„Nichts ist klar so oder so“ – Helga Schuberts „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“

von Marie Isabel Matthews-Schlinzig

Schreiben ist die Kunst des Weglassens. Darin ähnelt es dem Erinnern. Aus erlebten Momenten zurren sie neue Bilder zusammen, destillieren Essenzen aus Raum und Zeit. Die Imagination fügt ihren Teil hinzu und denkt so stets die Gegenwart mit. Das gilt für die Geschichten, die das eigene Leben schreibt ebenso wie für die anderer Menschen.

Gelegenheiten zu einem solchen Mit- und Hineindenken bietet Helga Schuberts neuester Band Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten viele. Er ist ein Meisterstück autofiktionalen Erzählens. Uneitel, präzise und ohne Pathos skizziert die Autorin in 29 teils sehr kurzen Prosatexten, was es heißt, die Welt aus verschiedenen, ineinander greifenden Perspektiven wahrzunehmen: als „Kriegskind“, „Flüchtlingskind“, „Kind der deutschen Teilung“, als Schriftstellerin in der DDR und danach, Pflegende, Mutter, Psychologin, Nachbarin, Gläubige und Mitglied der evangelischen Kirche. Ein Reichtum an Blickwinkeln, der zahlreiche Anknüpfungspunkte für Leser:innen schafft, gesammelt in ein und derselben Erzählstimme.

Berückende Nähe, aufmerksame Distanz

Die erste Erzählung versetzt uns in die sowjetische Besatzungszone kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs und in eine Kindheitserinnerung: an den „idealen Ort“ der Erzählerin. In einer Hängematte im großmütterlichen Garten wacht die Siebenjährige auf, neben ihr duftet frischgebackener Streuselkuchen. Sie weiß: Es ist der erste Tag der Sommerferien, gleich trinken Großmutter und ich Muckefuck. Hier fühle ich mich sicher, hier werde ich umsorgt. Am Schluss des Bandes treffen wir die Erzählerin wieder im Deutschland des 21. Jahrhunderts und an einem verwandten Ort der Geborgenheit: im eigenen Bett, am frühen Morgen. Das zurückliegende Leben der nunmehr Achtzigjährigen blitzt vor ihrem inneren Auge auf in Form von prägenden Momenten. Als Pflegende ihres Mannes ist sie nun selbst diejenige, die für die Sorge zuständig ist.

Zwischen diesen beiden Polen spinnt Helga Schubert ein Netz aus Lebensmomenten, von dem man sich als Leser:in gern ein- und umfangen lässt. Wie schon in manchen ihrer früheren Erzählbände dient dabei die eigene Familiengeschichte als Material. Zentrale Motive sind der viel zu frühe Verlust des Vaters sowie die Traumatisierung der Mutter durch die Erfahrungen von Verwitwung, Flucht und Krieg – sowie die Folgen für das Verhältnis zu ihrer Tochter. Wer mit den Verwerfungen vertraut ist, die eben diese Erfahrungen über Generationen hinweg verursachen können, wird so Manches in Schuberts Texten wiedererkennen: die emotionale und physische Gewalt, der die Tochter wie auch die Mutter ausgesetzt waren; die seltenen Momente von mütterlicher Zuneigung und das Leiden beider Seiten, wenn sie fehlte; das Vorziehen der Urenkelin anstelle der Tochter, mit der die Erinnerung an Verlust und Leid körperlich verknüpft war.

Vor diesem Hintergrund erhält der im Band formulierte Satz: „Mein Lebensthema, dachte ich, ist die Geborgenheit“ ganz besondere Bedeutung, gibt er doch eine Suchrichtung vor, die das Schreiben Schuberts insgesamt prägt. Beredten Ausdruck findet dies u. a. in ihrer Fähigkeit, das Schwere des Lebens nicht zu beschönigen, ihm aber beharrlich immer wieder Momente der Schönheit, Sicherheit, Zufriedenheit entgegenzusetzen. Eine weise und tröstliche Haltung, die umso schätzbarer wird, je mehr schwierige Themen die Autorin aufgreift.

So erzählt Vom Aufstehen auch von den Kontinuitäten in Denkweise und Personal zwischen den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts; davon, dass sich die bundesdeutschen Freiheitsrechte für ehemalige Bürger:innen des „Zwergenlands“ DDR nach wie vor nicht selbstverständlich anfühlen; welche Jahres- und Feierzeiten das Leben auf dem Land bzw. als Gläubige prägen; von der Verlässlichkeit der Landschaft im Vergleich zur Willkür menschlicher Grenzziehungen; wie viele Begriffe von ‚Heimat‘ es gibt und dass sie eben auch als „Patchwork“ gedacht werden kann oder einfach als der Ort, an dem man „lebig“ ist – am Leben; von der zunehmenden Freiheit und der Weitung des Blicks auf sich selbst wie andere, die das Älterwerden bedeutet; und immer wieder – vom Schreiben.

Geschildert wird all dies in einem lakonischen, manchmal beunruhigend ruhigen Ton und einer berückenden Form, die einen scheinbar ganz nah an die Erzählende herantreten, gleichsam in ihre Haut schlüpfen lassen. Unterdessen ist Schubert allerdings auch eine Meisterin der Distanz: ihr Vergrößerungsglas mag durchsichtig sein, aber dessen Ränder – die sorgfältig gebaute, oft poetische Prosa – bleiben aus den Augenwinkeln stets sichtbar. Etwa wenn sie in der Erzählung ‚Eine Wahlverwandtschaft‘ familiäre Rollenbezeichnungen zwischen Personen und entgegen der tatsächlichen Generationenverhältnisse zirkulieren lässt, so dass aus der Mutter die Tochter wird, der Schwiegersohn zum Vater, etc.

Genau, aber nie eindeutig

Dem Balancieren zwischen Nähe und Distanz entspricht die Komplexität, mit der Schubert ihre Figuren darstellt. Nichts und niemand, heißt es entsprechend, ist „klar so oder so“. In Gesprächen hat die Autorin mehrfach darauf hingewiesen, wie wichtig es ihr ist, ihren Figuren in deren Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit gerecht zu werden. So gibt es auch Manches, wofür die Erzählerin der Mutter im Nachhinein dankbar ist, etwa dass sie als Kind „zu [der] anderen Großmutter durfte, trotz [des] Hasses [der Mutter] auf sie“ oder dass sie ihr “einmal nach dem Krieg […] einen Roller mit Holzrädern” kaufte und zwar “spontan, es gab keinen besonderen Anlass”.

Schuberts leidenschaftliches Dringen darauf, die Komplexität des Am-Leben-Seins als ebensolche wahrzunehmen und darzustellen, ist nicht nur ein Plädoyer für einen versöhnlichen Umgang mit anderen wie sich selbst. Es ist gesellschaftlich ebenso wie politisch zutiefst relevant in Zeiten, in denen Menschen zunehmend polarisierende Mechanismen bedienen, statt offen zu sein für Nuancen und Vieldeutigkeiten. So artikuliert und ermutigt Helga Schubert mit ihrer Art, die Welt zu erzählen, auf subtile Weise ein ‚Aufstehen‘ im mehrfachen Wortsinne.

Dabei gelingt es ihr, Persönlichstes als universal, als für andere Menschen anschließbar, darzustellen. Was sich, neben dem bereits angedeuteten Reichtum an Perspektiven in nicht geringem Maße der schieren Präzision und Konzentration verdankt, mit der die Autorin arbeitet. Nicht umsonst bezeichnet der Text „Geschichten als Mikroskop“: Schubert sieht genau hin, jedes Wort ist an seinem Platz und keins zu viel. Womit wir wieder bei der eingangs erwähnten Kunst des Weglassens wären.

Entsprechend geht es, dies nur am Rande, nie darum, ein Leben in seiner Gesamtheit oder als geschlossenes Narrativ zu schildern. Das Buch ist, wie manche Besprechung meint, gerade kein ‚Roman‘. Dafür eine Sammlung miteinander eng verstrickter Kleinodien, von denen manche dunkler, andere heller, alle aber vielfarbig schimmern und deren wichtigste Stränge zusammenlaufen in der schon anskizzierten, finalen Erzählung, ‚Vom Aufstehen‘, mit der die Autorin 2020 den Bachmannpreis gewann.

Glückhafte Wiederauferstehung

Diesen Gewinn bezeichnete Helga Schubert in einem Interview übrigens als „Auferweckung von den Toten“, denn sie hatte sich, sagt sie, „schon ganz zurückgezogen“. Ihr letztes Buch war 2003 erschienen. Der Kritikerin Insa Wilke gebührt Dank dafür, dass sie die Autorin einer allzu voreiligen Vergessenheit entzogen und wieder zu neuen Publikationen angeregt hat. Mit dem Schreiben aufgehört hatte Schubert, eigener Aussage nach, nie.

Im Gegensatz zu anderen Schrifsteller:innen aus der ehemaligen DDR wie Christa Wolf, oder bedeutenden Autor:innen älterer Jahrgänge wie Friedericke Mayröcker – mit der Helga Schubert dieses Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde – sind Schuberts zahlreiche Bücher momentan nur noch über Bibliotheken bzw. vereinzelt sowie zu mittlerweile teils horrenden Preisen über den antiquarischen Buchhandel zu beziehen.

Es ist daher eine gute Nachricht, dass dtv nach Vom Aufstehen für den Herbst 2021 Neuauflagen von zwei älteren Titeln angekündigt hat: Die Welt da drinnen: Eine deutsche Nervenklinik und der Wahn vom „unwerten Leben“, das von der Ermordung der Insassen einer Schweriner Klinik 1941 und deren Personal erzählt; sowie Judasfrauen: Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich, in dem Schubert von Frauen als Verräterinnen sowie weiblicher Täterschaft handelt.

Zu wünschen wäre, dass diesen Titeln weitere Neuauflagen folgen mögen, vor allem von Erzählungen, die zu DDR-Zeiten entstanden sind und den damaligen kritischen Blick der Autorin auf diese wiedergeben: Etwa Das verbotene Zimmer (1982), dessen Lektüre nicht nur als – formal wie inhaltlich spannender – Hintergrund des hier besprochenen Buches mehr als lohnt, tauchen doch neben den Großmüttern u.a. auch Mutter und Vater und deren Geschichte darin auf.

In diesem Kontext sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Autorin selbst einen weiteren Erzählungsband angekündigt hat. Angesichts des ungemein menschlichen, lebensklugen Buchs, mit dem Helga Schubert ihre Leser:innen gerade beschenkt hat, bleibt zu hoffen, dass die Wartezeit bis zum Erscheinen des nächsten nicht allzu lang sein wird.

Beitragbild von Jon Tyson

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