Als Präsident Donald J. Trump ankündigte, am 19. Juni eine Wahlkampfveranstaltung in Tulsa, Oklahoma abhalten zu wollen, gab es Aufregung aus einer Vielzahl an Gründen. Der 19. Juni ist Juneteenth, ein Feiertag, an dem das Ende der Sklaverei gefeiert wird (das Wort ist zusammengesetzt aus June und Nineteenth). Ärger gab es aber auch aus einem anderen Grund: Tulsa, Oklahoma ist der Ort eines Massakers, das 1921 an der Schwarzen Bevölkerung begangen wurde. Ziel war besonders der Greenwood Bezirk von Tulsa, der auch unter den Begriff Black Wall Street bekannt war – ein Mob von weißen Bürgern, mit Waffen und Privatflugzeugen legte den wohlhabenden und aufstrebenden Stadtteil in Schutt und Asche. Über 800 Schwarze Amerikaner mussten ins Krankenhaus, und der rassistische Mob hatte am Ende mindestens 36 Menschen, wobei manche Schätzungen von bis zu 300 ausgehen, ermordet.
Das Massaker von Tulsa hatte am 31. Mai 1921 begonnen und endete am Tag darauf mit dem Einmarsch der National Guard. Genau 99 Jahre später, am 31. Mai diesen Jahres, erreichten auch die Proteste in den USA, die mit der Empörung über den Tod von George Floyd begonnen hatten, einen vorläufigen Höhepunkt. Alle Lichter im Weißen Haus wurden abgeschaltet und der Präsident flüchtete in (s)einen Bunker. Das oft fälschlicherweise Mark Twain zugeschriebene Wort von der Geschichte, die sich nicht wiederholt, aber reimt, trifft auch auf dieses Echo zu. Waren am 1. Juni 1921 Berichten zufolge auch Polizisten unter den Brandstiftern, so kann man heute sagen, wie es Jamelle Bouie in einer NYTimes Kolumne tat: „the police are rioting“. Und schon damals wurde die Polizei nicht zur Rechenschaft gezogen.
Überhaupt, schreibt Isabel Wilkerson in ihrem Buch über die Great Migration, seien riots in der Amerikanischen Geschichte meist von wütenden Weißen ausgegangen. Besonders im Norden seien die Ausschreitungen gegen Schwarze Mitbürger das Äquivalent zu den Lynchmorden im Süden: „each a display of uncontained rage by put-upon people directed toward the scapegoats of their condition.“ Es gibt kaum eine große Stadt, die im 20. Jahrhundert nicht mindestens einen Fall einer solchen Ausschreitung von Weißen gegen ihre Schwarzen Mitbürger erlebt hat.
Die Verschränkung der aktuellen Vorwürfe gegen ein strukturell rassistisches Polizeisystem in den USA und des geschichtlichen Hintergrunds des Massakers in Tulsa finden sich in der Fernsehserie Watchmen wieder, die bereits im letzten Jahr erschien, aber in diesen Tagen von HBO aus aktuellem Anlass kostenlos zum Streamen bereit gestellt wird. Watchmen ist eine Verfilmung des gleichnamigen Comics – oder besser, eine Fortsetzung des Stoffs. Bereits 2009 brachte Zach Snyder eine Filmversion in die Kinos, in der der politische Hintergrund ausgedünnt, und die Gewalt des Buchs ästhetisch überhöht wurde. Die Fernsehserie schließt an den Comic – nicht an den Film an, erkennbar an den unterschiedlichen Enden. Damon Lindelof, der bereits verantwortlich für die Erfolgsserien Lost und The Leftovers war, hielt sich in vielen Elementen an die Vorlage, darunter auch den etwas skurrilen Humor und die surrealen Details, mit denen Alan Moore und sein Zeichner David Gibbons ihre Leser überwältigten. Der Comic endet damit, dass die Figur Adrian Veidt, einer der Watchmen, einen gigantischen Tintenfisch auf New York fallen lässt, um eine transdimensionale Bedrohung vorzutäuschen. Den dabei entstehenden Tod von Millionen nimmt Veidt, der auch den Superheldennamen Ozymandias verwendet, in Kauf, um das größere Übel, einen Atomkrieg zwischen der Sowjetunion und den USA, abzuwenden.
Der Comic spielte im Jahr 1985. Die Serie verlegt ihre Handlung ins Jahr 2019, in einer Welt, in der regelmäßig immer noch kleinere transdimensionale Tintenfische auf die Erde regnen, Ozymandias als tot gilt, und Dr. Manhattan, eine Art Superman, sich auf den Mars zurückgezogen hat. Handlungsort ist Tulsa, Oklahoma, und Hauptfigur ist eine Schwarze Polizistin, die mit Maske und Kostüm auf Verbrecherjagd geht. Maske und Kostüm? Ja – denn in Tulsa, Oklahoma muss die Polizei generell Masken tragen. Wenige Jahre, bevor die Handlung einsetzt, in der sogenannten White Night, versuchte eine Gruppe organisierter Rassisten, die sich 7th Cavalry nennen, alle Polizisten der Stadt und ihre Familien zu ermorden.
Diese Mordtat ist das Resultat von Jahren rassistischer Frustration. Denn im Paralleluniversum von Watchmen ist nicht nur das Massaker von Tulsa öffentlich anerkannt und aufgearbeitet, sondern man hat auch Konsequenzen daraus gezogen. Alle noch lebenden Schwarzen Angehörigen der Opfer des Massakers haben ein Anrecht auf Reparationen – wobei es sich hier nicht um systematische, wie z.B. von Ta-nehisi Coates in „The Case for Reparations“ geforderte, Reparationen handelt. Ob man ein Anrecht hat, wird mittels eines Gentests ermittelt. Diese scheinbare Bevorzugung weckt rassistische Ressentiments – wobei im Laufe der Serie deutlich wird, dass es sich hier nicht (nur) um Ressentiments wirtschaftlich benachteiligter Weißer handelt. In Wirklichkeit ziehen hinter der 7th Cavalry alteingesessene Politiker- und Polizeifamilien die Fäden, und hinter der Organisation verbirgt sich eine viel ältere rassistische Verschwörung, die auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Eine Konsequenz aus der White Night ist, dass die meisten Polizisten ihre Identität verbergen, indem sie bei der täglichen Arbeit Masken tragen.
Es gibt in der Serie im Grunde drei Handlungsstränge: ein skurriler, in dem es um Ozymandias geht, der zu Beginn der Handlung auf einem Jupitermond lebt, einer, in dem es um Dr. Manhattan und seine Superkräfte geht, und die am nächsten an den Themen des Comics bleibt, nämlich die Frage nach absoluter Macht und denjenigen, die nach ihr streben. Und schließlich geht es um die Protagonistin, Angela Abar, die als Sister Night maskiert Polizeiarbeit betreibt.
Wir sehen gleich in der ersten Folge, wie ein Rassist der 7th Cavalry einen Schwarzen Polizisten bei einem Routinestop erschießt. Daraufhin wendet die Polizei und besonders Abar, diejenigen Taktiken gegen Verdächtige an, die Sandra Beck in ihrem Essay über Police Procedurals beschrieben hat: In diesen Serien und Büchern kann „ein erfolgreicher Abschluss von Ermittlungen und ein juristischer Schuldspruch durch den Bruch verfassungsmäßig garantierter Rechte erreicht werden.“ Auch die Maskierung der Polizisten in Watchmen scheint auf den ersten Blick einen Widerhall im Bemühen der Polizei in unserer Gegenwart zu finden, ihre Identität zu verbergen. Ob es, wie zum Beispiel im Mord an Elijah McClain, die Bodycams sind, die alle gleichzeitig „abgefallen“ seien, oder ob die Dienstnummern auf der Dienstmarke abdeckt werden, oder ein Fehlen von jeglichen Markierungen und Abzeichen die Zuordnung völlig verunmöglicht – die absichtliche Intransparenz hat selten gute Vorzeichen. Es gibt zwar im in der Serie vorliegenden Fall sogenannte gute Gründe, aber der Selbstschutz der Polizei wird auch z.B. in Klagen gegen die Kennzeichnungspflicht in Deutschland angeführt, ganz ohne, dass es dafür ähnlich handfeste Gründe gäbe.
Bei genauerer Betrachtung der Serie fällt allerdings auf, dass es überhaupt nicht um Polizeiarbeit im eigentlichen Sinne geht. Im Lauf der Handlung erfahren wir, dass die 7th Cavalry nicht, wie gedacht, eine lose organisierte Gruppe armer Weißer ist, sondern vielmehr die moderne Inkarnation einer viel älteren rassistischen Verschwörung namens Cyclops, die sich weitgehend aus den Reihen der Polizei rekrutiert, und auch im Tulsa der Gegenwart stellt sich der police chief als eine führende Figur in der 7th Cavalry/Cyclops heraus. Bis auf den Routinestop in der ersten Folge der Serie sehen wir keine*n Polizist*in bei normaler Polizeiarbeit. Der Fokus liegt ausschließlich auf der Konfrontation mit der 7th Cavalry. Da es sich bei denen allerdings auch, im weitesten Sinne, um Polizist*innen handelt (wobei auch Politiker und Geschäftsleute zu den Unterstützern gehören), kann man diese Konfrontation als eine zwischen zwei Lagern in der Polizei lesen.
Die Serie unterstützt diese Lesart, indem sie parallel die Geschichte von Abars Großvater erzählt: Will Reeves ist ein Überlebender des Tulsa Massakers und mit seiner Verkleidung als Hooded Justice der erste maskierte Vigilante, der überhaupt erst die Watchmen inspirierte. Gleichzeitig ist er ein Polizist. Gleich bei seiner Vereidigung warnt ihn ein älterer Schwarzer Polizist vor der Verschwörung: „beware of the Cyclops!“ raunt er ihm zu. Schnell merkt Reeves, dass nicht alle Verbrechen gleich verfolgt werden, und dass er als Schwarzer Polizist besonders vorsichtig sein muss.
Das ist nichts, was sich die Serie ausgedacht hat – es wurde oft erforscht, wie tief verwurzelt der Rassismus in der Polizei zu Beginn des 20. Jahrhunderts war – und bis heute ist. In The Condemnation of Blackness weist der Historiker Khalil Muhammad nach, dass es, nach dem Scheitern aller Versuche, klassische Rassentheorien auf eine solide wissenschaftliche Grundlage zu stellen, Soziologen und Kriminologen waren, die in einflussreichen Studien eine neue Grundlage für den Rassismus gegen Schwarze Amerikaner schufen: der Mythos des besonders kriminellen Schwarzen. Das führte zu einer Polizei, die speziell auf die Verbrechen Schwarzer Mitmenschen achtete, dabei aber besonders Schwarze Viertel missachtete; in The Color of Law stellt Richard Rothstein zudem fest, wie die Polizei aktiv dabei mithalf, Segregation einzuführen und durchzusetzen, zum Beispiel durch willkürliche Verhaftungen all jener Schwarzer, die nicht nachweisen konnten, einem Beruf nachzugehen (18).
Das weiß Reeves alles nicht, als er sich dazu entschließt, ausgerechnet unter dem Eindruck des Tulsa Massakers, Polizist zu werden. Maßgeblich für diese Entscheidung ist ein (fiktionaler) Film namens Trust In The Law, in dem ein US Marshall namens Bass Reeves (den es wirklich gab) Verbrecher zur Strecke bringt. Der junge Will Reeves sitzt in einer Vorstellung des Films, als am Nachmittag des 31. Mais der Aufruhr auf den Strassen von Tulsa beginnt. Kaum bei der Polizei, lernt er schnell, dass er als Hooded Justice effektiver sein kann und vereitelt schließlich einen Versuch von Cyclops, einen Aufstand anzuzetteln. Obwohl er immer geglaubt habe, es sei Wut gewesen, die ihn unter der Maske angetrieben habe, war es in Wirklichkeit Angst, erklärt Will Reeves in der letzten Folge der Serie. Das ist ein Element, das neu in den Stoff eingeführt wird – ebenso wie die Tatsache, dass Hooded Justice (der auch im Comic vorkommt) Schwarz ist. Diese beiden Elemente sind miteinander verbunden. Die Angst vor rassistischen Übergriffen, die für den jungen Will Reeves in einem undefinierbaren Mob zum Ausdruck kommt, und für den erwachsenen Will in Form der Polizei selbst, wird zum bestimmenden Element der Serie.
Damit schließt sich die Serie an einen Diskurs an, der besonders in Texten der 1980er Jahre dominant war: Filme wie Running Man, Blade Runner, Escape from New York sind laut Mike Davis inspiriert von der Repression durch die LAPD und die architektonischen Reflektionen dieser Repression (City of Quartz 223). Dystopien also als Antwort auf Angst vor der Polizei der Gegenwart, die wahrgenommen wurde als „redneck army of occupation“ (Davis 271). Im Watchmen Comic wird diese Stimmung aufgenommen, aber Moore verweigert sich einer Diskussion über Rassismus; im Gegenteil nahm Moore einen Mangel an Angst wahr, den er bekämpfen wollte. Die Fernsehserie verschiebt die dargestellte Realität näher an die tatsächlich gelebten Realitäten und Ängste der 1980er Jahre.
Auch Angela Abar maskiert sich schließlich aus Angst vor rassistischen Übergriffen, und begreift, wie ihr Großvater, nur langsam, dass der Konflikt nicht zwischen Polizei und rassistischen Terroristen verläuft, sondern mitten durch die Polizei selbst hindurch geht. Die zentrale Frage, die im Comic gestellt wird („who watches the Watchmen“), ist da Teil eines Diskurses über die Kontrollierbarkeit von Superhelden, ein Thema, das auch eine andere im letzten Jahr erschienene Comicverfilmung zum Thema hat, das von Amazon produzierte The Boys, nach dem Comic von Garth Ennis. Bei Ennis – und bei Moore – ist die geforderte Kontrolle eine Kritik an “korrupten” Eliten, in der die Polizei gar nicht mitgemeint ist. Im Gegenteil, wie in faschistischen Texten wie Frank Millers The Dark Knight Returns deutlich wird, ist der Impetus sogar einer, der der in den aktuellen Protesten geäußerten Kritik entgegenlaufen würde.
In der Watchman Serie schwingt die von Juvenal abgeleitete Frage aber eher im Hintergrund mit. Nur sind die Watchmen, die beobachtet werden müssen, am Ende vielleicht die Polizei. Diese gefühlte Inversion der Konstellation wird dadurch unterstützt, dass der Protagonist und Detektiv des Comics, ein Antiheld namens Rorschach, der beim Versuch des Aufdeckens der Machenschaften der Eliten umkommt, zum Vorbild und Helden der rassistischen 7th Cavalry Bewegung wird. Aber die Serie verweigert sich einer einfachen Antwort auf die Fragen, die sie aufwirft, und die Fragen, die im Moment auf den Strassen gestellt werden. Dazu gehört auch das Ende: der Konflikt innerhalb der Polizei wird am Ende der Serie nicht aufgelöst. Es werden zwar die Köpfe von Cyclops theatralisch hingerichtet, aber die rank-and-file Mitglieder werden nicht belangt. Bis zum Ende weiß weder der Zuschauer, noch Abar selbst, wer unter ihren Kollegen zu Cyclops gehört hat und wer nicht.
Mit diesem offenenen Ende und der offenen Frage ist die Serie anschlussfähig an die Debatte unserer Zeit, die in den USA im hashtag #defundthepolice kulminiert, und in polizeikritischen Texten wie Alex Vitale’s The End of Policing, oder in Aufsätzen wie Bennett Capers‘ „Afrofuturism, Critical Race Theory and Policing in the Year 2044“, eine theoretische Grundlage findet. Am Ende schließt die Serie den Bogen zu den Themen des Comics und stellt die Frage: Wenn es absolute Macht gibt, sollte, bzw. wer sollte sie besitzen? Und auch die Antwort darauf bleibt -wortwörtlich – in der Schwebe.
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