstickt an seiner Wut, seiner Scham, dem schlechten Geruch des Versagens. Es tut gut, manchmal die Fenster zu öffnen und den room of one’s own kräftig durchzulüften. Ist das schamlos, eitel oder eine Provokation, von der Vermessung einer Welt zu erzählen, die sich innerhalb meines Lebens befindet und nicht in der Vergangenheit liegt? Ist es schamlos, wenn ich daran glauben will, dass diese Welt, die nicht von bedeutsamen Männern bevölkert wird, sondern von einer banalen Frau, anderen zumutbar und (vielleicht noch vermessener) sogar literaturfähig ist?
Mir doch egal. Es hilft.
Da ist dieser Wunsch, alle Räume eines Lebens bewohnen zu dürfen. Ich will kein Zimmer mehr verschließen müssen und vor der Welt im Geheimen halten, alle Fenster öffnen, die Türen einschlagen. Ich will mit der Axt schreiben, den Engel im Hause entleiben. Die Schriftstellerin ist frei von seiner Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Ihre Probe aber ist harte Splatter-Arbeit.
In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.
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