von Daniel Stähr
Thomas Piketty: Kapital und Ideologie, C.H. Beck 2019.
Katharina Pistor: Der Code des Kapitals: Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, Suhrkamp 2019.
Es gibt zwei elementare Herausforderungen, vor denen die Menschheit in den kommenden Jahrzehnten stehen wird: die sich anbahnende Klimakatastrophe und die immer stärker wachsende globale ökonomische Ungleichheit. Anfang 2020 kam mit der Corona-Pandemie eine weitere Menschheitsaufgabe dazu, die zu radikalen Einschnitten im gesellschaftlichen Leben geführt hat. Die Pandemie wirkt wie eine Vorschau darauf, was uns im Kampf gegen die Klimakrise erwartet und wie wenig geeignet unsere aktuellen Systeme für diesen Kampf sind.
Es ist augenscheinlich, dass die Reichsten zu den Gewinnern*innen der gegenwärtigen Krise zählen. Die zehn reichsten Menschen der Welt konnten während der Corona-Pandemie ihr Vermögen zusammen um ca. 540 Milliarden Dollar vergrößern. Alleine Elon Musk verfünffachte zwischen März und Dezember 2020 sein Vermögen. Insgesamt haben in den USA 45 der 50 größten Unternehmen Gewinne erwirtschaftet, dennoch haben 27 von ihnen, mit Verweis auf die angespannte Lage durch die Pandemie, Arbeiter*innen entlassen. Auch in Deutschland hat während der Krise der Autobauer Daimler staatliche Hilfen in Form von Kurzarbeitergeld über ca. 700 Millionen Euro in Anspruch genommen. Gleichzeitig wurde im vergangenen Jahr ein Gewinn von ca. 4 Milliarden Euro erwirtschaftet und die Dividendenzahlung im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent erhöht. Dieses Vorgehen lässt sich auch als direkte Umverteilung von Steuergeldern an Aktionär*innen interpretieren.
Was in der relativen Schnelllebigkeit der Pandemie-Politik kurzfristig ohne direkte Folgen bleiben mag, wird kaum im langwierigen und zwingend nachhaltig zu führenden Kampf gegen den Klimawandel genauso funktionieren. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Maßnahmen zum Klimaschutz, die Reichtum und Wohlstand weiterhin von den Ärmsten zu den Reichsten umverteilen, langfristig politische Mehrheiten finden können. Im Vergleich zu den Kosten, die auf die Menschheit zukommen, um den Klimawandel in Grenzen zu halten und mit seinen Folgen zu leben, erscheinen die ökonomischen Kosten, die die Covid-19-Pandemie verursacht hat, gering. Es greift also zu kurz, sich ausschließlich auf Maßnahmen zum Schutz des Klimas zu fokussieren, wenn dabei außer Acht gelassen wird, wie die Kosten dafür gesellschaftlich zu verteilen sind.
Der Status Quo: Gewinne privatisieren, Verluste sozialisieren
Ein erster Wendepunkt für das Nachdenken über moderne kapitalistische Systeme könnte die schlimmste Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein. Die sogenannte Subprime Krise von 2007/2008, die auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt ihren Anfang nahm und bald die gesamte Weltwirtschaft erfasste, hat auf erstaunliche Art und Weise das globale Politikversagen offengelegt. Die enormen Anstrengungen, die unternommen werden mussten, um nach der Insolvenz der Investmentbank Lehmann Brothers einen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems zu verhindern, wurden komplett aus Steuergeldern finanziert. Ernsthafte regulatorische Bemühungen das Finanzsystem im Nachhinein zu stabilisieren, um zukünftig solche Krisen zu vermeiden, wurden allerdings kaum unternommen. Entweder wurden sie durch die Lobbyarbeit des Finanzsektors verwässert, oder, wie in den USA unter Präsident Trump, bald wieder rückgängig gemacht. Es ist an Ironie schwer zu überbieten, dass einer der größte Gewinner der Krise auch deren Verursacher war – der US-Bankensektor. Als Europa in den Nachwehen der Krise vor einer Zerreißprobe stand und in Griechenland die Versorgung mit Medikamenten aufgrund der extremen Sparauflagen eng wurde, eilten die US-Banken ab 2010 von einem Rekordgewinn zum nächsten. Während die Verluste sozialisiert wurden, wurden die Gewinne weiterhin privatisiert.
Der Wendepunkt war also kein regulatorischer, sondern einer im Nachdenken über das gegenwärtige System. Occupy Wall Street, der Brexit oder das globale Erstarken des Rechtspopulismus – diese Phänomene lassen sich auch auf die Erfahrungen im Umgang mit der globalen Finanzkrise zurückführen. Auch in der ökonomischen Wissenschaftsgemeinde hatte diese Krise Folgen. Die Forschung über die Entwicklung und Auswirkungen von globaler Ungleichheit ist im vergangenen Jahrzehnt immer weiter in das Zentrum der ökonomischen Debatte gerückt. Allen voran Das Kapital im 21. Jahrhundert des Franzosen Thomas Piketty, das 2013 zu einem überraschenden weltweiten Bestseller wurde, hat das Bewusstsein für die prekäre Lage, in der sich die Menschheit mit Blick auf die Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen befindet, enorm geschärft.
Pikettys Beitrag zur Debatte ist deshalb so wichtig, weil er das bestehende System nicht bloß kritisiert, sondern es grundlegend in Frage stellt. Seine zentrale These ist so einfach wie bedrückend: Kapitalerträge wachsen in unserem kapitalistischen System schneller als die Gesamtwirtschaft. Das führt dazu, dass die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen unaufhörlich steigt. Bis heute gibt es zahlreiche weitere erfolgreiche Arbeiten aus den Wirtschaftswissenschaften zu diesem Thema, beispielsweise von Branko Milanović, Joseph Stiglitz oder Linda Scott. Einer Frage aber, die in diesem Rahmen bisher kaum diskutiert wurde, hat sich Ende des vergangenen Jahres die deutsche Juristin Katharina Pistor in Der Code des Kapitals gewidmet: Wie entsteht Kapital überhaupt?
Kapital wird im Recht codiert
Es ist wahrscheinlich eines der größten Probleme, das es im gesellschaftlichen kapitalismuskritischen Diskurs gibt. Was ist Kapitalismus oder noch konkreter, was ist Kapital überhaupt?
“It might reasonably be presumed that to understand capitalism we must understand capital”, merkt der britische Ökonom Geoffrey Hodgson in seinem 2015 erschienen Buch Conceptualizing Capitalism an, ehe er auf über 30 Seiten verschiedene Definitionen zusammenträgt und diskutiert. Es gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort, weder in der wissenschaftlichen Debatte noch in der gesellschaftlichen. Je nachdem, welche konkrete Frage beantwortet werden soll, kann es auch durchaus sinnvoll sein, auf unterschiedliche Definitionen von Kapital zurückzugreifen. Pistor nutzt für ihre Argumentation eine relative allgemeine Definition. Für sie ist Kapital eine rechtliche Qualität, die hilft Vermögen und künftige Profite zu schaffen und zu schützen.
Kapital entsteht bei ihr nicht in einem ökonomischen Prozess, sondern wird in juristischen Verfahren codiert. Jurist*innen erschaffen demnach aus Dingen, Fähigkeiten oder auch nur Ideen Kapital. In Der Code des Kapitals analysiert die Autorin, die Professorin an der Columbia Law School ist, die juristischen Eigenschaften, die Kapital mit sich bringt, und skizziert die historische Entwicklung des Begriffs, die unserem heutigen Kapitalismus zu Grunde liegt.
Die Beschreibungen Pistors gehen von dem erstmaligen Umwandeln von Boden in Kapital im vorindustriellen England, über die Schaffung von Finanzderivaten (also Finanzprodukte, die sich auf andere Finanzprodukte beziehen, wie Optionsgeschäfte oder Wetten auf steigende/fallende Kurse, wie jüngst beim Spielehändler Gamestop), bis hin zu den ersten Versuchen einzelne Sequenzen des menschlichen Genoms zu kapitalisieren. In den 1990er-Jahren hatte das US-amerikanische Unternehmen Myriad Genetics die Sequenzierung eines genetischen Markers für Brustkrebsrisiko patentiert und anschließend kapitalisiert, obwohl die Grundlage für diese Entdeckung weitestgehend mit öffentlichen Mitteln finanziert worden war. Alle Kliniken, die auf den Marker testen wollten, mussten dafür Lizenzen von Myriad erwerben. Der Preis dieser Lizenzen lag ein Vielfaches über dem, was die Tests eigentlich gekostet hätten. Erst 2013 entschied der Supreme Court, dass der menschliche genetische Code nicht patentiert werden könne. Zu diesem Zeitpunkt hatte Myriad damit jedoch bereits Milliarden Dollar verdient. (Mehr Informationen zu diesem Fall sind hier zu finden). Der Fall Myriad und auch die aktuelle Debatte um die Freigabe der Patente der Covid-19 Impfstoffe zeigen, wie drastisch die Folgen sein können, die die Schaffung von Kapital hat.
Damit ein Gut in Kapital umgewandelt werden kann, verleihen rechtliche Module (etwa das Eigentums-, Vertrags-, Privat- oder Insolvenzrecht) ihm vier grundlegende Eigenschaften. Erstens Prioritätsrechte, die die Ansprüche der Kapitalinhaber*innen schützen. Zweitens Beständigkeit, die diese Prioritätsrechte zeitlich ausdehnen, teilweise sogar über die Zeit eines Menschenlebens hinaus, wenn sie bei einer juristischen Person liegen. Drittens Universalität, die sicherstellt, dass getroffene Vereinbarungen nicht nur für die ursprünglichen Vertragsparteien gelten, sondern für alle Mitglieder einer Gesellschaft. Viertens Konvertierbarkeit, die garantieren soll, dass das kapitalisierte Gut auch in Staatsgeld (also sehr liquide Zahlungsmittel, wie Bargeld) umgewandelt werden kann. Einfach ausgedrückt meint das, dass Kapital leicht handelbar wird und ohne große Probleme von Partei A auf B übertragen werden kann.
Dieser gesamte Vorgang wird bei Pistor als Codierung des Kapitals bezeichnet. Sie zeigt, dass dieser Vorgang nicht öffentlich oder vor dem Staat verhandelt wird, sondern im privaten Raum, zumeist in den Anwaltskanzleien dieser Welt. Erst wenn es tatsächlich zu einem Rechtsstreit kommt, wie im Fall Myriad Genetics, wird die Kapitalisierung im konkreten Einzelfall vom Staat überprüft. Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das zu den grundlegenden Problemen unseres heutigen neoliberalen Kapitalismus zählt. Kapital wird zwar im Privaten, ohne staatliche Aufsicht geschaffen, ist aber auf den Staat angewiesen, der im Zweifel mithilfe der Gerichtsbarkeit die Ansprüche des Kapitals durchsetzen muss. Das hat zur Folge, dass diejenigen Teilnehmenden am kapitalistischen Prozess, die die meisten Ressourcen haben um a) die Kapitalisierung bestimmter Güter von Profis (also Anwält*innen) durchführen zu lassen und b) im Zweifel die finanziellen Mittel haben, jene Ansprüche vor Gericht durchzusetzen, einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Rest der Gesellschaft haben. So ist Ungleichheit bereits in der grundlegenden Schaffung von Kapital unabdingbar angelegt.
Einzig im Patentrecht haben die Staaten die Möglichkeit, die Schaffung von Kapital zu kontrollieren, aber auch diese Kontrolle ist nicht lückenlos. Viele Arten des Kapitals, wie beispielsweise Finanzprodukte oder Kapitalgesellschaften, lassen sich völlig ohne eine staatliche Aufsicht erschaffen. Durch das geschickte Kombinieren der vier grundlegenden Eigenschaften kann das Kapital enorme Sonderrechte erlangen und sich etwa vor der Besteuerung durch Staaten schützen, oder im Fall einer Insolvenz bestimmten selbst gewählten Gruppen Vorgriffsrechte gewähren.
Ein perfektes Beispiel dafür ist der Trust. Dieses in den USA entwickelte rechtliche Gebilde, hat seinen vornehmlichen Zweck darin, die Eigentümerschaft von Kapital zu verschleiern. Dafür greift es alle vier oben beschriebenen Eigenschaften der Codierung des Kapitals auf. Wie funktioniert ein Trust? Am einfachsten lässt sich das am Beispiel reicher Eltern veranschaulichen, die Geld für ihr Kind beiseite legen wollen. Diese hypothetischen Eltern suchen sich also eine Anwältin, die ihnen einen Trust (manchmal auch Trust Fund) aufsetzt und verschieben darin ein Teil ihres Vermögens. In diesem Fall sind die Eltern die Treugeber. Nun werden die Rechte an diesem Trust an eine*n Treunehmer*in übertragen, das kann bspw. oben genannte Anwältin sein. Diese Person wird zur offiziellen Eigentümerin des Vermögens, darf es allerdings nur zum Zweck des Beneficiary verwalten – im Beispiel also dem Kind. Zu einem festgelegten Zeitpunkt geht das Eigentum dann auf das Kind über. Innerhalb weniger Minuten hat das Eigentumsrecht an diesem Vermögen gewechselt, ohne dass zwingend jemand auf der Welt davon erfährt. Die Eltern haben damit dafür gesorgt, dass das Vermögen vor dem Zugriff anderer, bspw. des Staats oder Gläubiger (falls die Eltern insolvent gehen sollten) geschützt ist und sie genau bestimmen können, wer es irgendwann einmal erhält. Viele Prominente und Wohlhabende bedienen sich dieser Praxis, um Vermögen effizient (also steuervermeidend) an ihre Kinder weiterzugeben. Von der Grunge-Ikone Kurt Cobain, über den Modeschöpfer Gianni Versace, bis zu Kim Kardashian, ab einem gewissen Reichtum gleichen sich die Lebensentwürfe, trotz vermeintlicher ideologischer Unterschiede, erstaunlich schnell an. Da Trusts geringer besteuert werden als normale Vermögen oder Einkommen, zeigt sich hier deutlich, wie die besonderen rechtlichen Prioritäten gewisser juristischer Gebilde Kapitalinhaber*innen bevorzugen.
Die Globalisierung des Kapitals
Wir stehen also vor einem Rätsel: Wenn das Kapital im Recht codiert ist, wie kann dann der globale Kapitalismus ohne einen globalen Staat und ein globales Rechtssystem existieren? Die Lösung dieses Rätsels ist überraschend einfach: Der globale Kapitalismus kann, zumindest in der Theorie, durch ein einziges nationales Rechtssystem aufrechterhalten werden, vorausgesetzt, dass andere Staaten dessen Rechtscode anerkennen und durchsetzen.
Der globale Siegeszug des Kapitals wurde auch dadurch ermöglicht, dass die internationale Staatengemeinde gegenseitig ihre Rechtssysteme anerkannt hat. Dadurch wurde es möglich, dass Kapital nicht nach den Gesetzen des Landes beurteilt wird, in dem es tatsächliche Profite erwirtschaftet, sondern nach der Gesetzgebung des Landes, in dem es geschaffen wurde. Da es heutzutage nur einige Klicks braucht, um eine Firma in einem Staat meiner Wahl zu gründen, entstand so ein Wettlauf um die besten rechtlichen Bedingungen für die Ansiedlung von Kapital. Das sind heute vor allem Großbritannien und die USA (genauer der Staat New York), weil die dortige Rechtsprechung sehr eindeutig zu Gunsten des Kapitals ausfällt [1].
Diese Pervertierung der gegenseitigen Anerkennung nationaler Rechtssysteme hat denjenigen, die Kapital codieren, zusätzliche Macht verliehen, da sie nicht mehr an die Gesetzgebung eines Staates gebunden sind. Wenn wir bedenken, dass viele Streitigkeiten gar nicht vor ordentlichen Gerichten verhandelt, sondern in privaten Schiedsgerichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit beigelegt werden, also von jeder Rechtsstaatlichkeit losgelöst sind, wächst diese Macht weiter an. Zusätzlich verstärkt wird dieser Effekt außerdem durch die fast unbegrenzte Mobilität von Kapital. Dass die Schweiz, Irland oder die Niederlande zu den wichtigsten Handelspartnern zahlreicher Nationen zählen, hängt nicht damit zusammen, dass so viele Waren dorthin geliefert werden (auch wenn der Rotterdamer Hafen in den Niederlanden als internationales Drehkreuz eine Rolle spielt). Viel eher liegt es daran, dass alle drei Länder bekannte Steueroasen sind. Nehmen wir einmal an, wir haben ein global agierendes Technikunternehmen gegründet und verdienen damit Milliarden. Wir agieren in so ziemlich jedem Land der Erde, haben aber keine Lust die Steuersätze dieser Ländern zu bezahlen. Was können wir tun um zu verhindern, dass wir die relativ hohen Unternehmenssteuern in Deutschland oder Frankreich (hoch im Vergleich mit Steueroasen) zahlen müssen? Wir gründen zunächst ein Tochterunternehmen in einer Steueroase, sagen wir Irland. Diesem Tochterunternehmen überschreiben wir die Rechte an unserer Marke (also das Logo, der Name, Patente etc.). Unser anderes Tochterunternehmen in Deutschland, welches unsere Handys und Laptops in vor Ort verkauft, “erwirbt” nun die Lizenzen zur Nutzung unserer Marke von unserer irischen Tochter. Da uns ja beide Unternehmen gehören, können wir den Preis für diese Nutzungslizenzen selbst festlegen. Wir können ihn also in genau jener Höhe festsetzen, die gerade unseren Gewinnen entspricht. So müssen wir in Deutschland keine Steuern zahlen, weil wir dort keine Gewinne erwirtschaften und in Irland, wohin wir mit diesem Trick unsere Gewinne verschoben haben, zahlen wir auch kaum Steuern, weil der irische Staat kaum welche erhebt. Nach diesem Muster agieren viele internationale Konzerne (bspw. Apple) um mit hilfe juristischer Verfahren ihre Steuerzahlung auf ein Minimum zu reduzieren.
Unsere problematische Quasi-Heiligsprechung von Privateigentum
Die Darstellung dieses Status Quo gelingt Pistor, trotz der Komplexität des Untersuchungsgegenstands auf beeindruckende und verständliche Weise. Zwar ist die Lektüre des Textes immer noch fordernd, aber Pistor gibt dem Lesenden die Chance, den komplexen juristischen Gebilden zu folgen. Umso zaghafter sind die daraus abgeleiteten Lösungsvorschläge. Sie beschreibt zwar, wie einige der Probleme anzugehen wären, etwa durch die Abschaffung gewisser Sonderrechten für Kapitalinhaber*innen, oder das Erschweren der Auswahl der Rechtsform. Alles in allem bleibt aber fraglich, ob Pistors Korrekturvorschläge tatsächlich die drastische Verbesserung der globalen Ungleichheit zur Folge hätte, die notwendig ist.
Hier ist Thomas Pikettys letztes Buch Kapital und Ideologie ein interessanter Anknüpfungspunkt. Denn dort, wo Pistor die technischen Grundlagen für die Schaffung von Kapital seziert, betrachtet Piketty unser aktuelles ideologisches Verhältnis dazu und leitet daraus Folgen für die wachsende Ungleichheit auf der Welt ab. Tatsächlich ist es so, dass das Level an Ungleichheit inzwischen ein Niveau erreicht hat, das an die dysfunktionalen Monarchien zu Zeiten des Fin de Siècles um 1900 erinnert. In den USA oder den Ölmonarchien des Nahen Ostens erhält das reichste 1-Prozent der Bevölkerung einen größeren Anteil am Gesamteinkommen des jeweiligen Landes als die ärmsten 50-Prozent zusammen. In Europa sieht es zwar noch etwas besser aus, aber auch hier ist der Trend eindeutig. In Deutschland. verdienten die ärmsten 50-Prozent 1980 noch 30% des nationalen Einkommens und die reichsten 10-Prozent ca. 22%. Heute hat sich dieses Verhältnis fast umgekehrt: ca. 26% für die ärmsten 50-Prozent und 30% für die reichsten 10-Prozent. (Die Anteile sind bereits nach Abzug aller Steuern, Quelle: World Inequality Database).
Pikettys Credo lautet: Jede Gesellschaft muss ihre Ungleichheit rechtfertigen, damit sie funktioniert. Dazu bedarf es einer passenden Ideologie. Für Europa, Nordamerika und auch einen großen Teil der ehemaligen Kolonialgebiete, denen diese Ideologien aufgezwungen wurden und die bis heute dort nachwirken, bezeichnet er dies als Proprietarismus (vom französischen Wort für Besitz: Propriété). Der proprietaristischen Ideologie liegt ein Festhalten an meritokratischen Vorstellungen und eine Quasi-Heiligsprechung von Eigentumsrechten zu Grunde (Meritokratie meint eine Herrschaftsform, in der Erfolg und sozialer Aufstieg einzig auf die Leistung des Individuums zurückzuführen ist). In der Logik des Proprietarismus gilt: Wer etwas besitzt, hat es sich verdient und hat für alle Zeit die Entscheidungsgewalt über diesen Besitz. Und auch wenn seit der Finanzkrise 2008 der Glaube an die meritokratische Struktur unserer Gesellschaft erste Risse erhalten hat, so ist die Überzeugung, dass sich Leistung am Ende durchsetzt doch noch immer tief in den Köpfen der Menschen verankert. (Dass der Begriff Meritokratie, der in den 1950er Jahren von dem britischen Soziologen Michael Young in seiner dystopischen Satire Rise of the Meritocracy geprägt wurde, heute oftmals als etwas erstrebenswertes verwendet wird, zeigt, wie sehr sich der Diskurs in den vergangenen Jahrzehnten verschoben hat.)
Viele Vorschläge zu Vermögens-, Erbschafts- oder Kapitalertragssteuern werden mit dem Verweis auf die Unantastbarkeit des (Privat-) Eigentums abgetan. „Steuern sind Diebstahl“, einer der Lieblingssprüche junger Neoliberaler atmet diesen proprietaristischen Geist. Piketty zeigt an einem Beispiel, wie weit die Hörigkeit des Privateigentums gehen kann. Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts gelang auf Haiti die erste erfolgreiche Revolution von Sklav*innen gegen ihre (französischen) Unterdrücker. 1804 wurde Haiti unabhängig. Was folgte, waren zahlreiche Schadensersatzforderungen, allerdings nicht von den früheren Sklav*innen, wie man vermuten würde, sondern von den Plantagenbesitzern, die sich um ihr Eigentum gebracht sahen.
Der französische Staat gab ihnen Recht und zwang Haiti zur Zahlung von Entschädigungen und drohte mit internationalem Boykott. Bis in die 1950er Jahre (!) leistete Haiti diese Zahlungen an Frankreich. Bis heute gibt es keine Entschädigungen von Seiten des französischen Staates. Diese absurden Zahlungen sind ein Grund, wieso Haiti zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, während die Dominikanische Republik, die wie Haiti auf der Karibikinsel Hispaniola liegt, ein relativ hohes Wohlstandsniveau erreichen konnte.
Das ist die ideologische Grundlage, auf der unsere Vorstellung von Eigentum basiert. Wer nun denkt, dass so etwas heute unmöglich ist, demjenigen muss man nur das Verhalten der großen Energiekonzerne in Deutschland vor Augen führen. Hier werden private Konzerne mit staatlichen Mitteln dafür entschädigt, dass sie aufhören, den Planeten nachhaltig zu zerstören, ohne dass die Gewinne, die sie jahrzehntelang aus ihrer umweltschädlichen Praxis erwirtschaftet haben, dafür verwendet werden. Wieder werden Gewinne privatisiert, während Verluste sozialisiert werden. Besonders symptomatisch war auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen den Berliner Mietendeckel. Hier wurde eine politische Entscheidung durch ein juristisches Organ negiert – zu Gunsten der Kapitalinhaber*innen.
Ein Ausweg ist möglich
An dieser Stelle treffen sich die Privilegien des Kapitals, wie Pistor sie schildert, und Pikettys Kritik an unserem Wirtschaftssystem. Nur dass Pikettys Schlussfolgerungen daraus radikaler sind als Pistors, auch wenn bei weitem nicht so radikal wie einige Konservative gerne behaupten. Zwar hat Pistor recht, wenn sie behauptet, dass die Codierung des Kapitals dazu führt, dass es sich unter anderem der Besteuerung durch den Staat entzieht, aber das liegt auch an dem Unwillen der Staaten, sich mit den Besitzenden dieses Kapitals anzulegen. Thomas Piketty erstellt in seinem Buch einen sehr konkreten Plan, wie die wachsende Ungleichheit gebremst und die Entwicklung der vergangenen 50 Jahre sogar umgedreht werden könnte.
Neben der Einführung eines Grundeinkommens wäre dafür vor allem eine drastische Reform des Steuerrechts notwendig. Ein wichtiger Faktor dabei ist, dass Steuern, um effektiv sein zu können, progressiv gestaltet werden müssen. Das bedeutet, dass Menschen mit einem höheren Einkommen/Vermögen auch prozentual höher besteuert werden. Kopfsteuern, wie beispielsweise die Mehrwertsteuer, die für alle Menschen identisch sind, verschärfen hingegen Ungleichheit, da sie Menschen mit geringerem Einkommen stärker belasten. Es ist wohl auch deshalb nicht verwunderlich, dass es bei den Steuersenkungen, die die FDP oder die Unionsparteien fordern, nur selten um diese Steuern geht. Piketty hingegen fordert, dass solche Kopfsteuern ganz abgeschafft werden müssen, um eine gerechtere Verteilung zu erreichen.
Sinnvoll wäre eine solche progressive Besteuerung bei CO2-Emissionen. Was in diesem Fall progressiv bedeuten würde, lässt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: für die ersten zehn Tonnen CO2 die ich produziere, muss ich 25€ Steuern pro Tonne zahlen. Ab der elften Tonne würde die Steuer auf bspw. 50€ pro Tonne steigen. Ich würde in diesem fiktionalen Beispiel also für zehn Tonnen CO2-Emissionen 250€ Steuern zahlen, für zwanzig Tonnen aber 750€. Progressiv heißt hier, dass eine Person die das doppelte an CO2 produziert, mehr als nur das doppelte an Steuern zahlt. Da wohlhabende Menschen mehr CO2 verbrauchen und damit größere Verantwortung für den Klimawandel tragen, würden sie so gerechter zu dessen Bekämpfung herangezogen werden. Die in Deutschland eingeführte CO2 Steuer sieht einen festen Preis vor: jede Tonne CO2 kostet exakt gleich viel. Das führt dazu, wie auch die Mehrwertsteuer, dass ärmere Haushalte relativ zu ihrem Einkommen stärker belastet werden als reiche.
Zum anderen sieht Piketty die Notwendigkeit, dass die Einkommensteuer so reformiert wird, dass Kapitalerträge (z.B. Zinsen) endlich stärker besteuert werden als die klassischen Einkommen aus Arbeit (also Löhne). Zu guter letzt plädiert er für eine Erhöhung (oder besser: überhaupt eine Einführung) von Erbschafts- und Vermögenssteuern. Ein gerechtes Erbschaftssteuer System könnte nach Piketty so aussehen: Es wird eine Erbschaftssteuer erhoben, die von 5 Prozent (wenn das Vermögen dem 0,5-fachen des Durchschnittsvermögen entspricht) bis zu 90 Prozent reicht (wenn das Vermögen dem 10.000-fachen des Durchschnittsvermögen entspricht). Als Ausgleich fordert Piketty, dass alle Menschen zu einem festgelegten Zeitpunkt, mit 18 oder 21 Jahren eine Pauschal-Erbschaft erhalten, die 60 Prozent des Durchschnittsvermögen eines Erwachsenen entspricht (für Westeuropa ca. 120.000 €). So würde eine gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, die nicht mehr so stark von der finanziellen Ausstattung der Eltern abhängt. Außerdem wäre so eine Verjüngung der Vermögensverteilung möglich, was erfahrungsgemäß zu einer kreativeren Verwendung des Vermögens führt. [2]
Ironischerweise hat in der proprietaristischen Logik ein gesellschaftliches Konstrukt Platz gefunden, das so gar nicht zu dem “Leistung muss sich lohnen” Credo ihrer Vertreidiger*innen passt – die Familie. Ob es die Bestechung von Elite-Universitäten durch wohlhabende Eltern in den USA ist, damit ihre Kinder dort aufgenommen werden, oder das Weitergeben von Vermögen, möglichst steuersparend mit Hilfe von Trusts, familiäre Vermögen werden auf vielfältigen Weisen bevorzugt (nicht zu vergessen die steuerliche Bevorzugung der Einkommen von verheirateten Paaren). Wenn es um den plakativen Vorwurf des “leistungslosen Einkommens” geht, dann ist fast immer die Rede von Sozialleistungen, aber kaum von geerbten Vermögen. Ein Indiz dafür, dass es sich bei meritokratischen Argumenten häufig nicht um tatsächliche “Chancengleichheit” dreht, sondern um ein Zementieren von gesellschaftlichen Positionen.
Das Entscheidende um den Proprietarismus zu überwinden ist aber, dass wir als Gesellschaft Privateigentum endlich als etwas verstehen, das auf Zeit in unserem Besitz ist und nicht beliebig zum Schaden der gesamten Gesellschaft eingesetzt werden kann. Damit ist nicht gemeint, dass der Staat in die Münchener Schickeria geht, Gemälde, Designerkleidung und teure Autos wegnimmt und sie umverteilt, sondern es geht darum, dass es keinen Ewigkeitsanspruch auf Besitz geben kann – jedenfalls nicht, wenn wir in einer gerechteren Welt leben wollen. Ein gerechtes Steuersystem kann nur funktionieren, wenn wir anfangen, Gewinne und Vermögen, die nur in einem funktionierenden gesellschaftlichen Umfeld entstehen können, richtig zur Finanzierung dieser Gesellschaft heranzuziehen. Ohne dass wir den neoliberalen Märchen vom Trickle-Down Effekt, bei dem geringere Steuern für die reichsten zu einer Wohlstandvermehrung für alle führen, Glauben schenken.
Zu Zeiten der größten ökonomischen Wachstumsraten der Geschichte, in den 1950er und 1960er Jahren, gab es Unternehmens- und Einkommenssteuern und Vermögensabgaben in den USA, die um ein Vielfaches höher lagen, als das, was ein vermeintlicher Sozialist wie Bernie Sanders heute in seinen Wahlkämpfen fordert. Generell gibt es keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg, dass eine höhere Besteuerung von Gewinnen oder Vermögen, dem Wohlstand oder der Innovationskraft einer Volkswirtschaft schadet. Diese Behauptung ist, das zeigt ein Buch wie Pikettys Kapital und Ideologie, nichts weiter als neoliberale Propaganda. Eine radikale Reform der Steuersysteme, wie wir sie kennen, und eine Begrenzung der Mobilität von Kapital [3], zumindest solange es keinen internationalen Konsens über die Besteuerung von Kapital gibt und Steueroasen wie Luxemburg oder Irland existieren, sind die einzigen Möglichkeiten, die es gibt, um den dramatischen Entwicklungen in der globalen Ungleichheit entgegenzuwirken. Kombiniert man diese Ideen mit der Begrenzung der juristischen Sonderrechte des Kapitals wie Pistor sie schildert, ist eine neue, gerechtere Gesellschaftsordnung möglich.
Die proprietaristische Ideologie hat, insbesondere in den vergangenen vierzig Jahren durch den Reaganismus und Thatcherismus und dem Sieg der kapitalistischen Systeme im Kalten Krieg, alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens durchdrungen. Von den Gesundheitssystemen, über die Bildungssysteme bis hin zu den sozialen Sicherungssystemen, fast alle unserer grundlegenden Strukturen funktionieren nach dem Credo: wer sich anstrengt, kann es schaffen, und wer es nicht schafft, hat sich nicht genug angestrengt. Diese Ideologie zu überwinden, ist der Schlüssel für nachhaltige Veränderungen.
[1] Das liegt an den Rechtssystemen, die sich in den angelsächsischen Ländern entwickelt haben. Gilt in Kontinentaleuropa meistens das Civil Law, bei dem die Gesetzgebung vor allem durch Gesetzestexte erfolgt, gilt in Großbritannien und den USA das Common Law, bei dem Gerichtsentscheide maßgeblich die Gesetzgebung beeinflussen. Hinzu kommt, dass in diesen Ländern Richter*innen deutlich einfacher zwischen der Privatwirtschaft und der Justiz wechseln, sie also das Vorgehen der Marktteilnehmenden kennen und eher Verständnis dafür aufbringen.
[2] Weitere Forderungen und wie Piketty auf diese Werte kommt, erklärt er detailliert in Kapital und Ideologie. Es ist verständlich, dass nicht alle Menschen die Ressourcen haben, dieses 1.200-Seiten Buch zu lesen. Sollte man aber die Möglichkeit haben, das Buch auszuleihen, so sind die wichtigsten Thesen und Forderungen in der Einleitung sowie in Kapitel 17 des Buches enthalten, die auch ohne den Rest verständlich sind.
[3] Eine Möglichkeit der Einschränkung der Kapitalmobilität, die nicht gegen internationales Recht verstößt, wäre bspw. eine Exit-Tax, also eine Steuer, die anfällt, wenn Kapital aus dem Land abgezogen wird.
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