Porträt des Künstlers als Samurai – Über den Gestenmacher Mishima Yukio

von Roman A. Seebeck

 

Der vor fünfzig Jahren verstorbene Mishima Yukio schrieb zwischen Moderne und Antimoderne. Bis heute wird er ebenso verehrt wie geächtet. Doch dieser Schriftsteller entzieht sich dem Griff einseitiger kultureller Vereinnahmungen, wie eine Werkschau dieses Künstlers des Extremen im Zeitalter der Extreme zeigt.

Aufbrüche in die Moderne

Japan, Ende der 1940er Jahre. Eine Gesellschaft formiert sich neu – noch spürt man die Verwüstungen jenes kriegerischen Sturmes, dessen Wind man selbst gesät hat. Der Tennō, gerade noch gottgleicher Kaiser des Reiches, hat seine weltliche Macht abgegeben; unter Aufsicht der amerikanischen Besatzer soll Demokratie gelernt werden. Nach dem Scheitern des nationalistischen Irrwegs versucht das Land einen neuen Aufbruch in die Moderne. In Tokio lebt ein junger Schriftsteller, der den gesellschaftlichen Transformationsprozess in poetische Worte fasst. Seinen bürgerlichen Namen hat er abgelegt, den Künstlername trägt er wie einen gutsitzenden Zweiteiler: Mishima, Yukio

Wie sein Land befindet auch er sich am Scheideweg; die Welt, die er beschreibt, ist die Welt, in der er lebt: Aufgewachsen im überkommenen Wertesystem der Samuraikultur, begehrt er nach dem Neuen und Anderen der fortschreitenden Gegenwart. Mit einem Bein ist er fest in der Vergangenheit verankert, mit dem anderen tastet er sich in die neue Zeit vor. Schnell findet Mishima Anklang bei seinen Zeitgenossen, seine Werke erfreuen sich großer Beliebtheit, das gesellschaftliche Echo ist wohlwollend. Nacht für Nacht spinnt er unermüdlich seinen Textfaden, dabei entsteht ein vielstimmiges Œuvre, das kaum auf einen Begriff zu bringen ist.

Im Schmelztiegel literarischer Traditionen

Mishimas Erfolg fußt auf seiner Adaptationsfährigkeit, in dem Zwischenreich seiner Identität vermag er verschiedenste literarische Strömungen zu vereinen: Er schreibt Theaterstücke für das aristokratische Nō- und das bürgerliche Kabuki-Theater mit westlichen Motiven und verbindet das Genre der Shishōsetsu, der japanischen Gattung der Ich-Erzählung, die für das Spiel mit authentischer Erfahrung und Fiktion steht, mit der Romantradition des kulturellen Westens. In Mishimas Frühwerk überwiegt zunehmend die emphatische Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne gegenüber der fernöstlichen Traditionsverbundenheit. Sein poetisches Programm überschreitet dabei die Grenzen zur Populärkultur, neben den literarisch ambitionierten Werken stehen auch Groschenromane und Drehbücher, Essays und ephemere Texte zu diversen gesellschaftlichen und kulturellen Themen.

Durch seinen Erfolg finanziell gut situiert, bereist er die Welt: Er besucht Europa und die USA und eignet sich den westlichen Kanon an. Die antiken Stoffe faszinieren ihn ebenso wie die Metaphysikbesessenheit der Romantik; eine besondere Leidenschaft hegt er für die deutschsprachige Literatur des Fin de Siècle – Hofmannsthal, Rilke und allen voran Thomas Mann und Nietzsche werden zu prägenden Einflüssen.

Noch mehr Aufmerksamkeit als seine Werke erhält der Autor selbst, der zu einem der ersten großen Medienstars des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg wird. Sein extravagantes, stets leicht distinguiertes Auftreten ist Teil einer akribischen Autorinszenierung, als gefragtes Fotomodel und Filmschauspieler bekleidet er seinen Platz im öffentlichen Bewusstsein. Die Grenzen zwischen Text und Autor, Kunst und Kunstfigur sind bei Mishima fließend.

Die Stimme des Außenseiters

Aus diesem Frühwerk ragen zwei Romane heraus, die exemplarisch das Sujet der Identitätssuche und Transformation verarbeiten. Da wäre zunächst der 1949 erschienene Roman Bekenntnisse einer Maske, der 2018 von Nora Bierich erstmals direkt ins Deutsche übersetzt wurde und der den Durchbruch für den jungen Autor bedeutete. In einer luziden und entblößenden Sprache wird hier das Psychogramm des jungen Kochan entfaltet, der in fragmentarischen Erinnerungssequenzen über seine gesellschaftliche und vor allem sexuelle Sozialisation erzählend reflektiert. Dabei lotet er mit nahezu wissenschaftlicher Präzision sexuelle und verhaltenspsychologische Abgründe aus. Kochan ist ein kränklich-sensibler, künstlerisch veranlagter Außenseiter, der, mit feiner Beobachtungsgabe ausgestattet, von den Rändern verschiedener sozialer Konstellationen – der Familie, der Schule, des Militärs – seinen mühseligen Weg ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens geht. Ursprung seiner Isolierung ist sein libertär veranlagtes, mitunter in gewaltsame Perversionen abgleitendes homosexuelles Begehren, ein gesellschaftliches Tabu, das in für die Zeit schockierender Offenheit geschildert wird:

Mein von Träumen bestimmtes Leben laugte mich aus, doch es stählte und kräftigte meine Einbildungskraft. Ich kannte die Werke des Marquis de Sade zwar noch nicht, aber ich baute mir unter dem unvergesslichen Eindruck, den die Beschreibung des Kolosseums in Quo Vadis hinterlassen hatte, mein eigenes Mordtheater. Nur zu meinem Vergnügen opferten dort junge römische Gladiatoren ihr Leben … Das Opfer musste lange, traurige und herzerweichende Schreie ausstoßen, die mich die unbeschreibliche Einsamkeit menschlicher Existenz spüren ließen.

Kochans Jugend in der frühen Shōwa-Zeit unmittelbar vor und während des 2. Weltkriegs konfrontiert ihn mit einer rigiden Gesellschaftsordnung, in der eine Erfüllung seiner sexuellen Bedürfnisse undenkbar ist. In erdrückenden Konventionen gefangen, scheint der einzige Ausweg darin zu bestehen, sich mit großer Akribie eine zweite Persönlichkeit zuzulegen; Kochan beobachtet das zwischenmenschliche und sexuelle Verhalten seiner Mitschüler und konsultiert die Klassiker der Literatur, um zu verstehen, „wie Menschen meines Alters ihr Leben empfanden und wie sie miteinander sprachen“.

Maskierte Maskulinität

Das Leitmotiv des Romans ist die Maske, die Kochans Prozess der gesellschaftlichen Anpassung verbildlicht. Die Leser*innen werden Zeug*innen eines Parforceritts der, mit Kochans Worten, „ständigen Inszenierung“ normativer Maskulinität. Ob in der Schule, beim Militär oder in der Begegnung mit Frauen: Kochan bemüht sich um ein an soldatischen Maßstäben ausgerichtetes Männlichkeitsideal, das jedoch stets durch Selbstzweifel und auflodernde Begierden konterkariert wird. Mit männlichen Körpern konfrontiert, vermag Kochan seine Sexualität nicht mehr zu sublimieren:

In diesem Moment zerbrach etwas in meinem Innern mit brutaler Gewalt. Es war, als hätte ein Blitz einen lebenden Baum gespalten. Ich hörte, wie das Gebäude, das ich mit all meiner Kraft so mühsam errichtet hatte, kläglich in sich zusammenstürzte. Es war, als sähe ich meine Existenz zu einem furchterregenden Nichts zerrinnen. Ich kniff die Augen zusammen, doch schon im nächsten Moment besann ich mich eiskalt auf mein Pflichtgefühl.

Durch jede Zeile dieser Prosa dringt die klare Einsicht, dass der ‚Held‘ dieser Zeit nicht mehr der patriotische Soldat als reinkarnierter Samurai ist, sondern das fragile Subjekt, das sich unter den überkommenen gesellschaftlichen Schablonen leidend windet. Während Kochan sich mühsam die Überzeugung abringt, dass ein heroischer Tod auf dem Schlachtfeld ein erstrebenswertes Lebensziel sei, entlarvt sein innerer Lebenstrieb die ihn fesselnden gesellschaftlichen Ideale als Phantome eines dekadenten Zeitalters. Und natürlich scheitert Kochans Strategie: Unausweichlich drängt sich ihm auf, dass er nicht seine Umwelt, sondern sich selbst getäuscht hat, dass seine Mimesis des Lebens der Anderen ihn nie zu diesem Leben führen wird, sondern die verhasste Differenz lediglich perpetuiert.

Begehren und Radikalisierung

Das zweite Werk heißt Der Goldene Pavillon, erschien 1956 und wurde 2020 von Ursula Gräfe neu übersetzt. Der Roman weist einige strukturelle und thematische Ähnlichkeiten zu den Bekenntnissen auf: Der Plot ist erneut im Japan an der Wende von Krieg- und Nachkriegszeit situiert und die Form ist ebenfalls eine Mischung aus Shishōsetsu und Bildungsroman. Die Hauptfigur, der stotternde Mizoguchi, ist wie Kochan eine gesellschaftliche Randfigur, wieder zeichnet Mishima das Psychogramm einer fragilen Existenz. Der krisenhafte Subjektivierungsprozess der Figur wird von zwei unterschiedlichen Polen gesteuert, während er zum einen als Novize eines Zen-Klosters den strengen Strukturen der dort geltenden buddhistischen Lehre unterwiesen wird, protegiert ihn zum anderen der nihilistische Student Kashiwagi, der ihn, nicht ohne manipulativen Unterton, in moralischen und sexuellen Fragen unterweist.

Auch Mizoguchi wird vom Begehren gesteuert, doch anders als bei Kochan richtet es sich weniger auf das Körperliche als auf das Ästhetische. Das libidinös besetzte Objekt ist der goldene Pavillon des Zen-Klosters, der Kinkaku-ji, ein Relikt aus der Zeit des Ashikaga-Shōgunats und nationales Heiligtum:

Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, die erste wahre Schwierigkeit, auf die ich in meinem Leben stieß, war die Schönheit. Mein Vater war nur ein einfacher Priester vom Land, seine Sprache war begrenzt, und er hatte mir lediglich beigebracht, dass es ‘auf der ganzen Welt nichts Schöneres’ gab als den Goldenen Pavillon. Bei dem Gedanken, dass diese Schönheit an einem mir unbekannten Ort existierte, konnte ich mich der Unzufriedenheit und Unruhe nicht erwehren. Wenn die Schönheit sich wirklich dort befand, war mein ganzes Sein von ihr ausgeschlossen.

Der rauschhafte Wille zum Leben

Mizoguchi ist fasziniert von der betörenden Schönheit des Pavillons und fühlt sich gleichzeitig von ihr zurückgestoßen. Die Obsession der Figur wird zunehmend mit Wut und Verzweiflung gepaart, in ihm gewinnt der Wunsch nach Befreiung Kontur, Befreiung aus dem Korsett des Klosterlebens, Befreiung vom faustischen Kashiwagi, Befreiung von der erniedrigenden Schönheit des Pavillons. Mizoguchi entsagt schließlich dieser einengenden Welt, indem er sie zerstört: nachts schleicht er sich in den Pavillon und steckt ihn in Brand.

Der Roman ist eine Parabel auf die Irrwege der Radikalisierung, die der Mensch im Ringen um Autonomie, Erlösung und Wiedergeburt zu bestreiten im Stande ist. Dabei fürchten Mishimas Figuren den Ausbruch aus den beherrschenden Strukturen ebenso sehr, wie sie ihn herbeisehnen, denn die Befreiung geht einher mit der Entfesselung des Subjekts und mit ihr sein Untergang in Rausch, Chaos und Zerstörung. In diesem Sinne ist Mishima ganz ein Schüler Thomas Manns: Der Wille zum Leben ist ein Spiel mit dem Feuer.

Rückzug in die Antimoderne

In den 1960er Jahren ist Mishima auf dem Weg zum modernen Klassiker. Er gehört zu den kanonischen Autoren der Nachkriegsliteratur und wird für den Nobelpreis gehandelt. Doch während Japan sich immer stärker westlichen Einflüssen öffnet, zeigt Mishima zunehmend regressive, antimoderne Tendenzen. Die Transformationen, die er in seinem Frühwerk noch reflektiert skizziert, werden nun von ihm selbst performativ durchlaufen, allen voran der Irrweg der Radikalisierung. Mishima huldigt fortan einem rigiden Körperkult, betreibt Body Building und Kampfsport, identifiziert sich immer stärker mit kulturkonservativen Strömungen. Er gründet seine eigene paramilitärische Einheit, den „Schilderbund“, für den er junge Studenten rekrutiert, die den linksliberalen Bewegungen an den Universitäten feindlich gegenüberstehen. Seine kruden, neofaschistischen Vorstellungen von Körperlichkeit und Transzendenz finden in den Essays Sonne und Stahl und Zu einer Ethik der Tat Niederschlag. Über das Hagakure, den Codex der Samurai schreibt er: 

Gleichzeitig hatte ich, der ich den vom ‘Hagakure’ gescholtenen Weg der ‘Künste’ ging, wieder und wieder unter dem Konflikt zwischen der Ethik der Tat und meiner Kunst zu leiden. Der seit langem gehegte Verdacht, in der Literatur sei etwas Feiges, Unredliches Verborgen, trat jetzt offen zutage. Und wenn ich die Vorstellung vom ‘Doppelten Weg von Gelehrsamkeit und Kriegertum’ verstärkt für notwendig zu erachten begann, so geschah das im Grunde unter dem Einfluß des ‘Hagakure’. Gewiß, es gibt nichts, daß sich so leicht dahinsagt und so schwer ausführbar ist wie der ‘Doppelte Weg von Gelehrsamkeit und Kriegertum’, ich weiß das sehr wohl; dennoch  – und auch das verdanke ich dem ‘Hagakure’ – machte ich mir klar, daß ich nur hierin die Rechtfertigung fände für meine Existenz als Künstler.

Längst ist Mishimas Vorstellung des Seppuku, des ehrenvollen Selbstmords des Samurai, zum Telos seines Schaffens geworden. Während die Figuren des Frühwerks zwar mit dem Tod kokettieren, sich dann jedoch fürs Leben entscheiden, bilden im Spätwerk Tod und Vergänglichkeit den zentralen Motivkomplex. Dafür wendet sich Mishima zunehmend historischen Stoffen zu. Die Erzählung Patriotismus (1960) ist während des Ni Ni-Roku Jiken angesiedelt, einem gescheiterten Putschversuch junger Soldaten am 26. Februar 1936. Porträtiert wird ein Leutnant der kaiserlichen Armee, der sich mit den meuternden Soldaten verbunden fühlt, jedoch den Befehl erhält, sie zu unterwerfen. Um sich seinem moralischen Konflikt zwischen Zuneigung und Befehlstreue zu entziehen, begeht er gemeinsam mit seiner Frau rituellen Selbstmord. Die Erzählung wurde später mit Mishima selbst in der Rolle des Leutnants verfilmt.

Dualität von Schreiben und Handeln

Einen Eindruck dieses zwischen Lässigkeit und Härte changierenden Autors vermittelt eine ikonische Photographie des Amerikaners Eliott Erwitt, der Mishima 1970 an seinem Tokioter Arbeitsplatz porträtierte. Erwitt zeigt ihn vor seinem von Arbeitsmaterialien überquellenden Schreibtisch, im Hintergrund das nicht weniger überfüllte, bis unter die Decke reichende Bücherregal. Davor Mishima im Dandylook: weiße Flanellhosen, das kurzärmelige Hemd bis zur Brust aufgeknöpft, deutet in James Dean’scher Attitüde einen durchtrainierten Körper an. Im Mundwinkel lässig umspielend eine Zigarette. Diese ostentativen Insignien westlich-intellektueller Maskulinität werden begleitet von einer Geste, in der das spezifische Kunstverständnis des Autors pointiert zum Ausdruck kommt. Den Blick nach unten gerichtet, zieht Mishima ein Katana, ein traditionelles Samuraischwert, aus einer Scheide und trennt dabei sinnbildlich die Komposition in zwei Teile. Hier trifft die westlich geprägte Kultur der Selbstinszenierung als Man of Letters auf die Ästhetisierung japanischer Kriegerkultur und deren Tradition. Das Schreibzeug dieses Autors, so die archaische Geste, ist sein Schwert.

Und von diesem macht er schließlich Gebrauch. Am Morgen des 25. November 1970 verschafft sich Mishima, in Uniform und mit einem Samuraischwert bewaffnet, Zugang zum Tokioter Hauptquartier der japanischen Selbstverteidigungstruppen. Begleitet wird er bei diesem Unternehmen von mehreren Mitgliedern seiner Miliz. Sie nehmen den diensthabenden General als Geisel und lassen die stationierten Soldaten im Innenhof aufmarschieren, damit Mishima von einem Balkon aus seine politischen Forderungen deklamieren kann. Diese sind unerhört: die Rekonstituierung des Kaisers (Tennō) als politisches Staatsoberhaupt fordert er ebenso wie die Abschaffung des 9. Artikels der Verfassung, der Japan eine vollständige Remilitarisierung und Beteiligung an Kriegshandlungen untersagt. Natürlich gerät der absurde Coup d’état zur Farce; die Soldaten beschimpfen und verhöhnen den fehlgeleiteten Autor. Gedemütigt wendet Mishima sich ab und verübt zusammen mit einem seiner Gefolgsleute Seppuku.

Polarisierung und Sinnstiftung

Mishimas Tat war ein gesellschaftlicher Affront, der das Land weit über die kulturelle Sphäre hinaus in einen tiefen Schock versetzte. So richtig ernst hatte das militärische Gebaren bis dahin niemand genommen, sein Insistieren auf einer in der Samuraikultur wurzelnden Dualität von Schreiben und Handeln wurde lediglich als künstlerische Pose gedeutet. Die Spekulationen über die genauen Umstände und die Bedeutung von Mishimas Handeln verstummen bis heute nicht. Für die einen steht sein Suizid im Kontext der rechtskonservativen Gratwanderung des Autors, die ihm noch immer große Verehrung bei nationalistischen Gruppierungen einbringt. Für die anderen hat die Tat vielmehr einen dezidiert ästhetischen Charakter: Sie sei die Konsequenz seines künstlerischen Selbstverständnisses, eine leibhafte Vollendung der Motive, die in seinem Werk präfiguriert, also eine Infragestellung der Grenzziehung zwischen literarischer und performativer Kunst.

Zu den bekanntesten Opponenten des Mishima-Kults zählt Haruki Murakami, dessen Texte in der liberalisierten Ära der 1960er und 1970er Jahre wurzeln und der sich dazu bekannte, eine „eine richtige Allergie“ gegen Mishimas eskapistisches Gewaltpathos zu haben. Dabei lässt ausgerechnet Murakami die Handlung seines Romans Wilde Schafsjagd „genau an jenem merkwürdigen Nachmittag des 25. November 1970“ spielen. Während in der Eröffnungsszene die beiden Hauptfiguren über die Fragilität der Jugend und den frühen Tod sinnieren, wird im Fernseher über Mishima berichtet. Murakamis Auseinandersetzung, das Changieren zwischen literarischer Verbundenheit und offener Ablehnung ist repräsentativ für den Umgang gegenwärtiger japanischer Schriftsteller*innen mit dem Skandalautor. Indem Murakami sich jedoch durch seinen emanzipatorischen Gestus zum Antipoden Mishimas stilisiert, führt er dem Literaturbetrieb ungewollt den herausragenden Einfluss Mishimas auf die japanische Gegenwartsliteratur vor Augen. Man kann Mishima mit Aversion begegnen oder ihn auch kunstreligiös überhöhen – sich ihm zu entziehen, vermögen nur die Wenigsten.

Verwischung der Sinnspuren

Wie sich einen Reim machen auf diesen disparaten Lebenslauf, auf die verschiedenen, sich über- und durchkreuzenden poetischen Pfade? Im Ringen um den Nachruhm ist noch keine endgültige Entscheidung gefallen. Und überhaupt, scheint es doch gerade so zu sein, dass Mishima diesen literaturgeschichtlichen Schablonen nie in Gänze entspricht. Vielmehr trifft auf ihn zu, was Roland Barthes über den „Gestenmacher“ geschrieben hat. Dieser Künstlertyp „will einen Effekt erzeugen und will es gleichzeitig nicht; … so wird in der Geste die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung, Motivation und Zielrichtung, Ausdruck und Überredung aufgehoben. Die Geste des Künstlers – oder der Künstler als Geste – sprengt die Kausalkette der Taten nicht, … aber sie verwischt sie, sie wirft sie immer wieder aus, bis ihr Sinn verloren geht. Im (japanischen) Zen nennt man diesen jähen (mitunter sehr zarten) Bruch unserer Kausallogik Satori.“

Diese Bejahung des Dissonanten, Disparaten und Divergenten ist vor allem in den literarischen Texten vorgezeichnet. Dies zeigt ein letzter Seitenblick auf die Bekenntnisse einer Maske. Denn hinter Mishimas Darstellung der gesellschaftlichen Negierung der Hauptfigur verbirgt sich eine radikale Affirmation der Vielfalt dieses zersplitterten Subjekts. Indem Mishima Kochans Pendeln zwischen Außenseitertum und Integration, Krankheit und Gesundheit, sexueller Perversion und emotionaler Hingabe, Todessehnsucht und Lebenswille, oder, mit Thomas Mann gesprochen, dionysischem Rausch und apollinischer Strenge darstellt, kritisiert er gesellschaftliche Mechanismen, die das menschliche Subjekt in seiner Komplexität beschneiden. Kochans Scheitern daran, diese Widersprüche in eine einheitliche Form zu gießen, ist das Programm des Romans. Dabei ist das Besondere, dass die Figur selbst – konträr zum zeitgenössischen Diskurs – ihre Kontradiktion nicht ausschließlich als Mangel wahrnimmt, sondern zu verstehen versucht.

Kochans monologische Ergründung seiner persönlichen Disposition wird daher durch verschiedene intertextuelle Stimmen, literarische wie wissenschaftliche Klassiker von Oscar Wilde über Sigmund Freud bis Magnus Hirschfeld, ergänzt. Es ist nicht verwunderlich, dass sich auch Walt Whitman darunter befindet, der wie kein zweiter die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz poetisiert. Seine berühmten Verse in Song of Myself – „Do I contradict myself? / Very well then I contradict myself, / (I am large, I contain multitudes)“ – lesen sich wie die Signatur des Romans. Was durch die Form der Shishōsetsu als individuelle, spezifisch-biographische Konstellation getarnt wird, entpuppt sich als universeller literarischer Erfahrungsraum. Kochans kritische Subjektergründung ist keine spezifisch japanische Tragödie, sondern eine anthropologische Erfahrung.

Mishima, ein Autor des Extremen, ein Autor des Komplexen. Er schafft fruchtbare Irritation. Und wird gerade deswegen (unangenehm) bleiben.

 

Beitragsbild von Elisha Terada

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