von Jasper Nicolaisen
Die Buchreihe „Fighting Fantasy“, in Deutschland als „Fantasy-Abenteuer-Spielbuch“ vermarktet, wird 2022 vierzig Jahre alt. In der BRD war sie in den achtziger Jahren maßgeblich mitbeteiligt an einer nicht erklärten, ungesteuerten, von Erwachsenen weitgehend übersehenen Revolution in den Kinderzimmern, die bis heute nachwirkt – in der Popkultur, auf dem Buchmarkt, in der Arbeit von Kulturschaffenden, die heute im mittleren Alter sind.
Wer zu jener Zeit in jenem Land Kind oder Jugendlicher war, musste sich Wege in die populäre Kultur und damit zur Selbstvergewisserung, was man in dieser komischen Welt denn sein sollte, an Orten und in Medien suchen, die heute in der Lebenswelt junger Menschen nur noch eine geringe Rolle spielen: Fernsehen, Buch- und Spielwarenläden, Bibliotheken. Diese Räume waren mehr als das Internet von Erwachsenen strukturiert und überwacht.
Was es dort an widerborstigen, von Kindern zu besetzenden Medien gab, musste diese Kontrolle passieren. Der Thienemann-Ausgabe von „Fighting Fantasy“ mit dem charakteristischen roten Buchrücken, den reißerischen Titeln und vor allem den krassen Titelbildern und den wunderbar skurrilen Illustrationen konnte niemandem entgehen, der sich irgendwie für fremde Welten, Abenteuer und etwas noch unbestimmtes Anderes interessierte, das die „guten Bücher“ in der Schule und unter dem Weihnachtsbaum nicht boten. Wie konnten diese Bücher überhaupt ungehindert in Büchereien und Buchhandlungen gelangen?
Der Drang nach diesem diffusen Anderen nahm in der BRD der frühen achtziger Jahre eine politisch reale Gestalt in den neuen sozialen Bewegungen an, in der Formierung der Grünen, in Protesten und Demonstrationen von bisher nicht gekanntem Maßstab. Auf dem Feld der Kultur hob die Esoterik ihr Haupt, Innerlichkeit und spirituelle Erkenntnis blühten, und es gab eine erste Fantasywelle, die Filme, Spielzeuge, Kassetten, aber auch die Bücher von Michael Ende und Wolfgang Holbein umfasste. Mit Punk und New Wave, die Plastik, Beton und Dreck verherrlichten, gab es zugleich einen Ort für alles, was von dieser neuen Richtung abgespalten war und sein wollte.
Der Erfolg der Kinderzimmerevolution wurde dadurch befördert, dass die Reihe „Fighting Fantasy“ einerseits an den große Trend zum Bunten und Fantasievollen andockte, also auch von Erwachsenen für Kinder und Jugendliche gekauft wurde, andererseits mit dem Element der Kommerzialisierung und Kommodifizierung von Fantasie und vor allem einem starken Element des Triebhaften – Gewalt, Aggression, Verteidigung des Rechts auf Gegenwelt und Abschottung, in verklausulierter Form auch Sexualität – genug Abgrenzungspotential gegenüber der Erwachsenenwelt für die Zielgruppe bot. Die Fantasymedien schwammen auf dem Zeitgeist, und waren doch ein Ort für das Dagegensein gegen das Dagegensein der Erwachsenen.
„Fighting Fantasy“ signalisierte dieses widerständige Element zunächst optisch. Anders als die andere große Marschkolonne der Kinderzimmerrevolution, das Pen-and-Paper-Rollenspiel „Das Schwarze Auge“, setzte die Reihe auf in-your-face Monsterbilder, Actionszenen, grelle Farben und durchaus auch auf pralle Körper in Lederrüstungen, eine Aufmachung, die zusammen mit Titel wie „Labyrinth des Todes“, „Sumpf der Skorpione“, „das Höllenhaus“ oder „Tempel des Schreckens“ einen Grad an Exploitation zur Schau stellte, wie man ihn bis dahin im Bereich der Jugendliteratur nicht gekannt hatte.
Zum Vergleich: „Das Schwarze Auge ging einen ganz anderen Weg. Es war eine Wutproduktion alteingesessener deutscher Platzhirsche, die in den Lizenzverhandlungen über den kinderkulturellen Molotow-Cocktail dieser Zeit – die „Red Box“ von „Dungeons and Dragons“ – gescheitert waren. Mit dem in wenigen Wochen zusammengeschusterten Produkt wollten sie der Konkurrenz aus Amerika zeigen, wer Herr über deutsche Kinderzimmer war.
Dass das gelang, lag neben dem massiven Druck, den Schmidt und Droemer-Knaur auf den Handel ausübten, an der Erfahrung und dem Einfallsreichtum der eilig beauftragten Spieldesigner und eben auch an der Gestaltung, die aus den Spieleregalen der Kleinstädte genau so krass hervorstach, wie „Fighting Fantasy“ aus den Drehständern der Kinderbüchereien. Vor allem der türkische Künstler Uğurcan Yüce prägte das Spiel mit Ölgemälden, die im Nebeneinander von schnauzbärtigen Helden, bezopften Amazonen in Lederbikinis und bergglühenden Romantiklandschaften viel Karl-May-Feeling auf die Fantasy-Action propften, eine Anmutung, für die sich in der Rollenspielszene der Begriff „Hotzenplotzigkeit“ eingebürgert hat.
Dieses Antäuschen ins Biedere zwecks Elternsedierung ging „Fighting Fantasy“ vollkommen ab. Die beiden Erfinder, Steve Jackson und Ian Livingstone, hatten im heimischen England ebenfalls „Dungeons & Dragons“ in die Hände bekommen und dort das Prinzip des „Soloabenteuers“ kennen gelernt, also die Organisation eines Textes entlang von Entscheidungsbäumen, durch die Leser*innen, die im Text mittels „du“ als Protagonist*in angesprochen werden, Wege auswählen und andere verwerfen. Konkret war der Text in nummerierte Abschnitte gegliedert, an deren Ende Leser*innen jeweils aufgefordert wurden, den Fortgang der Geschichte zu beeinflussen, indem sie unter mehreren möglichen Handlungen wählten und den entsprechenden Abschnitt aufsuchten.
Jackson und Livingstone ergänzten dieses Prinzip nun, indem sie das „du“ des Protagonisten als Spielfigur ausstaffierten und dafür rudimentäre Rollenspielregeln mit abdruckten. Die Leser*innen wurden im Text regelmäßig aufgefordert, das „du“ gegen Monster und Fallen antreten zu lassen, indem sie diese Regeln anwendeten. Dabei war es möglich zu sterben, was eigentlich bedeutet hätte, das Buch von vorne anfangen zu müssen, bis der richtige Pfad durch den Ereignisbaum (oder einer von mehreren möglichen) gefunden und regelkonform bestanden war. Natürlich lag ein Reiz der Bücher auch darin, dass der Regelverstoß ständig lockte, denn die Leser*innen waren ja allein und unbewacht mit dem Buch beschäftigt.
Optisch wie inhaltlich zeigten die beiden Briten eine Vorliebe fürs Skurrile, Drastische und Schwarzhumorige, wie es der heimischen Fantasytradition von Mervyn Peake über Michael Moorcock bis hin zu Susanna Clarke entsprach und entspricht. Nicht zuletzt die vielen unverhofften und stets an der Grenze des Sadistischen ausgeführten Tode des „du“, aber auch eine endlose Reihe von absurden Fallen, seltsamen Kreaturen und eigenwilligen Antagonist*innen verliehen „Fighting Fantasy“ ein Gepränge, das an Terry Gilliam und die Fantasyverfilmungen der BBC denken lässt.
Es muss diese Mischung aus krasser, aber „wenigstens nicht so amimäßiger“ Optik und der Vermarktung als Spiel gewesen sein, das den Eintritt in die Welt der guten Bücher in Deutschland möglich machte. Immerhin lesen die Kinder, wird man sich gesagt haben, und die Sache mit dem Würfeln und Entscheiden und ins Buch reinkritzeln, das ist kreativ, das ist aktiv, da lassen sie sich nicht nur berieseln.
Im deutschen Kontext liefen diese Bücher im Sprechen über das kulturelle Feld zunächst fast unter dem Radar und wurden in ihrer Bedeutung nur in kindlichen und jugendlichen Räumen erkannt. Die großen Diskussionen um „Gewaltlosigkeit“ unter Erwachsenen jener Tage drehten sich um Fernsehsendungen und den schädlichen Einfluss von Spielzeugwaffen und Masters-of-the-Universe-Figuren auf kindliche Gemüter. Die eigentlich sehr viel heftigeren, subversiveren „Fighting Fantasy“-Bücher schummelten sich als Kassiber unter der elterlichen Aufsicht in Kinderhände. Immerhin waren es Bücher aus der Bücherei, also sicherlich kontrolliert und abgesegnet, und was genau da drin stand, damit befassten sich Eltern nicht, weil ihnen das Durchspielen zu umständlich und zu kindisch war.
Diese Kassiberfunktion von „Fighting Fantasy“ zeigt sich deutlich, wenn man heute mit Menschen spricht, die in den achtziger Jahren für Heavy-Metal und Horrorfilme zu jung, für Computerspiele zu wenig mit technikaffinen Eltern gesegnet und trotzdem irgendwie mit der Vorstellung groß geworden waren, dass „Anderssein“ etwas Gutes sein sollte. Es war die bürgerliche Mittelklasse, die so tat, als gelte ihr Bildung mehr als Reichtum, Individualität mehr als Erfolg, um sich von den ganz Armen und obszön Reichen abzugrenzen, deren Kinder über „Fighting Fantasy“ erstmals mit Residuen der Gegenkultur, des Grotesken und positiv besetzten Triebhaften in Berührung kommen konnten.
Aus diesem Milieu stammen in vielen Fällen Menschen, die heute Autor*innen, Illustrator*innen, Verlagsleute, Spieldesigner*innen, Programmierer*innen und dergleichen geworden sind. Hier ist „Fighting Fantasy“ noch immer ein Begriff und wird nostalgisch erwärmt genannt, wenn es um den „Einstieg“ in Nerdwelten, ins Spielen, in Computerzeugs und Underground geht.
Das Erbe von „Fighting Fantasy“ hat so indirekt zu einigen kulturellen Phänomenen der Gegenwart beigetragen. Es ist ein frühes Beispiel der grell sichtbaren Reihenbildung im Jugendbuchbereich. Inhalte und Gestaltungselemente, die bis dahin jungen Erwachsenen vorbehalten waren, glitten hier ein bis zwei Altersstufen tiefer. „Fighting Fantasy“ steht auch am Beginn einer tendenziellen Angleichung kindlicher und erwachsener Medienwelten, was Ausstattung und Vermarktung betrifft.
Das relativ ungenierte Einbringen gewaltvoller, drastischer und schwarzhumoriger Elemente trug dazu bei, die Maßstäbe dessen zu verschieben, was man für Kinder und Jugendliche angemessen und auch zumutbar findet. Überhaupt sehen wir mit dem Trend zum „All-Age“-Roman der letzten Jahre und Filmprodukten, wie etwa von Pixar, eine Verwischung der Zielgruppen, bei der oft gar nicht mehr klar ist, welche Altersgruppe adressiert ist und Kulturprodukte beständig auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen arbeiten. „Fighting Fantasy“ hat diesen Trend nicht verursacht, aber ihm in Deutschland mit den Weg geebnet.
Während „Das schwarze Auge“ ganz unmittelbar Autor*innen ausgebildet hat, die heute Fantasy-Bestseller schreiben, ist die direkt sichtbare Kulturproduktion der „Fighting Fantasy“-Leser*innen weitgehend ausgeblieben. Sehr prominent findet sich in Saša Stanišić´ Herkunft ein nach dem Vorbild der „Fighting Fantasy“ gestaltete Textsequenz. Ansonsten dürfte der Einfluss eher auf der Ebene der Entscheider*innen und der Marktgestalt zu finden seien.
Etwas erstaunlich bleibt, dass „Fighting Fantasy“ von den allgegenwärtigen Retro- und Nostalgiewellen gerade in Bezug auf die achtziger Jahre nicht erfasst wird. Zwar erscheinen auf Englisch bis heute neue Titel, die Bücher können inzwischen als Handy-App gespielt werden, und nach einigen Brettspielumsetzungen in früheren Jahrzehnten gibt es mit Escape the Dark Castle eine gelungene zeitgenössische Umsetzung für das Gruppenspiel.
Aber die ganz große Wiederbelebung mit Neuauflagen und schwärmerischen Artikeln in Magazinen für Berufsjugendliche wie Zeit und Süddeutsche bleibt aus. Vielleicht ist das Interaktionserlebnis, das mit den Büchern möglich war, heute zu sehr von Computerspielen besetzt. Um zu begreifen, ob sich auf diesem Feld ähnliche Kassiber tummeln, die unsere Kinder so schön verderben wie in den Achtzigern „Fighting Fantasy“, bin ich, der ich dies schreibe, und du, der es liest, zu alt, und dieser Text kennt keine Abschnitte, an die wir noch springen könnten, um uns zu retten.
Foto von Jr Korpa