von Svenja Reiner
Im Februar 2011 fand ich die perfekte Serie. Ich hatte mich systematisch durch alle IMDB-Verlinkungen von Diablo Cody geklickt und stieß auf United States of Tara, in der Tony Colette eine dissoziativ erkrankte Mutter und Ehefrau spielt. Ich liebte die Serie für ihre komplexen Figurenkonstellationen, den respektvollen Umgang mit psychischen Krankheiten und der Tatsache, dass sie nicht die Erkrankung sondern die Entwicklung von Tara zentrierte. Nach dem Finale drei Staffeln später versuchte ich, was wir alle versuchen, um unsere Begeisterung nicht zu schnell abflauen zu lassen: Sofort eine weitere Person anzustecken. Die Wahl fiel auf meine Mitbewohnerin. Sie nickte geduldig und schrieb mir ein Jahr später aus dem Osterurlaub, dass sie die Serie auch genial gefunden habe.
Je begeisterter die Empfehlungen, so scheint es manchmal, desto unwilliger das Gegenüber. Ich kenne diese Reaktionen auch von mir selbst. Vielleicht liegt es daran, dass wir bei Lobeshymnen auch den Wunsch der Lobenden einberechnen, beim Empfehlen eine gute Figur abgeben zu wollen. Empfohlen werden nicht der Easy Read oder das Guilty Pleasure sondern das Komplexe, Mehrschichtige, Anstrengende – Hausaufgaben statt Abendunterhaltung. Und dann verschieben und verschieben wir den Konsum dieser Serien, Bücher oder Filme auf den Moment, in dem wir Kapazitäten für noch mehr geistige Arbeit haben. Der Podcast Radiolab scheint auf den ersten Blick eine solche Empfehlung zu sein: Jad Abumrad, Latif Nasser und Lulu Miller hosten ein experimentelles Audioformat, das wissenschaftliche und philosophische Perspektiven in long-form Journalismus verbindet. Urgh, klingt als stünde es auf der To-Do-Liste direkt unter Keller aufzuräumen und Unendlicher Spaß lesen.
Ist es aber nicht. Eine klassische Radiolab-Folge spielt sich im Studio zwischen den abwechselnden Moderator*innenduos ab: Abumrad, Nasser oder Miller hören die Aufnahmen ihrer Produzent*innen (manchmal produzieren sie auch selbst), unterbrechen sie immer wieder mit Bemerkungen und kurzen Gesprächen. Sie stellen die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt und sie tun es in dem ungescriptet klingenden aber präzise formulierten Ton, den nur extrem eingespielte Moderationsprofis draufhaben. Und worüber sie sprechen: Über die Nina Simone-Aufnahme, die die Sängerin drei Tage nach der Ermordung von Martin Luther King aufnahm. Die psychologische Bindung an Dinge. Die sechsteilige Reihe G, die untersucht, wie Intelligenzvorstellungen und v. a. IQ Tests mit Eugenik und umstrittener Genetik verwoben sind. Radiolab sind überhaupt Meister des Spin-Offs und der Sonderreihen: The Other Latif, More Perfect, Dolly Parton’s America, Border Trilogy – scheinbar unermüdlich produziert das Team individuelle Zugänge zu abstrakten und komplexen Fragen, findet Archivmaterial, gestaltet über Sound und Stille beeindruckende Momente.
Eine Folge hat mich am Ende des letzten Jahres besonders bewegt: Ashes on the Lawn behandelte die Frage nach der richtigen, der effektivsten Form von Protest: “When nothing seems to work, how do you make change?”. Der erste Teil der Episode stellt einen weitgehend unbekannten Protest von 1992 vor: 150 Personen, darunter viele Mitglieder der ACT UP-Bewegung, protestierten vor dem Capitol gegen die faktisch nicht vorherrschende HIV-Politik der Bush-Regierung – indem sie, umzingelt von der Mounted Police, der berittenen Polizei, die Asche ihrer Verstorbenen über der Rasenfläche verstreuten. Diese Zeitzeug*innen beschreiben beeindruckende, verzweifelte, wütende Szenen. Nur wenige Medien berichteten anschließend von den Geschehnissen. “I think if you weren’t in D.C. that day at that moment, you probably wouldn’t have known that it happened.”
Zur gleichen Zeit gibt es einen anderen Protest: Den AIDS Quilt, der die Namen und Erinnerungsgegenstände von 800 Verstorbenen trug (“Bomber jackets and high school track medals and things that Mom put on that really tell the story of the person”), und schließlich zur Gründung des Ryan White HIV/AIDS Programs führte. Die ACT UP-Mitglieder blieben kritisch: Der Quilt ist ihnen zu schön, zu peaceful und versöhnlich, er würde die grausame Realität der AIDS Erkrankungen verschleiern. Auch wenn Lulu Miller und Produzentin Tracy Hunt in dieser Folge mit Archivmaterial und historischen Aufnahmen arbeiten, schwingt die Black Lives Matter-Bewegung der letzten Monate im Subtext immer mit: Wie wollen wir protestieren? Friedlich, radikal, zerstörerisch? Braucht es Wut oder Nachsicht, Verständnis oder Unnachgiebigkeit?
Eine andere Folge, die zu meinen all time favorites zählt, ist Elements, die sich dem Periodensystem auf eine besondere Art nähert. Zusammen mit kurzen Gedichten zu Helium, Sauerstoff oder Uranium (überhaupt-nicht-cringy Highlight: “Happy Valentine’s Day Magnesium” von Jason Schneiderman) erzählt die Folge drei Geschichten überlebenswichtiger Elemente.
Am 14. Februar 2001 steht Jamie Lowe auf einem Dach und macht ihrem Freund Mike Ryan einen Heiratsantrag. Zuvor hat sie an einer Straßenecke gesungen, in einem Glitzer-BH getanzt, Kumquats und Wein gefrühstückt und behauptet, dass sie im Laufe des Tages eine Debatte mit Al Gore, George W. Bush, Ralph Nader und Fidel Castro führen würde – auf MTV. Jamie Lowe ist Bipolar und benötigt jetzt sehr schnell Lithium, das zur Behandlung eingesetzt wird. Produzent Soren Wheeler erzählt den Valentinstag anhand privater Videomitschnitte von Lowe und Ryan nach, lässt Szenen beschreiben, reichert das Material mit kurzen Erklärungen von Psychiater*innen an. Lithium ist ein Atom, das bereits während des Urknalls entstand, und das, in geringen Mengen, in der Natur auftaucht. Es gibt Studien, erfahren wir in der Folge, die den Zusammenhang zwischen Lithiumgehalt im Trinkwasser und verringerter Suizidalität, Kriminalität und Gewalt untersuchen.
Nachdem sie 16 Jahren mit Lithium behandelt wurde, muss Jamie Lowe Abschied von ihrem Element nehmen. Nach langjähriger Therapie sind Schädigungen der Nieren möglich. Vor dem Medikamentenwechsel besucht sie die Lithiumsalzflächen in Bolivien. “I’m grateful to it for its service. I feel like it’s done a lot for me. It worked so hard to get to me too, from the big bang to now.” Die 30 Minuten Lithium haben es in sich. Für mich sind es Momente wie diese, die einen so umfassenden Blick auf ein völlig anderes Leben geben, dass ich erst durch die Moderationen wieder zurückgeholt werden. “Wait … wait … you’re listening? To Radiolab”.