von Milosh Lieth
Im August vergangenen Jahres, die Taliban feierten gerade die Besetzung Kabuls, stellte sich US-Präsident Joe Biden nicht bloß gut ausgeleuchtet in die Scheinwerfer internationaler Nachrichtensender, sondern politrhetorisch auch in die Tradition seines Vorgängers: „American troops can not and should not be fighting in a war and dying in a war, that Afghan forces are not willing to fight for themselves.” Während die deutsche Regierung transatlantische Bündnistreue durch Schweigen demonstrierte, konnte, wer nur wollte und den entsprechenden Text zur Hand hatte, aus Biden Fontane sprechen hören:
Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Kabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.
Wie Bidens Statement handelt auch Fontanes Ballade Das Trauerspiel von Afghanistan (1859) von einer Niederlage im Rückzug: Am Dreikönigstag 1842 wurde der aus Kabul abziehende Tross des British Empire von afghanischen Kämpfern überfallen, Scheitelpunkt des ersten anglo-afghanischen Kriegs. Interessanter als dieser historische Vergleich noch ist aber der vergleichbare ideelle Hintergrund der Äußerung: die Vorstellung vom fernen Land Afghanistan, wo Verfechtern des Westens gerade aufgrund der scheinbaren moralischen wie patriotischen Unterlegenheit der Fremden Tod und Verdammnis beschieden ist. Stehen sich bei Fontane die gesichtslose Kriegsmaschine der Afghanen und die edle Besorgnis der Briten um ihre Landsleute gegenüber, – „sie bliesen die Nacht und über den Tag/ laut wie nur die Liebe rufen mag“ – so ist es bei Biden der amerikanische Heldentod auf der einen, die kolportierte Feigheit der ANSF (Afghan National Security Forces) auf der anderen Seite.
Das Trauerspiel Fontanes stellt im deutschsprachigen Raum die wohl erste literarische Auseinandersetzung mit Afghanistan dar. Vor ihm hatte sich Friedrich Rückert mit der paschtunischen Sprache beschäftigt; August Graf von Platen verfasste das Gedicht Die Abbassiden (1830) über das namensgebende islamische Imperium, in dessen Peripherie weite Teile des heutigen Afghanistans lagen. Dass alle diese Annäherungen in das 19. Jahrhundert fallen, ist aus zweierlei Gründen plausibel: So hat das moderne Afghanistan sein Profil erst mit der Errichtung des Durrani-Reichs 1747 unter Ahmad Schah gewonnen und Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge kolonialer Grenzabkommen wie dem Durand-Vertrag (1893) zu gegenwärtiger Gestalt finden müssen. Reisende, die etwa im 17. Jahrhundert das Mogulreich und damit die östlichen Ränder des heutigen Afghanistans erkundeten und darüber berichteten, wie Johann Albrecht von Mandelso in seiner Morgenländischen Reyse-Beschreibung (1658), haben also kaum von diesem Land in seiner nationalstaatlichen Vor- und Ausprägung geschrieben. Bedenkt man zweitens, dass sich die intensive Beschäftigung deutschsprachiger Autor:innen mit dem ‚Orient‘ im gleichen Jahrhundert Bahn brach, in der Fontane das Trauerspiel schrieb, wird man noch weniger von einer verspäteten Afghanistan-Rezeption innerhalb der deutschen Literatur sprechen können.
Fontane hat sich also in dieser Epoche des Realismus, der man – nicht immer zurecht – einen gewissen Hang zur Nabelschau nachgesagt hat, erstmals Afghanistan zugewendet; einem Land, dessen Geschichte sich mit der Deutschlands und Europas noch häufiger kreuzen würde, auch literarisch.
Deutscher Dschihad in Kabul
Eine dieser Kreuzungen ergab sich, als der Oberleutnant seiner Kaiserlichen Majestät Oskar von Niedermayer 1915 in Kabul eintraf, um den afghanischen Emir Habibullah I. zu überreden, in den Dschihad zu ziehen. Der Heilige Krieg war vom türkischen Sultan ausgerufen worden und hatte zum Ziel, Afghanistan im Ersten Weltkrieg an der Seite der Mittelmächte zu positionieren. In einem Ton, der an die Abenteuerromane eines Karl May erinnert und voll irritierender Faszination für Land und Leute ist, beschreibt Niedermayer diese letztlich erfolglose Tour de Force in seinen Reise- und Expeditionsberichten Meine Rückkehr aus Afghanistan (1918) und Unter der Glutsonne Irans (1925). Dass der Orientalist Niedermayer das Land dabei im Namen der eigenen Sache zu verzwecken suchte, mag man ihm großzügig als Epochenschicksal auslegen, eine kritische Reflexion des eigenen Handelns findet sich bei ihm jedoch nicht.
Hatte die Expedition ihr eigentliches Ziel verfehlt, so markiert sie doch den Beginn diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan. Wachsendes, teils exotistisches Interesse der deutschen Öffentlichkeit gegenüber orientalisierten Ländern im Allgemeinen, gegenüber dem Land am Hindukusch im Besonderen entfaltete auch im literarischen Feld Effekte. So schrieb Robert Wilhelm Horn unter dem Pseudonym F. R. Nord seinen Abenteuerroman Ker-Ali (1920), in dem sich der deutsche Ingenieur Nord einer Gruppe rebellischer Kafiren unter der Führung Soleidja Khans anschließt, um gegen den afghanischen Emir ‘Abdur Rahman zu opponieren. Dieser hatte sich nach Abschluss des Durand-Vertrags daran gemacht, das nordöstliche Kafiristan seiner Herrschaft zu unterwerfen. Wie schon Fontane zoomt auch Horn in der Auswahl seines historischen Materials auf afghanische Gewalt und belässt insbesondere die Verbrechen des British Empire in größter Unschärfe.
Zum Ende des Abenteuers stehen Nord und Soleidja Khan kurz davor, eine friedliche Integration Kafiristans in das Emirat zu erwirken. Doch der Afghane Ker-Ali, der an ihrer Seite kämpfte, verweigert sich im entscheidenden Augenblick einer diplomatischen Lösung, was den Europäer Merton zu der Erklärung inspiriert, man habe es bei ihm und seinen orientalischen Parteigängern schließlich „nicht mit denkenden, sondern mit fühlenden Menschen zu tun“. Blindwütig, wie es in seiner afghanischen Natur liege, enthauptet Ker-Ali Soleidja Khan, der sich für eine friedliche Lösung unter ‘Abdur Rahmans Sohn Habibullah einsetzte. Die Botschaft an die deutschen Leser:innen: Der Afghane sitzt nicht am Verhandlungstisch, er sitzt im Sattel und schwingt das Kriegsbeil.
Noch zu Zeiten des Nationalsozialismus folgten weitere Romane wie Heinz Gecks Sturm über dem Khaiberpaß (1937) und Ernst Friedrich Löhndorffs Khaiberpaß (1941). Über letzteren sei immerhin bemerkt, dass, wenngleich Löhndorff jedes nur denkbare orientalistische Klischee bedient, dieser Roman, erschienen 1941 in Bremen, jedenfalls seinem Anspruch nach „Brücken bauen“ will „zwischen euch und fernen Ländern und Menschen.“
Steffen Kopetzky hat sich der Niedermayer-Hentig-Expedition in seinem Historienroman Risiko (2015) angenommen. Die Schwierigkeiten, denen sich die deutschen Emissäre in Kabul ausgesetzt sehen, rühren in Kopetzkys Deutung daher, dass in der Operation, entworfen am Berliner Reißbrett, den Afghanen nie der Status historisch handelnder Subjekte zugekommen ist. Im pickelhäubigen Reichskolonialamt handelt man sie als Opfer des britischen Kolonialismus und der Feind eines Feindes müsse ja Freund sein: Die Mission ist ihrer gesamten Architektur nach grundiert von einem Kalkül, dass die Afghanen als bloß abhängige Größe missversteht, deren Hoffen und Bangen ganz auf die Ankunft eines white savior ausgerichtet sei.
Im kontrafaktischen Schluss seines Romans – der Erste Weltkrieg endet hier mit einem Frieden von Verdun 1916 – schildert Kopetzky eine afghanische Selbstermächtigung, die den Einfluss des British Empire tilgt und die afghanische Bevölkerung eint. Insofern weist Kopetzkys Roman über die Geschichte, die er bebildert, hinaus: Denn eine solche afghanische Einheitsbewegung, der es gelungen wäre, den multiethnischen Konflikt im Land beizulegen und sich nachhaltig von den diversen externen Hegemonialkonflikten auf afghanischem Boden zu emanzipieren, hat es bis heute nicht gegeben. Es sind, so kann man Kopetzky verstehen, die langen Schatten des 19. Jahrhunderts, die seitdem immer wieder auf offene Wege gefallen sind.
Auf offenen Wegen
Und offene Wege hat es gegeben. Im Jahr 1939, wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, fährt ein 18-PS-starker Ford Roadster Deluxe mit Schweizer Kennzeichen durch die Weite des afghanischen Landes. Der Wagen stammt aus Genf und hat auf seiner Reise den Balkan und Istanbul durchquert, sich über das Ararathochland geschleppt und in Teheran, danach in Meshed Station gemacht. Am Steuer sitzt Annemarie Schwarzenbach, neben ihr Ella Maillart. Als vielleicht erste Frauen befahren sie die Nordroute von Herat nach Kabul. Dabei fotografieren, filmen und schreiben sie.
Schwarzenbach hat über diese Reise etwa achtzig Zeitungsartikel und Fotoreportagen verfasst, von denen eine Auswahl im Band Alle Wege sind offen – Die Reise nach Afghanistan 1939/1940 gemeinsam mit 50 ihrer Fotografien vorliegt. Sie findet ein Land vor, das sich zwischen Tradition und Modernisierung in einer Art historischem Patt befindet. In ihrem Nachdenken über dieses stationäre Unentschieden schwingen Ambivalenzen mit, die noch im Zusammenhang mit dem Einsatz internationaler Streitkräfte in Afghanistan wieder und wieder diskutiert worden sind: Inwiefern der Westen das Recht besitzt, seine universalistischen Versprechen in einer anderen Kultur durchzusetzen, wenn er selbst Probleme hat, sie einzuhalten:
Es ist eine gewisse Tragik in diesem Problem des Fortschritts, wie man ihn gegenwärtig in Afghanistan am Werk sieht. Leise nur regt sich die Hoffnung und zugleich der Zweifel, ob es in diesem unabhängigen Land zwischen Indien und den asiatischen Republiken der Sowjetunion nicht am Ende gegen alle Entwicklungsgesetze doch möglich sei, die alten Tugenden der Afghanen mit jenen unvermeidlichen Neuerungen zu verbinden, die dem Westen trotz ihrer Übel stets noch den Schein einer Vormachtstellung geben.
Ähnliches hatte auch Herbert Tichy 1935 in Kabul wahrgenommen. In seinem Reisebericht Zum Heiligsten Berg der Welt – Auf Landstrassen und Pilgerfahrten in Afghanistan, Indien und Tibet (1937) erzählt er von jenen Tagen, in denen er sowohl Zeuge des Buzkaschi, des traditionellen afghanischen Reiterspiels wie auch einer Partie Volleyball zwischen Kabuler Studenten wurde. Das friedliche Nebeneinander beider Sportereignisse, das eine an das nomadische Gepräge des Landes erinnernd, das andere Symptom seiner Öffnung, kann durchaus als Miniatur jenes Patts gelesen werden, das Schwarzenbach vier Jahre später beschreiben sollte. In ihren Artikeln diskutiert sie ferner den Tschador der afghanischen Frauen auf einem Niveau, das eine Bereicherung für jede zeitgenössische Debatte wäre; und wirft einen Blick auf die Zukunft dieses Landes, der von fast prophetischer Akkuratesse war:
‘In wenigen Stunden kann die russische Armee hier sein‘, sagte mir ein afghanischer Beamter, der vom Krieg in Europa gehört und sich begreiflicherweise Sorgen machte: Warum sollten die Russen nicht Afghanisch-Turkestan ihren asiatischen Ländern angliedern […]? Wer würde sie aufhalten, zwischen dem Amu-Darja und dem Hindukusch?
In Kabul kifft ein deutscher Terrorist
Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern, aber das 20. Jahrhundert hielt auch auf diese Fragen eine Antwort bereit. Eine krakelige Linie führt von jenem Zustand Afghanistans, das Schwarzenbach und Maillart bereisten, zum Staatsstreich der Khalq-Gruppierung 1978, die Reformen nach sowjetischem Vorbild an der Bevölkerung vorbei beschloss, vor allem aber totalitär gegen jede politische Opposition durchgriff. Nicht zuletzt um das Regime gegen den aufkeimenden Widerstand abzusichern, besetzte die Sowjetunion in den Weihnachtstagen 1979 das Land. Inmitten dieser chaotischen Verhältnisse, an denen sich der Kalte Krieg erneut entzünden sollte: der deutsche Terrorist Michael, genannt „Bommi“, Baumann auf seiner Flucht vor dem BKA.
Gesucht wegen terroristischer Aktivitäten in der „Bewegung 2. Juni“ hielt sich Baumann zwischen 1972 und 1979 mehrmals in Afghanistan auf. Einige Jahre später schrieb er den Reise- und Fluchtbericht Hi Ho – Wer nicht weggeht, kommt nicht wieder (1987). Sein Afghanistan-Bild ist von einem Orientalismus unter umgekehrten Vorzeichen geprägt: War ihm Teheran schon im westlichen Sinne zu modern („Das hatte mit Orient nicht mehr viel zu tun“), findet er hier das unberührte ‚Andere‘: „Afghanistan, das ist, als wenn du in eine andere Welt eintrittst. […] Du verlässt den Westen endgültig.“ Damit bietet dieses Land Baumann zwei Vorteile: erstens die Abwesenheit des BKAs, zweitens die freie Verfügbarkeit von billigem Gras. Dass das Kabul der 70er-Jahre längst zum Zentrum einer Hippie-Sternfahrt geworden war und dass er selbst das fortsetzte, was er kritisierte, nämlich die vermeintliche Reinheit eines Orientbildes durch sein okzidentales Da-Sein zu stören, stellt Baumann allenfalls oberflächlich fest. Erst der Einmarsch der Sowjets beendet Baumanns orientalistische Träume aus Tausendundeiner Nacht:
Seitdem bin ich nie wieder in Afghanistan gewesen. Das hat mir gereicht. Selbst wenn der Krieg irgendwann vorbei ist, das wird nie wieder, wie es früher war, da ist zuviel kaputtgegangen. Das wird nie mehr so eine ruhige Atmosphäre haben. Das ist vorbei. Es sind ja Weiße gewesen, die ihr Land vernichtet haben.
Die Weißen, das sind immer die anderen.
Im Unaussprechlichen verbunden
In jenen Jahren spielt auch Mariam Kühsel-Hussainis Roman Gott im Reiskorn (2010), der die Geschichte einer afghanischen Familie vor und nach der sowjetischen Invasion bis zu ihrer Flucht nach Deutschland schildert, angelehnt an die Erlebnisse ihrer eigenen Familie. In den 1960er Jahre, inmitten des „Goldenen Zeitalters“ Afghanistans, reist der deutsche Kunsthistoriker Jakob Benta nach Kabul, wo ein ehemaliger Studienfreund gestorben ist. Er wird aufgenommen von Sayed Mohammed Da’ud Hussaini, Kalligraph des letzten afghanischen Königs Zahir Schah und Familienoberhaupt der Hussainis. Der erste Kontakt Bentas mit der afghanischen Familie und Kultur ist geprägt von Verachtung und Geringschätzung. Beides weicht allerdings bald Neugierde, bald Hingabe, denn Benta offenbaren sich Spuren des Eigenen im Fremden. So begegnen ihm in Da’uds erster Frau und Kind „Della Robbias Mariendarstellungen“, in der Stimme Shirins, Da’uds zweiter Frau, „Bellini […] Donizetti, […] Europa“. Entscheidend ist, dass sich die west-östliche Annäherung nicht im Medium der Sprache vollzieht. Da’ud und Benta können sich unterhalten, auf Englisch, allein es kommt zu keiner Verständigung. Erst in den Sphären des Unaussprechlichen, jenen der Kunst, der Schönheit, entsteht so etwas wie Nähe, Zartheit, Transparenz für den anderen, die keine Verständigung bedeutet, vielleicht aber ein Lächeln über die Ähnlichkeit ästhetischen Fühlens.
In einer Schlüsselszene fahren Rafat, Da’uds Sohn, seine Freunde und Benta in das Tal von Bamiyan, zu den Füßen der Buddha-Statuen. Unerwähnt spukt doch deutlich ihre spätere Zerstörung durch die Taliban in dieser malerischen Szenerie. Es kommt hier zu einem Dichterwettstreit, Rafat und seine Freunde zitieren aus den persischsprachigen Gedichten Mirza Abdul Qader-e Bedels und Benta, der kein Wort versteht, fühlt sich ihnen doch verbunden: „Ein gemeinsames, höchstes, allein aus Metaphern bestehendes Gelüst würde sie nun auf ewig miteinander verbinden.“ Kontrastiert wird hier nicht der Westen und die Taliban als vermeintliche Repräsentanten eines barbarischen Orients. Der unausgesprochenen Zerstörungswut und Kulturfeindlichkeit der Taliban steht stattdessen in Rafat und Benta eine transkulturelle Solidargemeinschaft im Namen der Kunst und Poesie gegenüber. Die Szene erfährt gegenwärtig eine traurige Aktualisierung, wenn man an Berichte wie jene Karen Krügers in der FAZ (Nachtigall gegen Taliban, 19.12.21) denkt, die von der Austrocknung des afghanischen Buchmarkts durch die zurückgekehrten Taliban berichtete.
Ganz ähnlich wie Kühsel-Hussaini hatte Manfred Peter Heine die Oppositionen in seinem Gedicht Gegenstrophe (2001) inszeniert, geschrieben am Vorabend der Sprengungen:
Am Buddhafels brüllt
das Geschütz der Taliban
die Gegenstrophe
Pulverisierter Buddha
Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan – zwei Romane
Unter dem Eindruck der Konsolidierung des kommunistischen Regimes flüchtete die Familie Hussaini über Delhi nach Deutschland. Rafat, Mariam Kühsel-Hussainis Vater, der an der deutschen Fremde ebenso wie an der Abwärtsspirale seines Landes leidet, verfolgt die Ereignisse fortan im Fernsehen: Im Windschatten der Perestroika stürzten die von amerikanischen und pakistanischen Geldern finanzierten Mudschaheddin 1992 mit Najibullah den letzten kommunistischen Präsidenten des Landes, um ihrerseits vier Jahre später, 1996, von den Taliban vertrieben zu werden. Es folgte, was bekannt ist.
Dass sich die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts allenfalls sporadisch mit Afghanistan auseinandergesetzt hat, ist noch begreiflich. Dass die literarische Produktion infolge des ersten NATO-Bündnisfalls der Geschichte aber „recht spät und verhältnismäßig zaghaft“ (Stefan Hermes) einsetzte, ist wiederum – sehr zuvorkommend – „mau“ (Gerrit Bartels). Überhaupt haben sich deutschsprachige Autor:innen zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan zunächst und zuvörderst außerliterarisch geäußert: Günter Grass, Walter Jens und Uwe Timm 2002; Juli Zeh in der Wiener Zeitung 2009; im gleichen Jahr Martin Walser in einem offenen Brief an Angela Merkel. Dennoch hat Monika Wolting für ihre Studie Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur (2019) einiges literarisches Material zusammengetragen. Ihre Untersuchung versteht sie als Seismograph der im Wandel stehenden Gattung des Kriegsromans.
Dirk Kurbjuweits 2011 erschienener Roman Kriegsbraut spielt zu großen Teilen in Afghanistan, Afghanen treten in ihm aber kaum in Erscheinung. Doch wo man das Versagen des Autors vermuten könnte, liegt sein Verdienst: Im Jahr 2006 gelangt die Soldatin Esther nach Afghanistan, in das Bundeswehrcamp bei Kunduz. Kurbjuweit schildert dieses Lager- als Austernleben, als Ort ohne Zeit; seine Mauern markieren Grenzen, die das Eigene von der Fremde scheiden. Zu Kontakten zwischen Deutschen und Afghanen kommt es nicht. Zeit dringt nur gelegentlich in das Lager, in den Räuberpistolen amerikanischer Soldat:innen, die für eine Nacht im Camp weilen. Und sie kann entstehen – in der Grenzüberschreitung.
So handelt der Roman nicht zufällig vom Jahr 2006: Es ist das Jahr, in dem sich die Sicherheitslage vor Ort spürbar verschärfte, in dem es auch vermehrt zu schweren Angriffen auf Präsenzpatrouillen der Bundeswehr kam. Esther wird Teil einer solchen Patrouille, die einmal wöchentlich vom Lager in Kunduz nach einem Dorf im nordafghanischen Hinterland fährt, wo eine Mädchenschule betrieben wird. Für Esther zunächst ein „Gefängnisausbruch“; später verliebt sie sich in den Direktor der Schule, Mehsud. Die Fremde bröckelt, jedenfalls scheinbar. Welchen strategischen Zweck diese Patrouillenfahrten aber erfüllen, bleibt schleierhaft. Insbesondere deswegen stellt sich später, als bei einem dieser Ausfahrten der Konvoi attackiert, und mehrere Menschen – Soldaten, Angreifer und Zivilisten – getötet werden, die Frage: wieso? Und durch die uneindeutige Zielsetzung dieser Patrouillenfahrten echot die mangelnde politische Definition dessen, was man am Einsatzort eigentlich bezwecken möchte – mit katastrophalen Folgen. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Kurbjuweit die Ereignisse dieser Szene deutlich jenen vom 12. Oktober 2006 nachempfindet, als erstmals deutsche Soldaten in Afghanistan in schweres Feuergefecht gerieten.
Als Esther erfährt, dass bei ihrer Rettung auch eine Zivilistin sterben musste, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch. Sie versucht sich die Tote vorzustellen, scheitert und gelangt zu der abgründigen Feststellung, nach mehreren Monaten Einsatz in diesem Land nicht einen einzigen afghanischen Frauennamen zu kennen. Kurbjuweits Roman berührt damit die Frage nach dem Verhältnis zweier Notwendigkeiten: die Sicherheit der Soldat:innen zu gewährleisten, gleichzeitig aber den Kontakt zur Zivilbevölkerung nicht zu verlieren. Ob es bei Wahrung der Sicherheit möglich war, das Ziel einer Interkulturellen Einsatzberatung zu erreichen, „eine möglichst enge Verbindung des Einsatzkontingents mit der örtlichen Bevölkerung“ (Arno Tappe) herzustellen, beantwortet Kurbjuweit vorsichtig mit nein, wenngleich der Roman dankenswerterweise eher in Fragen lebt als sich in Thesen zu ergehen.
Man kann sagen, dass Kriegsbraut Genreepoche machte. Die Schilderung des Militärcamps als Exklave in der Fremde wurde seitdem mehrfach aufgegriffen, so zum Beispiel in Norbert Scheuers Roman Die Sprache der Vögel (2016). Während Kurbjuweit noch Mehsuds Büro als contact zone inszenierte, ist bei Scheuer die Fremde absolut. Wie Kurbjuweit auch schildert er das Leben im Camp durch die Augen seines Protagonisten, Paul Arimond, der anders als Esther seinen Dienst nicht an der Waffe, sondern als Sanitäter leistet. Seine eigentliche Leidenschaft gilt jedoch der Beobachtung von Vögeln.
Afghanistan sieht er so kein einziges Mal. Er beobachtet auch nicht die afghanische Vogelwelt, er beobachtet Vögel, deren Lebensraum zufällig innerhalb der Grenzen eines Staates liegt, der Afghanistan heißt. So notiert Paul etwa nach der Sichtung zweier Türkentauben: „Wie alle Vögel haben sie ihre eigene Geografie, unsere willkürlich gezogenen Landesgrenzen bedeuten ihnen nichts.“ Der Infragestellung staatlicher Territorialgrenzen durch die Bewegung des Tieres kommt hier besonderes Gewicht zu und weist auf die koloniale Willkür zurück, auf die de facto alle afghanischen Grenzen zurückgehen. Die Künstlichkeit dieser Grenzen, insbesondere der erwähnten Durand-Linie von 1893, wirft bis heute lange Schatten: So ist der Konflikt zwischen Afghanistan und Pakistan bereits in besagter Linie angelegt, die das historische Stammesgebiet der Paschtunen zweiteilte, aus denen sich die Taliban bis heute und unter nicht unerheblicher Hilfe Pakistans rekrutieren.
Gewalt und Gegenwart
Nach der Lektüre einiger zeitgenössischer deutscher Afghanistan-Romane – ergänzend sei noch auf Linus Reichlins Das Leuchten in der Ferne (2013) verwiesen – kann man zu der Überzeugung gelangen, der Hindukusch sei schrecklichschön, der Himmel lapislazuliblau, in den kargen Ebenen stapelt sich das Alteisen der Kriege. Hier würde die Welt gezeigt, wie sie ist. Das ist kein Vorwurf, wenngleich es doch erstaunt, in welch kurzer Zeit sich Gattungsnormen ausgebildet haben. Monika Wolting hat dies den „Realismus ‚des neuen Kriegsromans‘“ genannt:
Der Afghanistan-Roman, gelesen als realistischer Roman, stellt zwischen den gängigen moralischen Ansichten und politischen Meinungen der wirklichen Welt und den geschilderten Ereignissen und Vorgängen […] Beziehungen her.
Kurz, am Hindukusch bekämpft die deutsche Literatur ihre Gegenwartslosigkeit. Das gelingt mal mehr (Kurbjuweit, Scheuer), mal weniger (Reichlin).
Im krassen Gegensatz zu einer solchen realistischen Poetik steht Jakob Noltes Roman Schreckliche Gewalten (2017). Die Zwillinge Iselin und Edvard schlagen in den 1970er Jahren verschiedene Lebenswege ein, nachdem sich die Mutter eines Nachts in einen Werwolf verwandelt und den Vater getötet hat: Iselin bleibt im heimatlichen Bergen, während Edvard sich auf den Weg durch die Sowjetunion nach Afghanistan begibt. Der Form nach allerdings ist der Roman ein großes Scrollen durch die jüngere Geschichte der Gewalt. Mit Vilnius und Pinsk etwa führt Edvards Afghanistanreise durch Kristallisationspunkte der Gewalt im 20. Jahrhundert. Daneben stehen Passagen, die die Massaker, Kriege und den Terrorismus eben jenes Säkulums collagieren – fake history eingeschlossen. Der Roman diagnostiziert damit auch die zunehmende „Informationalisierung des Wissens“, wie sie insbesondere für verschiedenste Web-Plattformen zu konzedieren ist und untersucht, welche Konsequenzen informationelle Völlerei für die mediale Vermittlung und Rezeption von Gewalt hat. Dass Afghanistan Fixstern dieses Romans ist, spricht also für sich.
Reisen nach 2001
Die nach 2001 erschienen Afghanistan-Reiseberichte zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie sich explizit als Reisen in ein Kriegs- bzw. Krisengebiet begreifen. Die Perspektive auf das Land allerdings ist, und das unterscheidet sie vom Gros der Afghanistan-Romane, keine militärische. Das gilt für Roger Willemsens Afghanische Reise (2007), ebenso wie für Rainer Merkels Das Unglück der anderen (2012) und Navid Kermanis Ausnahmezustand (2013). Gemeinsam ist ihnen, dass sie als teilnehmende Beobachter politische Drucksache und militärischen Anspruch an der sozialen und zivilen Wirklichkeit Afghanistans messen. Das Selbstverständnis dieser Texte ist dabei immer auch von einer kritischen Reflexion des eigenen Beobachterstandpunkts bestimmt. Navid Kermani, der 2006 als akkreditierter Gast der NATO das Land bereist, erlebt sich und seine soldatischen Begleiter in den getragenen Schutzanzügen als „Astronauten“; in der extraterrestrisch anmutenden Montur hat die Distanz zur Nähe, die man sucht, schon galaktische Dimensionen angenommen. Auch bei seiner zivilen Rückkehr im Jahr 2011 sind die „Grenzen des Berichtbaren“ jederzeit real:
Weite Teile des zerklüfteten Landes sind praktisch nicht mehr zu bereisen, nicht für Afghanen selbst und schon gar nicht für ausländische Besucher. […] Das bedeutet, daß jeder Blick auf das Land notwendig einseitig und lediglich über jene Gebiete aus erster Hand zu berichten ist, in denen es wenigstens elementare Fortschritte gibt […].
Von April bis Mai 2012 ist Michael Roes nach Afghanistan gereist, um mit Studierenden der Universität Kabul Nigel Williams’ Class Enemy zu inszenieren. In Melancholie des Reisens (2020) sind zuletzt seine Aufzeichnungen erschienen. Passagen, die kaum mehr als Paraphrasen eines aktuellen state of the art der akademischen Reiseforschung sind, stehen tagebuchartige Skizzen aus Kabul gegenüber. Jede gewohnte Selbstverständlichkeit ist hier mit einem Fragezeichen gleichermaßen versehen und versehrt. Einmal fragt Roes etwa: „Darf ich in Kabul spazieren gehen?“ Gewollt oder nicht: In der collagierten Kollision von Theorie und Praxis öffnet sich ein Raum, der die engen Grenzen des Möglichen dort spürbar macht, wo immer wieder von grenzenlosen Möglichkeiten die Rede war.
Diese Bilder Afghanistans in der deutschsprachigen Literaturgeschichte zeigen nur einen Überblick. Weder können noch wollen sie die historische Komplexität dieses Landes erfassen. Ebenso wenig kann aus ihnen so etwas wie eine ‘deutsche’ Perspektive auf das Land konstruiert werden. Es ist vermutlich nicht einmal eine Spitzfindigkeit, wenn man sagt, dass ein Film wie Rambo III (1988) auch in Deutschland prägender für das Bild Afghanistans gewesen ist als eine Ballade von Fontane.
Aber 25 Jahre nach der ersten Machtübernahme der Taliban ist auch in Deutschland unter dem Eindruck des Afghanistaneinsatzes eine ganze Generation erwachsen geworden, der von Peter Struck versprochen wurde, ihre Sicherheit würde auch am Hindukusch verteidigt. Für diese Generation – meine Generation – bleibt neben dem Blick in die Geschichtsbücher und Zeitungen nur der in die Literatur, um etwas über dieses Land zu erfahren. Und häufig bleibt der Eindruck, den auch Edvard in Jakob Noltes Roman Schreckliche Gewalten hat:
In einem Reiseführer las Edvard die gesamte Geschichte des Landes Afghanistan und konnte es schwer glauben. Die Abfolge der Ereignisse wirkte wie ausgedacht. Die Daten mussten gefälscht sein. Nie und nimmer konnte das der Wirklichkeit entsprechen. Es musste ein Trick sein. Oder jemand hatte sich einen Scherz erlaubt. Was dort geschrieben stand, war ganz einfach unglaubwürdig, und plötzlich kamen große Zweifel in ihm auf.
Auch wenn Edvards Zweifel an der Historie Afghanistans jeder Grundlage entbehren, staunt man doch wie er über die Geschichte dieses Landes, die wie ausgedacht wirken könnte und es doch nicht ist. Die Literatur mag zumindest helfen, die ganze Komplexität dieser Geschichte vielleicht nicht verständlich, doch aber auf eine Weise erfahrbar zu machen. Dann hieße zu staunen nicht zu gaffen, sondern empathisch und kritisch zu sehen. Davon würden am Ende alle profitieren – US-Präsidenten eingeschlossen.
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