Kein Preis zu hoch? – Über Preise und was sie mit Krieg und Krisen zu tun haben

von Daniel Stähr

Wer sich häufig in sozialen Medien bewegt, kennt vielleicht das Gefühl, sich durch die unzähligen Posts zu wühlen und dabei auch über humoristisch gemeinte Aussagen zu stolpern – meist eine Mischung aus banalen Vergleichen und halblustigen Insider-Witzen. Manchmal aber steckt in dieser scheinbar lustigen Feststellung mehr Wahrheit und mehr Relevanz, als den Nutzer*innen bewusst und uns als Gesellschaft lieb ist. 

schade dass der Klimawandel den Spritpreis nicht erhöht, dann wäre das seit locker 20 Jahren kein Thema mehr

— E L H O T Z O (@elhotzo) April 12, 2022

Der User El Hotzo wirft hier nämlich implizit eine Frage auf, die uns viel mehr beschäftigen sollte: Wieso haben die Energiepreise in den vergangenen Jahrzehnten so wenig auf die sich immer weiter verschärfende Klimakatastrophe reagiert, sind im Zuge des Krieges in der Ukraine aber gefühlt über Nacht extrem gestiegen? Was treibt Preise? Und vielleicht noch wichtiger – was können uns Preise über die Welt in der wir leben sagen?

Price Wars, das erste Buch des britischen Dokumentarfilmers Rupert Russell, das in abgespeckter Version auch als Dokumentarfilm erschien, versucht diese und weitere Fragen zu beantworten. Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat das Buch einen Aktualitätsbezug erhalten, auf den alle Beteiligten wahrscheinlich gerne verzichtet hätten. Denn dieser Krieg dient auf beängstigende Weise dazu, die grundlegende These von Price Wars zu untermauern: Es sind Preise und ihre chaotische Natur, die unter anderem für Kriege, Hungersnöte, sowie den Aufstieg und Fall von Regimen verantwortlich sind. Vom arabischen Frühling, der durch gestiegene Lebensmittelpreise ausgelöst wurde, über die Hyperinflation in Venezuela und den Krieg in Syrien zeichnet Russell ein Bild davon, wie auf den Finanzmärkten gebildete Preise eine Spur der Verwüstung in der realen Welt hinterlassen. Ein entscheidendes Kapitel seines Buchs behandelt auch den Krieg in der Ostukraine, der seit 2014 anhält. Natürlich kann das Anfang des Jahres erschienene Buch nicht den aktuellen Krieg in der Ukraine thematisieren, aber es zeichnet eine Kausalkette, die darlegt, wie Russland und Putin auch durch den Anstieg von Rohstoffpreisen nach der Finanzkrise 2008 die notwendigen Ressourcen erhalten haben, um diesen Krieg im Jahr 2014 mit der Annexion der Krim zu beginnen.

Um zu verstehen, wie all diese globalen Ereignisse zusammenhängen und wie sie durch Aktionen auf den Finanzmärkten ausgelöst wurden, müssen wir uns am Anfang eine Frage stellen, auf die es auf den ersten Blick eine einfache Antwort zu geben scheint: Was sind Preise? Bereits vor dem Krieg in der Ukraine waren Preise im Zentrum des öffentlichen Diskurses in Deutschland, als die relativ hohe Inflation für Diskussionen sorgte. Preise bestimmen unser Leben, das gilt nicht nur für die Menge an Geld, das wir für bestimmte Produkte in unserem Alltag bezahlen müssen. Sie führen auch dazu, dass Unternehmen Produkte vermehrt oder gar nicht mehr produzieren. Sie verleiten uns dazu Dinge zu kaufen, die wir eigentlich nicht brauchen, einfach weil sie reduziert wurden. Oder sie führen dazu, dass wir Dinge, die wir dringend brauchen würden, nicht bekommen, weil wir sie nicht bezahlen können. 

Stellt man sich aber die Frage, was genau ein Preis ist – was er im Kern aussagt, dann wird es schwierig. Man könnte annehmen, dass Preise etwas über den Wert von Gegenständen, oder Dienstleistungen aussagen. Es erscheint erst einmal nicht unplausibel anzunehmen, dass etwas das teurer ist, auch einen höheren Wert hat. Denkt man aber ein zweites Mal über diese Perspektive auf Preise nach, kann man ins Stocken geraten. Am Diamanten-Wasser Paradox, auch Wertparadox genannt, lässt sich seit Jahrhunderten die Schwierigkeit des Wertbegriffs, sofern er durch Preise ausgedrückt werden soll, illustrieren.

Obwohl der Mensch Wasser zum Überleben zwingend braucht, kostet es nur ein Bruchteil von dem was Diamanten kosten. Der Unterschied liegt in verschiedenen Konzepten von Werten. Wasser hat zwar einen hohen Nutzwert, aber dadurch, dass es zumindest in weiten Teilen Europas (noch) relativ reichlich vorhanden ist, besitzt es einen geringen Tauschwert. Wie schnell sich das ändern kann, lässt sich in Teilen der Welt beobachten, wo Wasser nicht wie bei uns im Überfluss vorhanden ist. Preise sagen also mehr etwas über den Tauschwert von Dingen und Dienstleistungen aus als über deren tatsächlichen Nutzwert. Und so kam Laurence Laughlin schon vor weit mehr als hundert Jahren in seinem Aufsatz A Theory of Prices zu der Erkenntnis: One cannot think of a price except as a ration – Man kann Preise nur als Verhältnis verstehen.

Von Preisen und Märkten

Ermittelt wird dieses Verhältnis durch Angebot und Nachfrage. Dafür kann es hilfreich sein auf die Bedeutung von Märkten einzugehen. In einem volkswirtschaftlichen Sinne sind Märkte nichts anderes als Mechanismen zur Preisermittlung. Im einfachsten Sinne, wenn wir uns einen Wochenmarkt vorstellen, treffen die Nachfrage und das Angebot direkt und unmittelbar aufeinander. Auf so einem klassischen Markt stehen auf der einen Seite die Verkäufer*innen miteinander in Konkurrenz, eine Obsthändlerin sieht zum Beispiel sofort ob ihre Konkurrent*innen höhere oder niedrigere Preise für das gleiche Produkt verlangen und kann ihre Preise eventuell anpassen. Auf der anderen Seite können die Kund*innen direkt in Verhandlungen mit den Verkäufer*innen treten und ihre Preisvorstellungen austauschen. 

Im Prinzip funktionieren komplexere Märkte (wie die Finanzmärkte) nach dem gleichen Schema. Nur sind es dort Algorithmen, die im Hochfrequenzhandel im Bruchteil einer Sekunde Finanzprodukte kaufen oder verkaufen, um ihren Ertrag zu maximieren. In der Theorie sollte das dazu führen, dass sich Preise einstellen, die sich genau dem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage entsprechend entwickeln. Der Markt ist in diesem Sinne also keine eigene Entität, sondern nur ein Instrument, durch das Preise möglichst effizient festgelegt werden sollen. Wenn Preise auf diese Art und Weise korrekt gebildet werden, enthalten sie zahlreiche Informationen, die für das Funktionieren unserer modernen Marktwirtschaft essentiell sind. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass das Angebot eines Gutes gleich geblieben ist, genau wie die Kosten zu denen es produziert wird, aber der Preis steigt, können wir davon ausgehen, dass die Nachfrage gestiegen ist und mehr Menschen dieses konkrete Gut besitzen wollen.

Diese Theorie der effizienten Märkte und Preise (Effizienzmarkthypothese) wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Ökonomen wie Friedrich Hayek, Eugene Fama und Milton Friedman popularisiert. Nach ihnen sorgten vor allem die Finanzmärkte dafür, dass Preise gebildet werden, die alle verfügbaren Informationen enthalten und so am Ende für eine effiziente und optimale Verteilung von Gütern sorgen. Berühmt ist Friedmans „Bleistift Geschichte“. In einem Vortrag hält er einen Bleistift hoch und behauptet, dass nicht ein einzelner Mensch auf der Welt diesen hätte produzieren können. Der Radiergummi, die Miene, das Holz, alle Bestandteile kommen aus verschiedenen Teilen der Erde, produziert von Menschen, die nicht einmal dieselbe Sprache sprechen. Aber durch Preise wissen diese Menschen, wie viel von dem jeweiligen Bestandteil sie produzieren müssen und so entsteht am Ende ein effizient hergestellter Bleistift, den ich innerhalb weniger Augenblicke in einem Geschäft kaufen kann.

Diese Geschichte der effizienten Preise ist schön, elegant und falsch. Bereits am Ende des 20. Jahrhunderts wurden diese Annahmen stark kritisiert. Arbeiten wie die von George Akerlof, der am Beispiel des Marktes für Gebrauchtwagen zeigen konnte, dass Informationsasymmetrien zwischen Anbieter*innen und Nachfrager*innen Preise verzerren, als auch die Arbeiten des Psychologen Daniel Kahneman, der zeigte, dass Menschen systematisch Fehlern in der Wahrnehmung und Beurteilung ihrer Investments unterliegen, haben zusammen mit einer Reihe anderer theoretischer und empirischer Arbeiten starke Zweifel an der Richtigkeit der Effizienzmarkthypothese geäußert. Dennoch hält sich vor allem auf den großen Finanzplätzen der Welt die Ansicht, dass die Finanzmärkte im Großen und Ganzen schon zu effizienten Preisen und damit zu einer optimalen Verteilung der verfügbaren Ressourcen führen.

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Der Flügelschlag des Schmetterlings

Rupert Russell erklärt viele dieser Theorien kurz in seinem Buch (auch wenn es eigenartig erscheint, dass er bei der Kritik an Fama, Friedman und Co. nicht auf Akerlof oder Kahneman verweist). Und bietet so ein theoretisches Fundament für seine grundlegende These: Preise (genauer deren Schwankungen) verursachen Hungersnöte und Kriege und sind damit für viele der größten Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich. Dafür hat Russell viele der größten Krisenregionen unserer Gegenwart besucht – Syrien, Venezuela, die Ukraine oder auch Somalia. Parallel hat er Gespräch mit Wissenschaftler*innen und Akteur*innen der Finanzmärkte geführt und gibt deren Expertise wieder.

Ihren Anfang nimmt seine Reise beim sogenannten arabischen Frühling. Ende 2010 kam es in mehreren Ländern Nordafrikas und der arabischen Halbinsel zu Aufständen, die zum Sturz zahlreicher Regime geführt haben. Auslöser dieser Proteste war aber nicht direkt die Unzufriedenheit der Menschen mit den autoritären Regierungen, sondern die Preise für Lebensmittel. Es kam damals zu einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise, vor allem für Getreide und damit schlussendlich für Brot. Diese Bedrohung der Versorgungssicherheit brachte die Menschen auf die Straße. Selbst als die Regierungen vielerorts einlenkten und die Preise für Brot und andere Produkte deckelten, hörten die Proteste nicht auf. Der gestiegene Lebensmittelpreis war nur der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, und setzte Geschehnisse in Gang, die sich dann nicht mehr aufhalten ließen. 

In ihrem 2011 erschienen Papier The Food Crises and Political Instability in North Africa and the Middle East beschreiben die Soziolog*innen Marco Lagi, Karla Z. Bertrand und Yaneer Bar-Yam dieses Phänomen wie folgt: Bei 210 fangen Gesellschaften an zu kochen. 210 meint hier den Wert des Nahrungsmittelpreisindex der Vereinten Nationen (der seitdem reformiert wurde, weswegen der Wert heute abweicht). Sie konnten zeigen, dass bei diesem kritischen Schwellenwert die Wahrscheinlichkeit enorm steigt, dass es in Gesellschaften zu gewaltvollen Aufständen kommt. Tatsächlich nutzen viele internationale Organisationen Indizes für Nahrungsmittel als Frühwarnsystem für den Ausbruch von Unruhen und der Zunahme politischer Instabilität.

Die Frage, die sich hier stellt, ist – wieso stiegen die Preise für Lebensmittel 2010 so stark an? Lag es an globalen Ernteausfällen? Nein, denn die Nahrungsmittelproduktion 2010 übertraf alle anderen Jahre in der Geschichte der Menschheit. Es gab also die paradoxe Situation, in der Rekordernten auf Rekordpreise der geernteten Lebensmittel trafen. Wie konnte es also sein, dass trotz der enormen Produktion an Lebensmittel die Preise für eben diese stiegen? Für die Antwort müssen wir ein paar Jahre zurückgehen und finden dann den Ursprung des Problems dort, wo so viele der Probleme unserer Gegenwart liegen – in der Finanzkrise 2008. 

Nachdem das globale Finanzsystem infolge der Immobilienmarktkrise in den USA fast vollständig zusammengebrochen war, suchten Investor*innen der globalen Finanzmärkte nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Rohstoff- und Lebensmittel Indizes waren zu diesem Zeitpunkt recht stabil und versprachen eine sichere Rendite, also investierten Spekulant*innen in diese Indizes. Das Angebot blieb konstant, die Nachfrage stieg, also stiegen auch die Preise. Nur dass das in diesem Fall bedeutete, dass Menschen vor allem in afrikanischen Ländern sich plötzlich kein Brot mehr leisten konnten. Um diese Kausalketten zu veranschaulichen bemüht Russell immer wieder die Metapher des Flügelschlag des Schmetterlings. Geprägt wurde das Bild von dem Physiker Edward Lorenz, der in den 1960er Jahren zeigte, dass bei Nicht-Linearen System minimale Abweichungen vom Ausgangswert radikale Folgen für das Endergebnis haben konnten.

Die Absurdität des automatischen Tradings

Gefolgt vom arabischen Frühling stiegen global die Ölpreise. Auch hier stellt sich die Frage: Lag das daran, dass die Ölproduktion im Zuge der Auseinandersetzungen in einigen ölfördernden Staaten tatsächlich zurückging? Nein, die Ölproduktion war während dieser Zeit mehr oder weniger stabil. Was stattdessen geschah, war eine Veränderung in den Erwartungen über die zukünftige Ölfördermenge. Die Teilnehmenden der Märkte antizipierten einen Rückgang der Ölproduktion, da sie spekulierten, dass durch den erstarkenden sogenannten Islamischen Staat Ölfelder in Syrien und vor allem dem Irak nicht mehr für die westlichen Staaten zugänglich würden. Hier zeigt sich die ganze Absurdität und Gefahr des Algorithmus getriebenen Handels auf den Finanzmärkten. Um am Finanzmarkt erfolgreich zu sein, muss ich als einzelner Akteur möglichst schnell auf Veränderungen reagieren. Die Krux dabei ist aber, dass ich nicht die Zukunft richtig vorhersagen muss, um erfolgreich zu sein, sondern diejenigen belohnt werden, die die Reaktion der anderen Marktteilnehmer am besten antizipieren. John Maynard Keynes hat diese Struktur der Finanzmärkte schon in den 1930er Jahren unter seinem „Beauty Contest“ Modell beschrieben. Dabei wird der Gewinn unter denjenigen Personen ausgeschüttet, die aus einer Reihe Fotos von Frauen, dasjenige auswählen, dass auch von den meisten anderen Personen gewählt wurde. Es geht also nicht darum die tatsächlich vermeintlich schönste Frau zu identifizieren, sondern das Bild auszuwählen, von dem ich denke, dass es auch von den meisten anderen als schön angesehen wird.

So gibt es heute spezielle Programme, die darauf trainiert sind Nachrichten nach Schlagworten zu durchforsten und dementsprechend zu handeln. Wenn eines dieser Programme also sieht „Krieg in Syrien und im Irak“, dann schließt es daraus, dass die Ölproduktion zurückgeht, der Preis künftig steigen wird und beginnt Öl zu kaufen. Da natürlich nicht nur einzelne wenige Akteure der Finanzmärkte mit solchen Programmen arbeiten führt das dazu, dass das Angebot zwar nicht zurück geht, aber die Nachfrage steigt, was wiederum steigende Preise zur Folge hat – eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Ein Beispiel aus einem anderen Bereich verdeutlicht die grundlegenden Wirkungsmechanismen und die Absurdität des Systems auf beeindruckende Weise. Die börsennotierte Holdinggesellschaft des Multi-Milliardärs Warren Buffett heißt Berkshire Hathaway, eine Firma deren Aufgabe darin besteht die Kapitalbeteiligungen Buffetts an über 80 anderen Firmen zu verwalten. Jedes Mal, wenn ein Film der Schauspielerin Anne Hathaway Premiere feiert und ein großes Medienecho bekommt, steigt der Börsenwert von Berkshire Hathaway an. Die Algorithmen interpretieren die bloße Nennung des Namens Hathaway in Kombination mit positiven Nachrichten als einen zukünftigen Anstieg des Aktienkurses von Buffetts Holding und kaufen daraufhin vermehrt Aktien eben jenes Unternehmens. So trägt dieser Mechanismus, in dem er die Nachfrage nach Berkshire Aktien erhöht, selbst zum Preisanstieg eben jener Aktie bei. Exakt dieses Verhaltensmuster der menschengemachten Algorithmen, die dem automatischen Trading zu Grunde liegen, führte dazu, dass zwischen 2009 und 2014 die Rohölpreise auf dem Weltmarkt enorm anstiegen.

Russland und das Wohlgefallen der Preise

Das führt uns in die Gegenwart. Ein Kapitel widmet Russell der Annexion der Krim und dem Krieg, der in der Ostukraine seit 2014 tobt. Für ihn sind auch in diesem Fall Preise einer der Hauptgründe für die russische Aggression. Und es scheint in der Tat unwahrscheinlich, dass es sich um einen Zufall handelt, dass sowohl 2014, kurz vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, als auch 2022, vor dem russischen Angriffskrieg, die Preise für Rohöl stark gestiegen sind. Sicherlich ist das nicht der einzige Grund, aus dem Putin zu diesen Zeitpunkten jeweils seine kriegerischen Aktivitäten intensivierte, aber es scheint definitiv ein wichtiger Faktor zu sein. Lag der Preisanstieg 2014 an dem irrationalen Verhalten, der sonst als so rational geltenden Märkte, waren es 2021 eine Vielzahl von Gründen, die vor allem durch die Folgen der Corona-Pandemie ausgelöst wurden. 

Russell nennt vier Gründe, wieso Regime, die stark von einem Rohstoff abhängen, aggressiver agieren, wenn die Preise steigen. Die ersten beiden hängen eng miteinander zusammen: Hohe Rohstoffpreise dienen sowohl als Waffe als auch als Schutzschild. Bei hohen Preisen ist es daher nicht nur einfacher andere Länder unter Druck zu setzen, nach dem Motto „wenn ihr nicht macht was wir wollen, dann gibt es kein Gas mehr, viel Spaß auf dem Weltmarkt“, sondern hohe Preise sind auch ein Schutzschild dagegen, dass andere Länder sich von der eigenen Versorgung abkoppeln. Genau das erfährt Deutschland gerade am eigenen Leib. In einem gewissen logistischen Rahmen wäre es bei geringeren Preisen für die Bundesrepublik bedeutend einfacher günstige Alternativen zum russischen Erdöl und -gas zu finden, als in der aktuellen Situation. Ein dritter Grund sind sogenannte Windfall-Einkommen, also Gewinne, die ein Staat einzig und allein deswegen macht, weil der Preis für die Rohstoffe, die er exportiert, gestiegen ist. Anfang des Jahres hat Russland pro Tag ca. 200 Millionen US-Dollar durch Gasexporte eingenommen – am 3. März waren es 720 Millionen. 

Diese Differenz, die einzig und allein aus den gestiegenen Gaspreisen an den Rohstoffmärkten entstanden ist, und für die Russland keinen Cent zusätzlich investieren musste, ist das Windfall-Einkommen. Zwischen 2002 und 2012 hat Russland über eine halbe Milliarde US-Dollar solcher Windfall-Profite generiert. Das half dem russischen Staat dabei große Devisenreserven aufzubauen, die es ihm heute ermöglichen, westlichen Sanktionen ein Stück weit auszuweichen. Auch diese enormen Summen, die Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch die Preisschwankungen an den Finanzmärkten eingenommen hat, haben Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine begünstigt. Ein letzter Grund ist ein psychologischer. Russell nennt es Chestiness, also die breite Brust, die solche Regime durch die Gewinne aufgrund der gestiegenen Preise haben, und das damit gestiegene Selbstvertrauen: „This psychological inflation is what turns opportunity into action.”

Preise haben Informationen – aber welche?

Im weiteren Verlauf des Buches bereist Russell weitere Länder, in denen Preise Krisen ausgelöst haben. So schreibt er über die Hyperinflation in Venezuela, das Vorgehen der Al-Shabaab Terrororganisation in Somalia oder die Fluchtbewegungen aus Mittelamerika in die USA. Sein Fazit ist: Vor allem durch die Spekulationen an den Finanzmärkten und die immer komplexer werdenden Finanzprodukte, verursachen Preise Chaos auf der Welt. Dabei entsteht teilweise der Eindruck, dass Preise keinerlei Informationen mehr enthalten, sondern das Ergebnis der willkürlichen Handlungen von Finanzmarktakteuren sind. Eine andere Position vertritt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze. Für ihn enthalten Preise heute so viele Informationen wie nie zuvor und sind eine Art Informationsbombe. „When prices change on a large scale, in a short space of time, what this delivers is not a neat and tidy ‘price signal’, as Friedrich Hayek famously imagined, but an information bomb.” Auch wenn Tooze in seiner Analyse vor allem über starke Preisveränderungen spricht, für die er acht Gründe aufzählt, so gilt diese Aussage allgemein für Preise. Sie entstehen nicht ausschließlich an Finanzmärkten, wo Spekulant*innen losgelöst von der realen Welt ihre Renditen maximieren wollen, obwohl das wie beschrieben ein wichtiger Punkt ist, sondern es subsumieren sich zahlreiche globale Entwicklungen in ihnen. Das macht es natürlich nicht leichter mit ihnen umzugehen. Zu Differenzieren ob die Benzinpreise jetzt aufgrund einer allgemein inflationären Tendenz steigen, oder wegen der globalen Konflikte, oder ob die Erdölunternehmen die Gunst der Stunde nutzen, um selber Windfall-Profite zu generieren, ist alles anderes als einfach oder trivial.

Wenn Preise versagen

Das bringt uns zurück an den Anfang dieses Textes. Auf ein anderes, gravierenderes Problem des gegenwärtigen Systems der Preisbildung geht Russell nämlich so gut wie gar nicht ein: das vollständige Versagen in existenziellen Wirtschaftszweigen.

Im August 1990 wurde der erste Sachstandsberichts des IPCC, dem Intergovernmental Panel for Climate Change, vorgelegt, der die Auswirkungen menschlichen Handelns auf den Klimawandel beschrieb. Und schon vorher war der Einfluss des Menschen auf den Klimawandel in der Wissenschaft relativ unumstritten. Am Beispiel der Preise für fossile Brennstoffe und Lebensmittel lässt sich das Versagen des Preissystems in unserer kapitalistischen Marktwirtschaft verdeutlichen. Die Preise für Erdöl, Erdgas oder Fleisch sind seit Jahrzehnten systematisch zu niedrig. Die Kosten, die der Menschheit durch den Ausstoß von CO2 oder Methan entstehen, waren schlicht und ergreifend nicht in den Märkten eingepreist, wie es im etwas lapidar klingenden ökonomischen Jargon heißt. Das bedeutet nichts anderes, als dass in den Preisen für fossile Brennstoffe und Rindfleisch die Kosten, die durch den Klimawandel auf uns zukommen, nicht enthalten waren. Hier war es kein zu viel an Informationen, das in den Preisen steckte, sondern ein Ignorieren von existenziellen Informationen, die zu dieser Verzerrung geführt haben. Was das bedeutet, sehen wir heute. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und Kosten, die sich durch diese systematischen Verzerrungen ergeben haben, sind so enorm hoch, dass sie die Menschheit vor gigantische Probleme stellen. Gleiches lässt sich auch über die Abhängigkeit von autokratischen Regimen sagen, auch hier steckten in den Preisen für beispielsweise russisches Gas, nicht die Informationen über die potenziellen Kosten, die damit einhergehen, mit Autokraten zu handeln. Ob marktwirtschaftliche Mechanismen, die sich am Ende natürlich wieder über Preise ausdrücken, diese Probleme lösen können, scheint mehr als fraglich.

Eine Heldengeschichte?

Auch der stilistische Ansatz, den Russell wählt um seine Themen zu beschreiben, erscheint zumindest teilweise fragwürdig. Die Kapitel sind grundsätzlich gleich aufgebaut: Er reist in eine Krisenregion und beschreibt zunächst die Gefahren, denen er sich dort aussetzt. Anschließend werden einige Menschen oberflächlich eingeführt, mit denen er vor Ort Kontakt hat. Selbst wenn Russell das Leid dieser Menschen beschreibt, bleiben sie eigenartig blass. Das liegt daran, dass er nur bedingt Interesse an den Geschichten der Einheimischen hat, sondern diese Schicksale eher als Kulissen für seine Abenteuer verwendet. Wie das anders gelingen kann, hat Linda Scott in ihrem Buch Das Weibliche Kapital gezeigt. Auch sie nutzt die Beschreibung der Schicksale einzelner Frauen, um ihre Argumente zu untermalen. Allerdings hat Scott Monate, manchmal Jahre mit diesen Frauen in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet und zeigt ein echtes Interesse an ihren Problemen. Auf die Spitze treibt Russell diesen Erzählstil, zumindest aus heutiger Sicht, wenn er die Fahrt aus Kyiv an die Kriegsfront in der Ostukraine beschreibt: „It’s a six hour train journey from Kiev to the war in Eastern Ukraine and I’m bored.“ Diese Art des bewusst provokanten und herablassenden Journalismus hat das Buch zum einen nicht nötig, weil die Informationen, die er vermittelt, packend genug sind, und hinterlässt zum anderen den Eindruck, dass es doch vor allem darum geht, die eigene Heldengeschichte zu erzählen.

Insgesamt gelingt Russell dennoch ein hochaktueller und auch für Laien gut zugänglicher Beitrag über die Rolle die Preise in unserem Leben spielen. Lösungsvorschläge liefert das Buch nur andeutungsweise, obwohl viele davon auf dem Tisch liegen. Dass er aber nicht auf eine globale Finanztransaktionssteuer eingeht, die den Hochfrequenzhandel einschränken könnte, oder auf schärfe Regulierungen für Finanzprodukte, allen voran Derivate, die er nur tangiert, liegt an einer weiteren stilistischen Entscheidung. Russell mystifiziert die Finanzmärkte und die darauf agierenden Akteure permanent. Er spricht von Magie und vergleicht die Finanzbranche mit obskuren Kulten. Das mag auf einer ästhetischen Eben nachvollziehbar sein, führt aber dazu, dass diese Branche eine Aura des Übermenschlichen und der Unantastbarkeit bekommt. Dabei wäre es ein leichtes mit strengeren gesetzlichen Vorgaben und Behörden, die mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden, die Finanzmärkte so zu regulieren, dass von ihnen weniger Gefahr für die Gesellschaften weltweit ausgehen. Trotz aller Makel macht Russell mehr als deutlich, dass Preise, so wie sie aktuell gebildet werden, wahrscheinlich eher Ursache unserer Probleme sind, denn Teil der Lösung. Ein Punkt, den vor allem viele Liberale, die auch gerade in der Bundesregierung in entscheidenden Ressorts an der Macht sind, immer noch ignorieren.

Beitragsbild von Jeremy Bezanger

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