von Simon Sahner
Wenn man gerade so hört und liest, wie die führenden Männer der FDP ihren Plan ausgeheckt haben, um die Ampel-Koalition – ja – zu sprengen, werden sich manche – vor allem andere Männer wie ich – daran erinnern, wie man als Kind, Ritter gespielt hat, draußen im Garten oder auf dem Feld Schlachtpläne geschmiedet hat und dann losgezogen ist mit Holzschwert, Stock und Steinschleuder. Später dann bei LAN-Parties hat man bei Counter Strike-Duellen Strategien entwickelt und ist digital in die Schlacht gezogen. Irgendwann haben die meisten von uns diese Fantasien in dieser Form hinter sich gelassen, vielleicht imaginieren sie sich manchmal noch als Helden, aber sie haben aufgehört zu spielen.
Die Jungs von der FDP haben nicht aufgehört zu spielen, sie haben dabei nur übersehen, dass sie jetzt in Machtpositionen sind, in denen sie die Mitverantwortung über 82 Millionen Menschen haben.
Wie Kinder, die Krieg spielen
Die detaillierte Ausarbeitung der Pläne, die in der Führungsriege der FDP anscheinend in den vergangenen Monaten entstanden sind, sind vor allem das Zeugnis einer Selbstnarrativierung. Die militärische Sprache vom D-Day, dem Tag, als im Juni 1944 die Truppen der Alliierten im deutsch besetzten Frankreich landeten, von der “Zündung” und der „offenen Feldschlacht“ und die Dokumente, in denen diese Pläne haarklein dargelegt wurden, die konspirativen Treffen – all das scheint aus dem Wunsch geboren zu sein, das eigene Handeln mit narrativer Energie aufzuladen. Eben wie Kinder, die sich selbst erzählen, dass sie nicht mit Stöcken über Wiesen rennen, sondern mit Schwert und Schild eine Burg stürmen. Denn warum sollte man sonst diese Vokabeln wählen? Hinter diesen Begriffen stehen reale geschichtliche Ereignisse und Assoziationen, die in Form von Romanen, Filmen und Serien aus historischen Fakten entstanden sind. Man sieht vor dem inneren Auge Feldherren über Landkarten brüten, nachdenkliche, mutige Männer, die im Angesicht der historischen Herausforderung Pläne schmieden, Figuren auf Landkarten verschieben und schließlich mit ernsten Gesichtern zur Tat schreiten, wissend, dass von ihrem Handeln das Schicksal zehntausender abhängt. Dass die FDP-Führung solche Bilder und Szenen eventuell unbewusst zumindest irgendwo im Hinterkopf hatte oder sich zumindest ihrer nicht erwehren konnte, ist angesichts der Dokumente, die jetzt aufgetaucht sind, sehr wahrscheinlich.
Der vermeintliche Ernst der Lage
Dabei steht die Frage im Raum, für wen hier erzählt wurde. Stellt man sich vor, dass die Adressatin dieser Erzählung die Öffentlichkeit ist, bleibt nur die Erklärung, dass die FDP sich selbst und das Land in solch einer Gefahrensituation wähnte, dass sie nach Ende der Ampel-Koalition stolz hätte darlegen können, wie sie die Rettung von Land und Partei geplant hatte. Das ist schwer zu glauben. Wenn doch, dann war und ist die Phantasiewelt dieser Partei noch größer als man dachte. Viel wahrscheinlicher ist, dass man sich vor allem vor sich selbst in der Vorstellung gefiel, geschichtsträchtig zu handeln und sich selbst in diese heldenhaften Erzählungen einhegte. So gesehen zeugt all das vielleicht auch von einer gewissen Unsicherheit darüber, ob das eigene Verhalten und die eigenen Pläne wirklich richtig sind, sowohl auf einer politischen als auch auf einer ethischen Ebene. Denn die Einbettung in Narrative vom Kampf gegen eine rot-grüne Übermacht, an deren Ende das Zerbrechen einer Koalition stehen soll, in der die eigene kleine Streitmacht zerquetscht zu werden drohte und die aus Sicht der FDP auch das Land bedrohte, dieses Narrativ ist letztlich auch eine Rechtfertigung vor sich selbst: Wenn man auf diese klandestine und konspirative Weise militärisch anmutende Pläne aushecken muss, dann muss die Lage wirklich ernst sein, sonst würde man es ja nicht tun – so die Erzählung, die anscheinend in den vergangenen Monaten in der FDP vorherrschte.
Dass in der Politik Geschichten erzählt werden, auch solche, die die Bedeutung der Ereignisse oder der eigenen Position überhöhen, ist keine Seltenheit. Jede Person, die politisch in der Öffentlichkeit auftritt, erzählt von sich selbst in einer bestimmten Weise, hat eine bestimmte Vorstellung von sich selbst und versucht diese Vorstellung in einer bestimmten Form zu präsentieren. Auch beispielsweise Robert Habeck präsentiert eine bestimmte Vorstellung von sich selbst: die des rastlosen und im Angesicht der Welt teilweise verzweifelten Kämpfer für das Richtige. Olaf Scholz wiederum gefällt sich als abwägender Pragmatiker. Die Politik ist unter anderem eine riesige Erzählmaschinerie, diese Erkenntnis ist nicht neu. Peinlich wird dieses Erzählen vor allem dann, wenn die erzählte Geschichte zu deutlich sichtbar wird und nicht mit der öffentlichen Wahrnehmung der Person oder der Partei übereinstimmt. Zu deutlich wird dann erkennbar, welches Ziel mit der Selbsterzählung verfolgt werden soll. “So fühlt man Absicht und man ist verstimmt,” sagt Goethes Torquato Tasso und es ist inzwischen beinahe eine Bühnenweisheit, dass eine erzählerische oder darstellerische Intention, die zu offensichtlich wird, vor allem Unbehagen beim Publikum auslöst. Wie groß dieses Unbehagen des Publikums war, zeigte sich nur Stunden nach der Veröffentlichung der Dokumente durch zahllose Memes auf Bluesky – irgendwie musste das Publikum seinem Unbehagen Luft machen und es entschied sich für den kreativen Spott.
Geschichtenerzähler der FDP
Es ist vielleicht bezeichnend, dass dieses Unbehagen beim Betrachter im Umfeld der FDP nicht selten auftritt. Schon die Selbstdarstellung des 18jährigen Christian Lindner als gewiefter Geschäftsmann in der geliehenen Limousine, dem Büro auf dem Dachboden der Eltern und mit markigen Zitaten ist nicht nur rückblickend eine peinliche Selbsterzählung. Ein aktuelleres Beispiel ist Marco Buschmann, der bekanntlich immer wieder atmosphärische Elektro-Collagen auf der Musikplattform Soundcloud veröffentlicht. Er präsentierte wenige Tage nach dem Aus der Ampel-Koalition einen neuen Track mit dem Titel „Gehen um zu stehen“, der mit weihevollen Chorpassagen und dramatischen Orgelsounds den Versuch darzustellen scheint, dem schmachvollen Moment der Entlassung als Minister und des Rauswurfs aus der Koalition eine heldenhafte Note abzugewinnen: Besser man geht erhobenen Hauptes vom Schlachtfeld, als dass man seine Ehre verliert, scheint der scheidende Justizminister mit diesem Song sagen zu wollen – inklusive dramatischem Foto in schwarz und weiß, auf dem er selbst, Christian Lindner und Bettina Stark-Watzinger zu sehen sind. Auch hier klingt ungenannt im Hintergrund die Assoziation zum heldenhaften Kampf an, die auch in den Dokumenten der Partei steckt.
Erzählende Affen
Diese Geschichten sind Paradebeispiele für die Kraft von Erzählungen, wie sie auf unseren Alltag einwirken und wie sie misslingen können. Der Mensch ist ein erzählendes Wesen, das nicht nur fiktional erzählt, sondern auch seinen Alltag ständig in größere oder kleinere Erzählmuster einhegt, die wir aus der uns umgebenden Erzählwelt kennen, die sich in Form von fiktionalen Erzählprodukten, aber auch in der Werbung oder der Geschichtsschreibung zeigt. Samira El Ouassil und Friedemann Karig haben das in ihrem Bestseller “Erzählende Affen” über den Erzähldrang der Menschen anschaulich dargelegt und mehrere Jahrhunderte des Erzählens aufbereitet. In unserer eigenen alltäglichen Erzählwelt sind wir die Held*innen, die sich trotzig dem unfairen Vorgesetzten entgegenstellen, die in einer romantischen Geste die Liebe unseres Lebens gewinnen, in der es überhaupt so etwas wie ewige, romantische Liebe gibt und in der wir zumindest ein wenig die Geschicke unserer eigenen Lebensgeschichte lenken können.
Joan Didion, die US-amerikanische Essayistin, schreibt in ihrem berühmtesten Essay „Das weiße Album“ direkt im ersten Satz: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“ Was hier in der deutschen Übersetzung nicht so deutlich herauskommt: Didion meint, dass wir uns selbst Geschichten erzählen, im englischen Original heißt es „We tell ourselves stories“. Wir können gar nicht anders, als permanent uns selbst etwas über uns zu erzählen, weil wir uns selbst Sinn zuschreiben wollen und müssen. Sie schreibt weiter:
„Wir interpretieren, was wir sehen, wir wählen unter den vielfältigen Möglichkeiten die brauchbarste aus. Besonders als Schriftsteller leben wir völlig davon, die ungleichen Bilder auf einen Erzählfaden zu spannen, wir leben von den »Ideen«, mit denen wir gelernt haben, die wechselnden Phantasmagorien einzufrieren, die unsere eigentliche Erfahrung sind.“
Besonders der letzte Teil dieses Zitats ist angesichts der Selbsterzählung der FDP sehr aussagekräftig. Die „Ideen“, von denen Didion hier spricht, sind die Vorstellungen, die wir uns in Form von Erzählungen von uns selbst machen. Phantasmagorien sind Trugbilder, Scheinwelten, die uns vorgespielt werden, teilweise von uns selbst. Didion geht so weit zu behaupten, dass unsere gesamte Wahrnehmung der Welt und von uns selbst – die „eigentliche Erfahrung“ – nur aus Trugbildern besteht. Indem wir sie in Form von Erzählungen „einfrieren“, können wir existieren, weil wir ein Bild von der Welt und uns selbst konstruiert haben, das uns hält. So ungefähr muss das auch bei der FDP abgelaufen sein.
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