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Über Türen in Hörspielen – wie Geräusche Räume erzählen

von Andrea Geißler

EIN TÜRSPALT

Studio 7 ist das Hörspielstudio beim Hessischen Rundfunk. Es ist über dem Sendesaal in der Mitte des Rundbaus gelegen und an den Redaktionstagen umlaufe ich es ständig in viertel, halben oder ganzen Kreisen. Denn die Redaktionsbüros sind im äußeren Ring des Gebäudes untergebracht, die Türen vom umlaufenden Ringflur nach innen führen alle zum Studio. Ins Studio dringt nicht nur kein Ton von draußen, sondern auch kein Lichtstrahl. Dafür sind Tageslichtlampen in der Beleuchtung verbaut.

Wenn ich ins Innerste des Hörspiel-Studios will, dorthin, wo die großen Mischpulte und die Aufnahmetechnik sind, muss ich jeweils vier, fünf Türen passieren, denn es befindet sich im runden Kern des Gebäudes und ist gesichert wie ein Tresorraum: Es gibt Sicherungstüren mit Spezialschloss, Schallschutztüren, Flügeltüren zum Klavierraum und ganz normale Türen zwischen Küche und Aufnahmeräumen. Diese “Küchentüren” gehören bereits zu den Kulissen, wobei alle Kulissen dort akustisch gedacht sind. Darum hat eine Treppe auch zweigeteilte Stufen: die linke Trittseite aus Holz, die rechte aus Metall, akustisch sind es folglich zwei Treppen.

Die Türen jedenfalls tun ihr Bestes, um jegliche Eindringlinge abzuhalten. Das liegt daran, dass die Zeit durchgetaktet ist, wenn ein Hörspiel aufgenommen und produziert wird, sagen Regie und die Techniker*innen. Aber ich weiß, dass das nicht alles ist: es gibt eine bestimmte Intimität, die diese kleine Gemeinschaft im Inneren des Studios miteinander teilt und in die niemand eindringen soll.

LUFT

„Dass man einen ganzen Haufen Zeit zusammendrücken kann wie ‘n bisschen Luft in der hohlen Hand…“ – so heißt es in Marie-Luise Kaschnitz‘ Hörspiel „Was sind denn sieben Jahre“ (1955) und das trifft ziemlich genau, wie sich Hörspiele anfühlen: Sie sind viel „Luft in der hohlen Hand“ im Vergleich zu einem Buch, das greifbar aus Papier besteht. Sie sind auch „Luft“ im Vergleich zu einem Theaterstück, das in seiner Materialisierung auf einer Bühne – in Kulissen und Kostümen und überhaupt Körpern – so substanziell ist.
Dagegen ist ein Hörspiel erst in der Luft – im Ohr – wenn ein Play-Button gedrückt wird. Ist es darum in Wahrheit der Musik näher als der Literatur? Vielleicht.

„Dass man einen ganzen Haufen Luft zusammendrücken kann“, das sagt Tony über die sieben Jahre, die vergangen sind, seit sie ihren Mann zuletzt gesehen hat. Jetzt erst kehrt er zurück, Jahre nachdem der Krieg vorbei ist. Wie wird es sein, ihn nun wiederzusehen? Tony bezieht die Betten frisch, sie geht zum Friseur und fragt ihre Schwester, ob sie sich erinnere, wie sie vor sieben Jahren ihre Haare trug. Tony hat einen Tag Zeit, um sich nach der Nachricht über die Rückkehr auf eben diese vorzubereiten und ihre Erinnerungen zurückzurufen. Im Hörspiel sind die Zeit-Ebenen ineinander geblendet: die Reflexionen Tonys über ihre gegenwärtige Situation, ihre Erinnerungen und alltägliche Gespräche mit den Menschen, denen sie an einem solchen Tag gewöhnlich begegnet. Die Dialoge sind darum das Unmittelbarste, das im Hören besonders nahekommt; die Gedanken und Erinnerungen liegen ferner.

Die Germanistin Sieglinde Klettenhammer beschäftigte sich ausführlich mit Kaschnitz‘ Hörspielen und stieß auf eine Bemerkung, die Kaschnitz im Band „Engelsbrücke“ übers Hörspiel-Schreiben machte: Die Schriftstellerin schätze „die Möglichkeit, die Kategorien des Ortes, der Zeit und der Handlung” außer Acht lassen zu können, „mit diesen Kategorien nach eigenem Belieben umspringen, herumspringen“ zu können, „vor- und rückwärts, durch ein ganzes Leben, durch die Geschichte, durch die Welt“. Gleichzeitig sei es ein Leichtes, dabei eine „Formkraft“, zu wahren, „die das Auseinanderfallen verhütet und die einzelnen Glieder in einer ganz bestimmten, musikalischen Beziehung zueinander erhält.“ 

Ein anderer Schriftsteller dieser Zeit, Friedrich Dürrenmatt, hatte auf seine Art eine leichte, spielerische Herangehensweise an das Schreiben eines Hörspiels: „Man atmet anders im Hörspiel“, erklärte er 1964 gegenüber Dramaturg Heinz Hostnig. Er fände gewissermaßen „Entspannung“ im Hörspiel, er sei dabei nicht so besorgt um das Theater und die Bühne, um das „Auftreten von Menschen“ wie beim Schreiben eines abendfüllenden Theaterstücks.

SCHALL

Die Geschichte des Hörspiels umfasst nunmehr fast 100 Jahre: Am 24. Oktober 1924 wurde im Frankfurter Sender (damals „Südwestrundfunk AG“) das Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“ live in den Äther gefunkt, gerade mal ein halbes Jahr, nachdem dort der Betrieb überhaupt erst aufgenommen worden war. Sendeleiter Hans Flesch schrieb die „Senderspielgroteske“ eigentlich als Störung des Sendebetriebs: Eine „Märchentante“ löst den abendlichen Spuk aus, denn sie möchte auch einmal um diese Zeit ein Märchen erzählen. Der Sendeleiter „Dr. Flesch“ versucht sie aufzuhalten, doch auf einmal geht es drunter und drüber: Das “Mütterchen” fängt an zu erzählen, Zahlen, Tanzmusik und sogar eine Trompete spielen durcheinander, bis es den Rundfunkleuten schließlich gelingt, den „akustischen Schabernack“ wieder in Ordnung zu bringen, wie es im Pressetext zur Neuproduktion des Hessischen Rundfunks von 1962 heißt. Denn Originalaufnahmen gibt es davon nicht, entsprechende Aufnahme- und Schnitttechniken wurden erst später entwickelt. Der experimentierfreudige Flesch allerdings hat das Hörspiel (und das Radio) in Deutschland nicht nur mit seiner „Zauberei“ geprägt, sondern auch mit seinem Verständnis, was dieses neue Medium sein könnte: Er holte die Literatur und die intellektuelle Szene ins Radio: Bert Brecht, Kurt Weill, Walter Benjamin, Paul Hindemith, später Theodor Adorno.

Aber die Geschichte des Hörspiels ist keine Geschichte von Männern. Im Gegenteil: unter den prägendsten Figuren waren Fränze Roloff und Cläre Schimmel. Die beiden Namen, die zusammen klingen wie ein Wortspiel, wurden oft in einem Atemzug genannt. Fränze Roloff, eigentlich Franziska, baute das Hörspiel im Hessischen Rundfunk auf. Cläre Schimmel, eigentlich Klara, tat dies beim Südwest Rundfunk.

Fränze Roloffs Hörspiele sind puristisch kammerspielartig inszeniert, zumeist ohne Musik, auffallend ist immer wieder die Bestimmtheit ihrer Inszenierungen, in ihren Dialogen bleiben Betonungen nicht vage. Es treten viele Männer in Hörspielen auf zu dieser Zeit, reden sehr vernünftig und überlegen. Frauen hingegen klingen eher wie Mädchen, mit einschmeichelnder Spielhaltung in hoher Stimmlage, allzeit bereit, ohnmächtig in männliche Arme zu fallen. Fränze Roloff ließ ihren Darstellerinnen diese klischeehafte Rolle nicht so leicht einnehmen – oder drängte sie nicht in diese Unterwürfigkeit, wie manche Regisseure das möglicherweise taten. In ihren Hörspielen klingen die Sprecherinnen jedenfalls wenig unterwürfig. Das ist sicher kein Zufall: Fränze Roloff wurde 1896 geboren, war zunächst Schauspielerin und um 1926 für einige Zeit Leiterin der Schauspielschule an der Berliner Volksbühne – und das, als sie selbst erst in ihren Zwanzigern war. Während der Nazi-Zeit tauchte sie unter, weil sie für den ihr unbekannten Vater keinen Arier-Nachweis erbringen konnte und nicht weiter an exponierter Stelle an der Berliner Volksbühne bleiben konnte. Nach dem Krieg holte man sie zu Radio Frankfurt, dem späteren Hessischen Rundfunk. Dort entwickelte sie den Kinder- und Jugendfunk und die Hörspielabteilung. Bis in die 70er Jahre hinein wirkte Fränze Roloff an rund 170 Produktionen mit – ob als Sprecherin oder in den meisten Fällen als Regisseurin. Damit ist sie eine der wichtigsten Pionierinnen für das Hörspiel im Hessischen Rundfunk. Die Erinnerung an sie wurde bisher vernachlässigt – sogar ihr genaues Todesjahr (1975) ist nicht öffentlich bekannt; einen Nachruf verbat sie sich zu Lebzeiten, all das ist nur auf Anfrage aus dem Unternehmensarchiv zu erfahren.

Zu Cläre Schimmel lässt sich immerhin ein Nachruf der Stuttgarter Zeitung finden, in dem sie als prägend für die „goldene Zeit des Hörspiels“ in den 50er Jahren beschrieben wird – damals lagen die Quoten der Zuhörenden regelmäßig in Millionenhöhe. Cläre Schimmel wurde in den 1930er Jahren erst als Opernsängerin berühmt, bevor sie sich der Schauspielerei zuwandte und eine Ausbildung zur Rundfunksprecherin machte. 1950 wurde sie beim Süddeutschen Rundfunk Leiterin der Hörspielabteilung. Ihr dramaturgisches Verständnis von Hörspielen erklärte sie einmal in einem Interview: sie wollte „nie mehr als die Sprache selbst sprechen lassen“.

Sieglinde Klettenhammer (wie auch Reinhard Döhl, Ulrike Schlieper u.a.) wies mit Blick auf die 50er und 60er Jahre auf die gängige Unterscheidung zwischen „wortzentriertem traditionellem“ und „schallorientiertem Neuem Hörspiel“ hin. Denn während die meisten Hörspiele aus dieser Zeit naturalistisch und mit wenigen (meist musikalischen) Akzenten inszeniert wurden, nutzte das „Neue Hörspiel“ die damals neuen technischen Möglichkeiten als dramaturgische Gestaltungsmittel: Schnitt, Überblendungstechniken und Montage. Dabei kam in den letzten 20 bis 30 Jahren noch eine weitere technische Neuerung hinzu, wie Leonhard Koppelmann und Silke Hildebrandt in „Archivschatz: Das Hörspiel vom Hörspiel“ beschreiben. Seit Tonspuren digital verfügbar sind und in unbegrenzter Zahl und Breite angelegt werden können, sind „invasive“ Schnitte, im Grunde irreversible „Zerstörungen“ der Tonbänder nicht mehr nötig. Damit ist der Spielraum etwa für experimentelle Montagen oder chorische Inszenierungen unendlich geworden.

SCHLÜSSELGERÄUSCHE

Die Geschichte des Hörspiels ist lang und respekteinflößend. Wie verorten wir uns darin, die selbst noch am Anfang stehen? Wie Hörspiele machen, Hörspiele schreiben nach 100 Jahren Hörspiel? Mir hilft das Öffnen von Türen. Ganz konkretes Beispiel: zwei Personen – vielleicht ein Paar – unterhalten sich und gehen in einen anderen Raum, dort setzt sich ihre Geschichte fort. Wäre dies ein Roman, so würde neben dem Dialog der beiden ihr Aussehen beschrieben werden, vermutlich der Raum, in dem sie sich bewegen, vielleicht welche Gedanken sie haben. Wäre es ein Theaterstück, so wäre die Präsenz ihrer Körper dominant für die Wahrnehmung des Publikums. Gestikulieren sie? Berühren sie einander? Wie füllen ihre Körper diesen Raum aus (oder nicht)?

Im Hörspiel hingegen könnte die Tür entscheidend für die ganze Szene sein: Sie ist Trenner, Öffner, Rahmengeräusch für die Verortung der beiden Figuren. Die Tür trennt die Unterhaltung in drinnen und draußen. Durch das Zufallen einer Tür wird möglicherweise erst klar, dass die beiden draußen waren, in der Öffentlichkeit und nun in einen privaten Raum eintreten, in dem ihre Aussagen ganz anders wahrgenommen werden.

Ich hatte einen solchen Tür-Schlüssel-Moment als ich für „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ von Safiye Can Regie führte: Die beiden Hauptfiguren Sophia und Friedrich  kommen vom Einkaufen, öffnen die Haustür, scherzen weiter im Treppenhaus, öffnen die Wohnungstür mit einem Schlüssel, und als diese hinter ihnen zufällt, sind sie in einem Wohnzimmer unter sich. Für diese Szene wurden Sprachaufnahmen in zwei Räumen gemacht: „draußen“ im schalltoten Raum, (die Straßen-„Atmo“ wurde später daruntergelegt) „drinnen“ ist ein kleinerer Aufnahmeraum, der durch Stoffe, Holzmöbel und ein Bett behaglicher, intimer klingt. Das Fehlen der visuellen Wahrnehmung verlangt Spielenden eine paradoxe Schauspielleistung ab: Ob sie einander nahe sind, einander berühren, ist in einer Szene ja nicht zu sehen, nur zu hören. Also berühren sie sich bei den Aufnahmen gar nicht, sie nesteln an ihren eigenen Kleidern oder kneten ein Kissen, sie schmatzen auf ihre eigenen Handrücken, wenn ein Kuss zu hören sein soll. Ihre Stimmen verkörpern ihre Körper und mehr findet hinter den Kulissen nicht statt: In Wahrheit teilen sie sich nicht einmal ein Mikro. Zwei Liebende-Spielende im Hörspiel wahren so viel Distanz wie heimliche Liebespaare in ihren Briefen im 19. Jahrhundert.

Dagegen die Tür: an ihr ist alles echt. Ein paar Tage nach den Aufnahmen – Kristin Alia Hunold und Murat Dikenci („Sophia“ und „Friedrich“) waren längst abgereist – da saß ich mit der Cutterin und dem Tontechniker im Studio und wir bauten die Szene, wir bauten die Türen ein. Also hörten wir dutzende Tür-Aufnahmen an, die nicht in Frage kamen: „Die ist zu massiv, das ist ja ein Bunker!“ „Die geht nach draußen auf, nicht nach drinnen.“ „Jetzt sind sie ja in einer Kirche, nicht in einem Treppenhaus.“ „Die Tür schnappt zu wie eine Balkontür, das kann nicht sein.“ „Klingt nach Hörsaal, nicht nach Studenten-WG.“ – Es fanden sich die richtigen Türen, und die perfekten Schlüsselgeräusche – wie der Schlüssel nach dem Türschließen beiläufig in einer Schale abgelegt wird – nahmen wir selbst auf. Regie ist manchmal nur Geräusche machen.

SPRACHE

Dafür liegen auch Schreiben und Schneiden nah beisammen. Das Schreiben eines Hörspiels ist ein zweifacher Prozess des Kürzens und Verdichtens: Schon im Schreiben gilt der Versuch, alles Redundante zu streichen; sind die Texte aufgenommen, wird der Schnitt mit gleicher Strenge ausgeführt. Was übrig bleibt, muss dicht sein, schlüssig, mit klaren Bezügen in der Narration. Denn Hörende sind so viel ungeduldiger als Lesende. Wenn ein unverständlicher Satz sie aus dem Hörfluss wirft, sind sie verloren, sie werden abschalten. Wortzentriert heißt also: fokussiert, auf wenige Worte, die besser nachhallen als wiederholt werden.

Und doch ist Sprache auch eine besondere Möglichkeit des Hörspiels, vielmehr: Sprachen sind es. Ein Buch in Übersetzung löscht die Originalsprache im Normalfall vollständig, es ist keine Überschreibung, weil die Übersetzung das Original tilgt. Selten werden zweisprachige Ausgaben von Büchern angefertigt, in diesem Fall stehen die beiden Sprachen nebeneinander.
Das ist bei Audios anders: Simultan-Übersetzungen sind akustische Palimpseste. Die Originaltonspur liegt drunter, sie wird nur gedimmt, „geduckt“, wie man sagt. Anfang und Ende, die „Ränder“ bleiben dabei vollständig sichtbar.
Diese Sprach-Sichtbarkeit auf Tonspuren ist ein Potential, welches Hörspiel-Macher*innen inzwischen mehr und mehr zu nutzen wissen. Hier werden polyglotte Sprachflächen bewusst ineinander geblendet, sie unterlaufen sich gegenseitig, sie überschreiben einander. Sprachen wollen gehört werden und Inszenierungen lassen es zu.

Regisseurin und Komponistin Ulrike Haage gab bei meinem Hörspiel „Hyperbolische Körper“ den Sprachen viel Raum, oder vielmehr: Ebenen. In dieser Utopie unterhalten sich die russische Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (geb. 1850) und die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani (geb. 1977) über die Möglichkeit, statt realen Körpern „hyperbolische“ zu haben. Vielleicht könnte so wirkliche Gleichheit und Gleichberechtigung erreicht werden? Kowalewskaja und Mirzakhani streiten über diese Vision, erinnern sich an ihre Vergangenheiten, an Verluste von Kindheiten und sie vergegenwärtigen die Fragilität ihrer Körper. Ihr Dialog ist mehrsprachig und findet außerhalb der Zeit und außerhalb von Räumen statt. Hier sind Sprachen auch Flächen, Ebenen. Darum gibt es  weder Fragen nach den richtigen „Türen“ noch nach einem drinnen und draußen, Privatheit und Öffentlichkeit. Stattdessen ist die Frage der Räumlichkeit eine mathematische – und eine akustische. 

Das Hörspiel hat genug Spielraum für sprachliche und körperliche Utopien. Eine davon wird inzwischen häufiger in der Besetzung praktiziert: Rollen werden genderblind besetzt. Denn noch immer gibt es statistisch mehr Männerrollen, auch im Hörspiel gibt es besonders für Schauspielerinnen mittleren Alters wenige Rollen. Wo es möglich ist, versucht die Besetzung hier starre Geschlechtszuschreibungen zu umgehen: Männliche Jugendliche dürfen auch mal etwas androgyner klingen und mit einer jungen Schauspielerin besetzt werden – ein Beispiel ist etwa Lotte Schubert in Matthias Brandts „Blackbird“ (Regie: Leonhard Koppelmann). Ähnlich verhält es sich mit fabelhaften Wesen, sprechenden Tieren, Erzählstimmen: hier entscheidet die Stimmfarbe und weniger die Tonlage. Ohnehin gewinnen Verschiebungen an Bedeutung: Verschiebungen zwischen Text und Tonspur – wenn etwa Sprachen und Körper nicht notwendigerweise miteinander identifiziert werden. So entstehen Zwischenräume zwischen Text und Sprache ganz oft dadurch, dass Zeilen nicht mehr von denen gesprochen werden, denen sie im Text zugeordnet sind – wie in Das große Heft von Ágota Kristóf (Regie: Erik Altorfer).

Wohin geht es jetzt im Hörspiel? Die Entwicklung tendiert – wieder – zum seriellen Erzählen. Klassiker wie die „Herr der Ringe“-Großproduktion aus den 1990ern erleben eine Renaissance, ebenso wie Bastian Pastewkas lakonische Zwiegespräche mit den Schatten der Hörspielkrimi-Vergangenheit in seinem Kein Mucks!-Podcast und schließlich gehörte zu den erfolgreichsten Serien zuletzt die „10 Atemzüge“ vom Autorinnen-Team Simone Buchholz, Berit Glanz, Mareike Fallwickl und Karen Köhler. Worum es hier geht? Sagen wir: um alles das, was sich üblicherweise hinter verschlossenen Türen abspielt.

Beitragsbild runnyrem

True Crime als Gesellschaftsanalyse – Stuart Hall und der Trojan Horse Skandal

von Robert Heinze

Ich habe ein eher gespaltenes Verhältnis zu Serial. Ein True Crime-Podcast aus dem Umfeld der berühmten NPR-Radiosendung This American Life, der Fixpunkt des liberalen Medienkonsums in den USA. Der Podcast schien mir immer zwei schlechte journalistische Traditionen miteinander zu verbinden, nämlich die inhaltsleer-investigative Suche nach einer Täterperson mit einer Erzähltechnik, die politische Themen auf individuelle Erfahrungen herunterbricht und ganz auf die „Story“ fokussiert. Eine Erzählweise, die sich darauf verlässt, dass diese Story aus sich selbst heraus weitergehende Erkenntnisse hervorbringt.

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Never fuck the Company – Dating Advice von Scriptnotes [Podcastkolumne]

von Svenja Reiner

Bis zu meinem Schulabschluss war mein Liebesleben relativ unkompliziert. Entsprechend der Formel älter = cooler verliebte man sich abwechselnd in irgendeine*n Mitschüler*in aus der Oberstufe oder, sobald der nächste Teil der Herr der Ringe-Verfilmung im Kino lief, in Orlando Bloom. Beide Formen der Romanze eigneten sich zum Gruppengespräch auf dem zugigen Schulhof, und die Diskussion um Orlandos neue Bilder in der BRAVO oder der Versuch, einen Blick auf den Schwarm in der Raucherecke zu erhaschen, machten ereignislose Große Pausen etwas erträglicher. 

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Scheitern als Chance – Spaßmonologe [Podcastkolumne]

von Svenja Reiner

Als ich noch jung war und dachte, eine Großstadt zeichne sich vor allem durch die Dichte der Fast Fashion Läden in ihrem Zentrum aus, verließ mich meine Mitbewohnerin für einen Auslandsaufenthalt in Wien. In ihrem Zimmer zog eine Frau ein, die für diese Zeitspanne einer unbezahlten Tätigkeit am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Universität Bochum nachgehen wollte. Als die echte Mitbewohnerin zurückkam, wusste ich, dass man auch ohne Bezahlung Überstunden machen kann und dass manche Menschen das Betreten gemeinschaftlich genutzter Räume nicht notwendigerweise als Anlass sehen, auf Pause zu drücken und die weißen Earpods aus den Ohren zu fummeln. Die letzte Angewohnheit übernahm ich von der Zwischenmieterin, allerdings lief ich nur mit Kopfhörern durch die Wohnung, wenn ich alleine war – das kam jetzt öfters vor, denn die Mitbewohnerin führte nun eine Fernbeziehung nach Wien. 

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Nachricht vom Dachboden – Von drinnen with love [Podcastkolumne]

von Svenja Reiner

 

Zu sagen, ich sei ein schüchternes Kind gewesen, wäre, als würde man eine Weisheitszahn-Operation als ‘unangenehm’  beschreiben. Nicht falsch, aber auch nicht besonders treffend. Die erzieherische Reaktion meiner Eltern bestand darin, mich sonntags alleine in die Bäckereifiliale zu schicken – eine Übung, die ich gehasst habe. Grundsätzlich versuche ich, die verbalen Kontakte in meinem Leben auf Freund*innen oder nette Tiere im Park zu beschränken. Ich möchte weder jemanden im Hausflur grüßen noch anderen Spaziergänger*innen einen guten Tag wünschen. Weiterlesen

Vier Egomaninnen in der Great American Novel [Podcastkolumne]

von Svenja Reiner

 

Hands down: Mit diesem Text habe ich lange gerungen. Denn als ich zu Beginn dieser Kolumne erklärt habe, dass ich über 40 Podcasts in meinem Apple Podcasts-Account abonniert habe, war das keine Übertreibung. Ich könnte über einen Podcast schreiben, der sich mit unsichtbaren Einflussfaktoren auf unser Leben beschäftigt, über einen, der Scheitern zum Thema macht oder das Schreiben oder das Lesen oder das Denken. Aber es ist auch für mich der 12. Pandemiemonat und mir ergeht es gerade wie Isabella Caldart: Auch ich habe angefangen, meine Guilty Pleasures rauszukramen, um nicht an mir und dem Zustand der Welt zu verzweifeln Weiterlesen

Keine Hausaufgaben – Wie man spannend über ernste Themen redet [Podcastkolumne]

von Svenja Reiner

 

Im Februar 2011 fand ich die perfekte Serie. Ich hatte mich systematisch durch alle IMDB-Verlinkungen von Diablo Cody geklickt und stieß auf United States of Tara, in der Tony Colette eine dissoziativ erkrankte Mutter und Ehefrau spielt. Ich liebte die Serie für ihre komplexen Figurenkonstellationen, den respektvollen Umgang mit psychischen Krankheiten und der Tatsache, dass sie nicht die Erkrankung sondern die Entwicklung von Tara zentrierte. Nach dem Finale drei Staffeln später versuchte ich, was wir alle versuchen, um unsere Begeisterung nicht zu schnell abflauen zu lassen: Sofort eine weitere Person anzustecken. Die Wahl fiel auf meine Mitbewohnerin. Sie nickte geduldig und schrieb mir ein Jahr später aus dem Osterurlaub, dass sie die Serie auch genial gefunden habe.

Je begeisterter die Empfehlungen, so scheint es manchmal, desto unwilliger das Gegenüber. Ich kenne diese Reaktionen auch von mir selbst. Vielleicht liegt es daran, dass wir bei Lobeshymnen auch den Wunsch der Lobenden einberechnen, beim Empfehlen eine gute Figur abgeben zu wollen. Empfohlen werden nicht der Easy Read oder das Guilty Pleasure sondern das Komplexe, Mehrschichtige, Anstrengende – Hausaufgaben statt Abendunterhaltung. Und dann verschieben und verschieben wir den Konsum dieser Serien, Bücher oder Filme auf den Moment, in dem wir Kapazitäten für noch mehr geistige Arbeit haben. Der Podcast Radiolab scheint auf den ersten Blick eine solche Empfehlung zu sein: Jad Abumrad, Latif Nasser und Lulu Miller hosten ein experimentelles Audioformat, das wissenschaftliche und philosophische Perspektiven in long-form Journalismus verbindet. Urgh, klingt als stünde es auf der To-Do-Liste direkt unter Keller aufzuräumen und Unendlicher Spaß lesen.

Ist es aber nicht. Eine klassische Radiolab-Folge spielt sich im Studio zwischen den abwechselnden Moderator*innenduos ab: Abumrad, Nasser oder Miller hören die Aufnahmen ihrer Produzent*innen (manchmal produzieren sie auch selbst), unterbrechen sie immer wieder mit Bemerkungen und kurzen Gesprächen. Sie stellen die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt und sie tun es in dem ungescriptet klingenden aber präzise formulierten Ton, den nur extrem eingespielte Moderationsprofis draufhaben. Und worüber sie sprechen: Über die Nina Simone-Aufnahme, die die Sängerin drei Tage nach der Ermordung von Martin Luther King aufnahm. Die psychologische Bindung an Dinge. Die sechsteilige Reihe G, die untersucht, wie Intelligenzvorstellungen und v. a. IQ Tests mit Eugenik und umstrittener Genetik verwoben sind. Radiolab sind überhaupt Meister des Spin-Offs und der Sonderreihen: The Other Latif, More Perfect, Dolly Parton’s America, Border Trilogy – scheinbar unermüdlich produziert das Team individuelle Zugänge zu abstrakten und komplexen Fragen, findet Archivmaterial, gestaltet über Sound und Stille beeindruckende Momente.

Eine Folge hat mich am Ende des letzten Jahres besonders bewegt: Ashes on the Lawn behandelte die Frage nach der richtigen, der effektivsten Form von Protest: “When nothing seems to work, how do you make change?”. Der erste Teil der Episode stellt einen weitgehend unbekannten Protest von 1992 vor: 150 Personen, darunter viele Mitglieder der ACT UP-Bewegung, protestierten vor dem Capitol gegen die faktisch nicht vorherrschende HIV-Politik der Bush-Regierung – indem sie, umzingelt von der Mounted Police, der berittenen Polizei, die Asche ihrer Verstorbenen über der Rasenfläche verstreuten. Diese Zeitzeug*innen beschreiben beeindruckende, verzweifelte, wütende Szenen. Nur wenige Medien berichteten anschließend von den Geschehnissen. “I think if you weren’t in D.C. that day at that moment, you probably wouldn’t have known that it happened.”

Zur gleichen Zeit gibt es einen anderen Protest: Den AIDS Quilt, der die Namen und Erinnerungsgegenstände von 800 Verstorbenen trug (“Bomber jackets and high school track medals and things that Mom put on that really tell the story of the person”), und schließlich zur Gründung des Ryan White HIV/AIDS Programs führte. Die ACT UP-Mitglieder blieben kritisch: Der Quilt ist ihnen zu schön, zu peaceful und versöhnlich,  er würde die grausame Realität der AIDS Erkrankungen verschleiern. Auch wenn Lulu Miller und Produzentin Tracy Hunt in dieser Folge mit Archivmaterial und historischen Aufnahmen arbeiten, schwingt die Black Lives Matter-Bewegung der letzten Monate im Subtext immer mit: Wie wollen wir protestieren? Friedlich, radikal, zerstörerisch? Braucht es Wut oder Nachsicht, Verständnis oder Unnachgiebigkeit?

Eine andere Folge, die zu meinen all time favorites zählt, ist Elements, die sich dem Periodensystem auf eine besondere Art nähert. Zusammen mit kurzen Gedichten zu Helium, Sauerstoff oder Uranium (überhaupt-nicht-cringy Highlight: “Happy Valentine’s Day Magnesium” von Jason Schneiderman) erzählt die Folge drei Geschichten überlebenswichtiger Elemente. 

Am 14. Februar 2001 steht Jamie Lowe auf einem Dach und macht ihrem Freund Mike Ryan einen Heiratsantrag. Zuvor hat sie an einer Straßenecke gesungen, in einem Glitzer-BH getanzt, Kumquats und Wein gefrühstückt und behauptet, dass sie im Laufe des Tages eine Debatte mit Al Gore, George W. Bush, Ralph Nader und Fidel Castro führen würde – auf MTV. Jamie Lowe ist Bipolar und benötigt jetzt sehr schnell Lithium, das zur Behandlung eingesetzt wird. Produzent Soren Wheeler erzählt den Valentinstag anhand privater Videomitschnitte von Lowe und Ryan nach, lässt Szenen beschreiben, reichert das Material mit kurzen Erklärungen von Psychiater*innen an. Lithium ist ein Atom, das bereits während des Urknalls entstand, und das, in geringen Mengen, in der Natur auftaucht. Es gibt Studien, erfahren wir in der Folge, die den Zusammenhang zwischen Lithiumgehalt im Trinkwasser und verringerter Suizidalität, Kriminalität und Gewalt untersuchen.

Nachdem sie 16 Jahren mit Lithium behandelt wurde, muss Jamie Lowe Abschied von ihrem Element nehmen. Nach langjähriger Therapie sind Schädigungen der Nieren möglich. Vor dem Medikamentenwechsel besucht sie die Lithiumsalzflächen in Bolivien. “I’m grateful to it for its service. I feel like it’s done a lot for me. It worked so hard to get to me too, from the big bang to now.” Die 30 Minuten Lithium haben es in sich. Für mich sind es Momente wie diese, die einen so umfassenden Blick auf ein völlig anderes Leben geben, dass ich erst durch die Moderationen wieder zurückgeholt werden. “Wait … wait … you’re listening? To Radiolab”.

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Sentimentaler Müll: Gespräche über Chick Lit [Podcastkolumne]

von Svenja Reiner

 

Wenn ich an meine Jugend denke, dann vor allem an die Bücher, die ich damals gelesen habe. In unserem Wohnzimmer gab es ein großes Bücherregal, das die Konsalikbände meiner Mutter füllten und deren dramatische Schriftzüge mich ziemlich abschreckten. Ein weiteres Regal stand im Arbeitszimmer meines Vaters. An die rotschwarzen Buchrücken des Modernen Lexikons reihte sich eine Sammlung gebundener Asterixcomics. Weiter oben, kurz vor der Zimmerdecke, lagerten seine Karl May-Bücher, aber nachdem ich beim Abstauben die ersten Sätze gelesen hatte, war ich ziemlich abgetörnt.  Weiterlesen

Der Pionier – ‚This American Life‘ macht das Persönliche politisch [Podcast-Kolumne]

von Svenja Reiner

Ich bin mit der medial geprägten Vorstellung aufgewachsen, dass es sich bei den Tagen vor Weihnachten vor allem um eine romantische und besinnliche Zeit handelt. Glühwein, Weihnachtsmärkte und halb geöffnete Wintermäntel gehören zu den wichtigsten Accessoires einer guten Romcom, in der Schnee nur leise und vor allem so wohldosiert rieselt, dass keine Frisur zerstört und keine Mascara verwischt wird. Bis heute verfolge ich diese Filme mit großer Faszination, obwohl oder weil sie so fürchterlich wenig wie meine eigenen Feiertage aussehen. Der ästhetische Versuchsaufbau von Podcasts hingegen zielt ja eher auf das zynisch rationale Ohr denn auf das verliebte Auge, und folglich ist eine meiner Lieblingsfolgen von This American Life (TAL) die Nummer 47.: Christmas and Commerce. Weiterlesen

Podcast-Kolumne: “Outward“

von Svenja Reiner

 

In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es keine queeren Menschen. Das ist natürlich Unsinn. In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es mit großer Sicherheit queere Menschen, ich wusste es nur nicht.  Auch meine Schule erscheint mir rückblickend als ausschließlich heteronormativer Ort, an dem die meisten Schüler:innen sowieso nicht verpartnert waren und Sexualität, wenn sie denn Thema wurde, weiß, heterosexuell und monogam gedacht war. In der Stadtbibliothek lieh ich dicke Fantasybücher von Kai Meyer oder Philip Pullman aus, im Fernsehen verfolgte ich die Rollen von Wolke Hegenbart (Mein Leben und ich) und Pegah Ferydoni (Türkisch für Anfänger) und selbst wenn ich zu Serien wie The L World oder Buffy geschaltet hätte, bezweifle ich, dass mir Homosexualität, Queerness und Queer Culture nicht doch als etwas diffus Anderes erschienen wären. Weiterlesen