Kein Aushängeschild von Leitkultur – Was Lyrik nicht kann und nicht soll

von Irina Bondas

 

Liebe Leserinnen und Leser: die Lyrik wird uns nicht retten.

Und ich meine das jetzt nicht persönlich. „Wann wenn nicht jetzt müssen wir unsere demokratischen Werte und die Kunstfreiheit verteidigen“, höre ich die letzten zehn Jahre und gefühlt schon immer auf Festivaleröffnungen und Diskussionsveranstaltungen, als bräuchte der Kulturbetrieb eine Daseinsberechtigung. Natürlich glaube ich auch, dass wir für  Demokratie und Freiheit unbedingt kämpfen müssen, aber bestimmt nicht, weil ich Lyrik lese, sondern weil ich es als zivilgesellschaftliche Verantwortung sehe und der Meinung bin, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, wie furchtbar das auch ist.

Die Kultur ist kein Pfandbrief der Zivilisation. Studien weisen keine Korrelation zwischen Analphabetismus und Wahlverhalten auf. Die Fähigkeit, Literatur zu lesen, reduziert nicht nachweislich das Risiko, rechts zu werden. Woher die Grundannahme, dass wir mit einem Bildungskanon auch Werte teilen? Dass Kunstfreiheit und Menschenwürde Hand in Hand gehen? Der Bildungsauftrag ist kein Glaubenssatz und Lyrik kein Aushängeschild von Leitkultur. Eine Person mit rechter Gesinnung kann vegan leben oder gerne Klassik hören, höflich und liebevoll sein, tierlieb, schwul und/oder gläubig, warum also keine ausgewiesene Lyrikkenner*in? Es gibt vielleicht “gute” Lyrik, aber keine “richtige”. Denn gerade die Erwartung, dass Menschen mit bestimmten Vorstellungen über die Gesellschaftsorganisation auch im individuellen ästhetischen Ausdruck bestimmte und bestimmbare Merkmale zu eigen sind, ist totalitaristisch.

Lyrik kann zum Leitmotiv gesellschaftlicher Prozesse werden, aber sie ist kein Instrument politischer Teilhabe. Der Vers hat uns noch nie befreit, die Rote Armee schon. Das macht Trotzki nicht zu einem besseren Literaten, einen, der tötet, nicht weniger zum Mörder, den Kommunismus nicht gerecht. Ganz zu schweigen davon, wie viele Diktatoren Künstler waren. Und wenn schon gescheiterte. Wer weiß, wie viele Künstler gescheiterte Diktatoren sind.

Deutschlands erfolgreichste HipHop-Künstler, wie Kollegah und dutzende andere, glauben an Kreationismus und verbreiten Verschwörungstheorien, was sich auch in der Corona-Pandemie wieder einmal gezeigt, wenn nicht gar verstärkt hat. Dabei können sie nicht unbedingt gut rappen. Aber das liegt nicht an ihren Überzeugungen. Und ihre Überzeugungen nicht an ihrem Bildungsgrad. Natürlich dient Provokation auch der Selbstinszenierung für bessere Vermarktung, aber das Publikum will es für bare Münze nehmen. Den Hunderttausenden, die sie feiern, fehlt es nicht an Zugang zu Alternativen. Und es fehlt ihnen auch nicht an Mündigkeit. Das ist eine bewusste Entscheidung. Wie jede bewusste Entscheidung für eine Form des Ausdrucks, der Kunst, der Aussage. Und wer sagt, dass es bei Lyrik ganz anders sei, muss mir erst einmal erklären, warum. Zumindest kommen wir bei Hip-Hop auf soziologisch repräsentative Zahlen.

Für die Verfasstheit der Gesellschaft gibt es das Grundgesetz, und nicht George oder Grass. „Das menschliche Gefühl ist kein Geburtsort der Gerechtigkeit”, schreibt Juli Zeh. Die Literatur ist es auch nicht. Lyrik muss nicht sagen, was gesagt werden muss. Und wenn sie es tut, muss keiner zuhören. Vielleicht brauchen Nationen eigene Dichter, aber Dichter brauchen keine Nationen. Nationaldichter sind keine Leistungsindikatoren, sie führen keine Stellvertreterkriege. Selbst wenn es ein Joseph Brodsky ist, der in seinem Gedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine Alexander Puschkin gegen Taras Schewtschenko ausspielt, ist es weder politisch noch poetologisch ernst zu nehmen. Es braucht auch keine posthume Konfrontation zwischen Walter Benjamin und Ezra Pound, wie sie der Architekt Hans Kollhoff auf dem Walter-Benjamin-Platz mit einem Zitat aus Cantos über das „zinstreibende Wuchertum” beabsichtigte. Und Ezra Pound wird auch nicht weniger zum Antisemit, wenn er kurz vor seinem Tod in einem Gespräch den Judenhass als „schwersten Fehler” seines Lebens bezeichnete. Vielleicht ist der Anteil an Künstlern mit NS-Affiliation relativ gering, zumindest soweit wir es bis heute wissen. Aber Überzeugungen lassen sich nicht anhand von NSDAP-Parteikarten bestimmen. Es muss nicht als Missverständnis gerechtfertigt werden, wenn Dichter Krieg, Gewalt oder totalitäre Systeme befürworten. Gottfried Benn wird an seine Kulturpolitik im „neuen Staat“ genauso geglaubt haben wie an den Hippokratischen Eid. Und der Antifaschist Bertolt Brecht wird von den stalinistischen Säuberungen genauso gewusst haben wie von den KZs.

Die Wechselwirkung von Hochzivilisation und Unmenschlichkeit war ein zentraler Topos in George Steiners Werk, unter anderem auch der Gedanke, ob der Konsum von Kultur die Manifestation von Grausamkeit nicht auch begünstigen könne, anstatt ihr vorzubeugen. In der Nazizeit finden sich zahlreiche Beispiele für die Vereinbarkeit, die Frage nach dem Verhältnis bleibt bis heute offen. In seinem Essay Der Dichter und das Schweigen steckt Steiner das Schweigen, das Ungeschriebene ab und weist auf das gefährliche, hybride Potential des dichterischen Sprechens hin, zu dem unter barbarischen Bedingungen nur das Verstummen eine Alternative ist. Wer schweigt, wird schuldig. Wer spricht, auch.

Die Absichten zum Preis anderer Gedanken und Leben lassen sich nie ganz eindeutig bestimmen und bewerten. Bei Fragen nach Bewusstheit, Motiven und Reue steht immer der Beschuldigte im Zentrum, aber sie ändern nichts an dem verursachten Schaden, am Verbrechen selbst. Bis heute lässt sich aus der Geschichte keine Hierarchie der Handlungslegitimierung ableiten. Selbst, wenn es eine Banalität des Bösen gibt, ist das Böse nicht banal, sondern genauso vielfältig wie jede Gesellschaft, und vielleicht hatte Hannah Arendt persönliche Gründe, sich dahingehend irren zu wollen. Die Suche nach Gründen geschieht unweigerlich immer auch aus der Täterperspektive. Doch das alles hat nichts mit Lyrik zu tun. Lyrik kann eine Perspektive einnehmen, aber eine Perspektive nicht die Lyrik. Keine Bedeutung spricht für eine andere, Lyrik ist nicht statisch, Worte löschen sich nicht gegenseitig aus, ein Gedicht kann die Kraft eines anderen nicht aufheben.

Repressive Regime deformieren das Individuum, sie unterdrücken und vernichten Autoren und Publikum, deswegen der kulturelle Niedergang. Nicht, weil regimetreue Künstler minderwertig sind. Im Umkehrschluss machen Verfolgte nicht unbedingt gute Kunst und sind auch nicht zwangsläufig Menschenrechts-Apologeten oder Widerstandskämpfer. Urheber bedeutender Lyrik sind vielleicht Orakel, aber keine philanthropischen Visionäre, sie werden den Vakuumzerfall nicht vorhersehen geschweige denn aufhalten können – und ihre Leser*innen auch nicht. Von Lyrik sind keine konkreten Handlungsvorschläge zur Radikalisierungsprävention zu erwarten, genauso wenig wie von meinem Wasserkocher Währungsprognosen, obwohl er Ziffern anzeigt. Es gibt Zufälle, aber keine Zusammenhänge.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden diskursiven Radikalisierung stellt sich die Frage nach grundsätzlichen Positionierungen zu Texten mit Positionen. Dass das Feld offen rechtsgesinnter Lyriker*innen heute relativ überschaubar ist, kann als glücklicher Umstand gesehen werden, aber bei weitem nicht als Selbstverständlichkeit. Müssen wir dann rechte Lyrik lesen? Nein, müssen wir nicht. Erst recht, wenn sie zentrale Fragen, die unsere unmittelbare Existenz betreffen, ein-deutig vorschreibt. Wenn sie in Sein und Nichtsein unterteilt. Wenn der Text keinen Widerstand aufweist, keine Reibungsfläche bietet zwischen Subjekt und Außenwelt, ist es Propaganda. Das lässt sich über jede Form radikalisierter ästhetischer Sprache sagen. Oder mit Monika Rincks MERKSATZ: „Wenn es runtergeht wie Butter, ist es vermutlich Propaganda.”

In seiner Erforschung totalitärer Sprache grenzt Michał Głowiński zwar das ästhetische Schreiben vom agitatorischen ab, doch zeigen sich auch immer wieder Überschneidungen, wie in den unheilvollen Protokollen der Weisen von Zion, einer Fälschung, die literarischen Vorbildern nachgeschrieben wurde und bis heute im kollektiven Bewusstsein Wirkung zeigt. Bemerkenswert sind bei seiner Analyse unter anderem die Merkmale der Spektrum übergreifenden Generalisierung und des Universalitätsanspruchs, der dichotomischen Spaltung und konspirativen Wahrnehmung der Welt. Aber das dichterische Wort wird nicht bedeutsamer dadurch, dass es auf der richtigen Seite steht, höchstens lauter.

Lyrik kann ein Grundbedürfnis sein, aber sie macht uns nicht zu besseren Menschen. Das müssen wir schon irgendwie anders hinkriegen. Menschlichkeit bedeutet auch Ambivalenz und Komplexität aushalten. Lyrik macht es nicht einfacher, aber erträglich. Sie bietet Raum für Fehler und Funktionsstörungen. Lyrik ist nicht binär. Gedichte sind keine Globuli. Wer heilt, hat noch lange nicht Recht.

Ich spreche von den zwischenformen der mitteilung
den zwischenstadien des gedankens
spreche von den zwischenkulturen des gefühls
Warum sollte das nicht die einzige Welt sein

heißt es in Inger Christensens in det/das in Übersetzung von Hanns Grössel. Selbst wenn es weh tut: Wenn wir von Vorannahmen ausgehen, anstatt Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, nach Ver-Antwortung zu suchen, ist der Kampf schon verloren. Wir müssen in unserer Sprache Platz machen für das persönliche Irren. Wann, wenn nicht jetzt.

 

Eine frühere Fassung des Textes war ursprünglich Bestandteil eines Pecha Kuchas im Rahmen der Lyrikkritikakademie von lyrikkritik.de und dem Haus für Poesie. Das Pecha Kucha findet man auf der Seite lyrikkritik.de.

Für die schriftliche Publikation auf 54books wurde der Text erweitert und redaktionell bearbeitet.

 

Photo by Evelyn Clement on Unsplash

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