Nicht mitgemeint – Olivia Wenzels ‚1000 Serpentinen Angst‘ im ‚Literaturclub‘

von Maryam Aras

 

„Wie gesagt, ich, Elke, bin auch kein Freund von Rap.“ „Ich, Elke, bin kein Freund von R-A-P.“  Olivia Wenzel und Malu Peeters sitzen auf der Bühne der Frankfurter Naxos Halle, an einem Tisch mit ungefähr einem Meter Abstand zueinander. Hinter ihnen ist ein Bild einer Hand an die Wand geworfen, die wiederum ein kleineres Foto einer Hand verziert mit einer Kette und vielen Ringen zu halten scheint. „Hallo, ich bin Philipp Tingler und ich finde, das ist kein Schreiben, das ist Seitenfüllen.“ „Das ist Seiten-FÜHLEN.“

Beim Textland Literaturfest am 24. Oktober liest Olivia Wenzel aus ihrem Roman-Debüt 1000 Serpentinen Angst. In ihre Lesung eingebaut ist eine Soundperformance, die spielerisch Zitatfetzen, die offenbar ihren Roman kritisieren, loopt, neu eingelesen minimal verändert, und wiederholt. „Ich finde alles was sie in diesem Buch schreibt, gut. Wie sie den alltäglichen Rassismus beschreibt, worüber wir gar nicht nachdenken.“ „W-I-R gar nicht nachdenken“, „uag uag uag, uag uag uag“, „Ich finde, dieses Buch hat schwerwiegende Mängel in der Komposition und in der erzählerischen Ökonomie, das ist schade, weil so der Zugang versperrt wird, finde ich, auf eine relevante, wichtige Geschichte.“ „uag uag uag, uag uag uag“ „Aber auch – der Leser, die Leserin interessiert sie gar nicht, es geht ihr um eine protokollarische Darstellung ihrer eigenen Befindlichkeit“, uag uag uag“.  

Die Aussagen wirken absurd, weltfremd und überheblich im Gestus, das Looping und die Call-and-Response-Stimmen verstärken diesen Eindruck. Ich erkenne nur die Stimme von Elke Heidenreich. Eine kurze Suche spuckt eine Ausgabe der Sendung Literaturclub vom 03. Mai 2020 aus, in der unter anderem 1000 Serpentinen Angst diskutiert wurde. Ich spiele das Video der Sendung ab und suche den Teil der Gesprächsrunde, der sich mit Wenzels Roman befasst. Er ist das letzte Buch, das von Nicola Steiner, Philipp Tingler, Elke Heidenreich (aus Köln zugeschaltet) und Gastkritikerin Reina Gehrig, verantwortlich für Schweizer Literatur bei Pro-Helvetia, besprochen wird. Auf dem Weg dorthin höre ich in die Diskussion über Tschudi von Mariam Kühsel-Hussaini rein. Elke Heidenreich, die Kühsel-Hussainis nunmehr vierten Roman mit in die Sendung gebracht hat, bemerkt einleitend: „Kühsel-Hussaini, das ist ja ein etwas seltsamer Name. Sie ist 1987 geboren in Kabul, dann aber nach Deutschland gekommen mit ihren Eltern. Enkelin eines berühmten Kalligraphen, eines Schönschreibers…“ Ich zucke innerlich leicht zusammen und frage mich, ob sie auch noch erklären wird, dass Frau Hussaini irgendwann Herrn Kühsel geheiratet hat, suche aber dann den Teil über 1000 Serpentinen.

Nicola Steiner gibt eine kurze Einführung zu Autorin und Roman, hebt die im Buch beschriebenen Rassismuserfahrungen hervor. Reina Gehrig, die 1000 Serpentinen mitgebracht hat, betont, ihr gefalle die Mündlichkeit der Theatertradition, aus der Wenzel komme und die auch dem Roman anzumerken sei. Es sei ein unkonventioneller Text, schickt sie entschuldigend vorweg. Sie interessiere jedoch dieser Teppich, den die Autorin inhaltlich und stilistisch ausbreite, der sich zu einem sehr differenzierten Portrait dieser jungen Schwarzen Frau aus der DDR ergebe.

Der Schauspieler Thomas Sarbacher liest eine Passage, die aus dem ersten Teil des Romans stammt, der wie eine dialogische Selbstbefragung der namenlosen Ich-Erzählerin geschrieben ist. Der Ausschnitt beginnt mit dem Satz „In New York gehe ich die 5th Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane.“ Im Folgenden erklärt die Erzählerin, warum das für sie als Schwarze Frau aus Ostdeutschland ein Moment der Freiheit ist. Sie erzählt von der dreifachen Diskriminierung, die hier aus Affen-Analogien (mit entsprechenden Lauten, die im Text ausgeschrieben sind), Blow-Job-Assoziationen und Ossi-Bananen-Witzen bestehen.

Wer ist Wir? Die Literaturwelt als weiße imagined community

„Das ist jetzt eine Geschichte der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die sehr vielstimmig und aus sehr vielen unterschiedlichen Perspektiven auf die Sache erzählt ist. Hat Sie das angesprochen?“, fragt Nicola Steiner Elke Heidenreich im fernen Köln. Und da ist es, das erste Zitat aus der Soundperformance beim Textland Literaturfest (hier länger wiedergegeben):

„Ganz komisch ist es mir ergangen mit diesem Buch. Ich finde alles, was sie in diesem Buch schreibt, gut. Wie sie den alltäglichen Rassismus beschreibt, worüber wir gar nicht nachdenken, wir steigen einfach in die U-Bahn, sie steigt in die U-Bahn und guckt: Sind da irgendwo Glatzen? (…) Das alles hat mich interessiert. Aber stilistisch, erzählerisch hat mich das Buch nicht gepackt. Es ist wie eine Materialsammlung. Nun muss ich gestehen, ich bin auch kein Freund von Rap. (…) Dann quälend langweilige Beschreibungen von Fotos. (…) Das heißt, was sie da erzählt, hat mich sehr erreicht. Aber wie sie es erzählt, hat mich oft gestört, gelangweilt und ich mag ‘hähä’ und ‘uag uag uag’ in der Literatur eben gar nicht. Ich bin aber sehr altmodisch. Ich mag immer, dass klassisch geradeaus erzählt wird.“

Ich denke an das langgezogene W-I-R aus dem nachgesprochenen Zitat von Heidenreich und welche Ironie es doch ist, dass ein Roman, in dem die Erzählerin über cultural appropriation, das Verhältnis von weißen und Schwarzen Teenagern einschließlich ihres jüngeren Ichs zu Rap und Hiphop-Kultur nachsinnt, gleich mit einem Rap-Text assoziiert wird. Während ich weiter überlege, wer wohl alles Teil von Heidenreichs W-I-R ist, und dass wohl nicht mal ich, in deren Kindheitswohnzimmer ihre, Elkes, Bücher auf den Stapeln unter dem Couchtisch lagen, mitgemeint ist, stellt Philipp Tingler fest, heute wohl auch altmodisch zu sein. Da der Verlag dieses Buch als Roman etikettiert habe, müsse er es auch als Roman behandeln, als solcher sei es aber nicht gelungen.

„Ich kann in Abwandlung von Truman Capote sagen, das ist kein Schreiben, das ist Seitenfüllen. Ich finde, dieses Buch hat schwerwiegende Mängel in der Komposition und in der erzählerischen Ökonomie, das ist schade, weil so der Zugang versperrt wird, finde ich, auf eine relevante, wichtige Geschichte.“ 

Uag uag uag, denke ich und gratuliere Olivia Wenzel still dafür, mit einer dadaistisch-ironischen Imitation eines unverstandenen Lautes aus ihrem Text eine Kritik zu kommentieren, die offensichtlich daher rührt, dass der Kritiker den Text nicht verstehen kann oder möchte. Dabei ist es gerade das ästhetisch-semantische Zusammenspiel der Fragmentierung von Form und Inhalt in 1000 Serpentinen, das den Roman so überzeugend macht. „In dieser dialogischen und chronologischen Zersplitterung ist der Roman auch formal ein Abbild seiner Protagonistin, deren Identität und Persönlichkeit aus ebenso vielen Fragmenten und offenen Enden besteht und gleichzeitig ein individuelles Zentrum besitzt“, schreibt Simon Sahner in seiner Besprechung. Das Schwarzsein der Erzählerin hat dabei viele Formen und Enden, wie es beispielsweise ihre Erlebnisse in den USA verdeutlichen. Hier fühlt sich sie sich sowohl geborgen – auch wenn sie nur eine Besucherin in Schwarzen Communities ist – als auch befremdet, wie ihre detaillierten Beschreibungen von für sie verschwenderischer Beleuchtung und seltsamen Eigenheiten US-amerikanischer Hotels verraten. 

Zurück zum W-I-R. Wer ist nun dieses Wir in der Literatur, das über alltäglichen Rassismus und die Gefahr, die potentiell immer von Neonazis ausgeht, nicht nachzudenken braucht und das mit distanziertem Interesse den Rassismuserfahrungen der Erzählerin folgt? Heidenreich meint ein Wir, das keinen Rassismus erfahren hat. Ein weißes Wir also. Natürlich – die Kritiker*innenrunde Tingler, Gehrig, Steiner, Heidenreich ist gemeint, werden diese vielleicht sagen. Ist sie das? Als was und zu wem spricht Literaturkritik – auch die im Fernsehen? Kaum eine wird so gut wissen wie die Schriftstellerin, Kritikerin, Kabarettistin, Moderatorin, Journalistin und Literaturvermittlerin Elke Heidenreich, dass Kritiker*innen zuerst immer auch als Leser*innen sprechen. Sie richten sich dabei an eine Leser*innenschaft, die sie liest, ihnen zuhört, sie schaut. 

Demnach ist dieses Wir ein Wir der Lesenden, das auch das Publikum der Literaturkritik miteinschließt. Wenn ich also eine Literaturclub-Sendung sehe und eine Kritikerin spricht in der Wir-Form von Rassismuserfahrungen, die interessant und fern sind, so bin ich automatisch als Rezipierende mit Rassismuserfahrung ausgeschlossen. Auf diese Weise wird das künstlich homogene Kollektiv einer Literaturwelt geschaffen, dessen Wir es fern liegt, über die Gefahren von Rassismus im öffentlichen Raum nachzudenken. Ein weißes Wir einer weißen Leser*innenschaft. Die Leserin Sharon Dodua Otoo hat sich als junge Schwarze Britin nie in den Büchern wiedergefunden, die sie las, wie Otoo im Winter 2020 in ihrer Annual Goethe Lecture für das Goethe Institut London bemerkte. In Anlehnung an Benedict Andersons imagined communities von Nationen können wir hier – wenn auch unter anderen Vorzeichen – von einer imagined community einer weißen Leser*innenschaft sprechen, denn diese homogen weiße, rassismusunerfahrene Leser*innenschaft gibt es natürlich nur in der Vorstellung weißer Literaturkritiker*innen, Agent*innen, Redakteur*innen und Verlagsmenschen. 

Diese imaginierte Gemeinschaft weißer Leser*innen ist selbstverständlich nicht neu. Die meisten deutschsprachigen Medien arbeiten für ein imaginiertes Kollektiv weißer Konsument*innen und das deutschsprachige Feuilleton tut dies mit seinem bildungsbürgerlichen Gestus insbesondere. Nicht selten werden (post-)migrantische Autor*innen als willkommene Abweichung (Diversität heißt genau das) nicht nur in einer weißen deutschen Mehrheit besprochen, sondern auch für diese. So wird man selbst bei wohlmeinenden Rezensionen oft den Eindruck nicht los, weiße Kritiker*innen sähen sich mit einem weißen Publikum konfrontiert, dem sie nun ein Werk einer*s nicht-weißen Autorin*s anpreisen möchten, obwohl dieses von einer „anderen“ Erfahrungswelt handelt und dessen Protagonist*innen vielleicht nicht Susanne oder Andreas heißen (so geschehen zum Beispiel in der hier kritisierten, sehr wohlwollenden Rezension von Nava Ebrahimis Werk).

 

 Universalismus vs. „eine Kohorte junger Frauen“

Im Literaturclub versucht die Gastgeberin Nicola Steiner, Philipp Tingler dann doch noch von der Legitimität Wenzels Erzählweise zu überzeugen. Es sei auf eine Art sperrig, auf eine andere aber auch sehr verspielt und spreche junge Frauen zwischen 20 und 30 sicher an. „Ist das jetzt meine Schuld, dass ich keine junge Frau zwischen 20 und 30 bin“, fragt Tingler. Nicht jedes Buch spreche Leser gleichermaßen an, entgegnet Steiner und Heidenreich bekundet am Bildschirm ihre Zustimmung. Steiner sagt:

„Ich kann mir vorstellen, dass junge Frauen das jetzt entdecken können und mit dieser Art der Literatur auch etwas Universales entdecken können, nämlich diese Ausgrenzung und Schablonen-Denken. Wir haben das ja auch – man wird festgelegt auf etwas, da ist man die Blondine oder der Bodybuilder und man versucht zwischendurch, diese Etiketten von sich zu werfen und zu sagen: ich bin ganz viele und ganz viele kaleidoskopmäßig.“ 

Im Folgenden greift Tingler seinen seltsamen Universalismusanspruch an die Literatur noch einmal auf. „Universalismus in der Literatur ist ein Aspekt, eine Kohorte von Frauen zwischen 20 und 30 ist ein anderer Aspekt“, so Tingler. „Warum bin ich nicht mitgemeint in diesem Buch?“ Reina Gehrig versucht dagegen zu halten, meint, dass das Buch nicht nur für Frauen zwischen 20 und 30 interessant sei. Ihr Einwand wird von Heidenreich auf dem Monitor abgeschnitten, die das bunte Cover des Buches vor die Kamera hält und in die Runde fragt, ob das Buch nicht „absurd hässlich“ sei. Ohne Umschlag sei es noch viel hässlicher, ergänzt Tingler. Dieser Wortwechsel ist ein beinahe grotesker Nebenschauplatz, der an dieser Stelle verdeutlichen soll, wie Ton, Respekt vor der Autorin und das Bewusstsein des eigenen Sprechens und der eigenen Positionalität in dieser Runde vollkommen entglitten sind. Eine “Hermetik der eigenen Perspektive” beklagt Philipp Tingler zudem. Diese Hermetik würde er gerne durch eine “gesamte Totalität des Lebens” ersetzt sehen, die – und das sei die eigentliche künstlerische Leistung einer Autorin – durch ein Sich-Lösen von der eigenen Biographie erreicht würde.

Schon 1977 schrieb Robert E. Hemenway in seiner Biographie der Schwarzen Autorin und Anthropologin Zora Neale Hurston (1891-1960), dass Schwarze Autor*innen schon immer unter der Arroganz weißer Kritiker*innen zu leiden gehabt hätten. Eine der am häufigsten geäußerten Vorschriften sei: 

„the Black author must transcend race in order to write universally. Even such a brilliant poet as Gwendolyn Brooks has been advised that if ‚being a N-Word‘ is her subject, then she is somehow prevented from creating great literature. (…) that the ultimate transcendence is to not write about Black people at all, believing for some reason that white people carry no racial identity.” [1] 

Um das Konzept des literarischen Universalismus, wenn auf diese Weise ins Feld geführt, zu kritisieren und als Universalismus des zumeist weißen männlichen Kritikers bloßzustellen, müssen wir nicht unbedingt auf die Schwarze Literatur aus den USA schauen. Die Schwarze deutschsprachige Literatur ist reich genug an Beispielen, wie Sharon Dodua Otoo in ihrer Bachmann-Rede Dürfen Schwarze Blumen malen von 2020 aufzeigt. Ansprüchen der Deutungshoheit könne Schwarze Literatur begegnen, in dem sie Sprache “als eine Post-it-Note begreife: als ständige Erinnerung daran, dass Diskriminierung existiert und dass unsere eigene Haltung dazu in der Wortwahl oder der Schreibweise deutlich werden kann.” Dies tut 1000 Serpentinen Angst auf eindrucksvolle Weise. Für die einen mag diese Schwarze autofiktionale Literatur nur eine “protokollarische Darstellung ihrer eigenen Befindlichkeit“ darstellen, die Germanistin Priscilla Layne nannte es vor kurzem: “the persistence of Black people to keep on going like this, keep living in the face of all the pressures and the the trauma and the threat to their lives.”

 

[1] Hemenway, Robert E., 1977, Zora Neale Hurston: A Literary Biography. Champaign: University of Illinois Press, 377.

 

 

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