Wer war Magda? – Ottessa Moshfegh: Der Tod in ihren Händen

von Samuel Hamen

 

Eine Notiz, die alles verändert: „Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.“ Vesta Guhl, die den Zettel bei einem Spaziergang findet, ist zuerst amüsiert, dann irritiert, schließlich fasziniert. Wer war Magda? Wer ist ihr Mörder? Und könnte sie, die unscheinbare Rentnerin, diesem Geheimnis nicht nachgehen?

Eine Frau flieht vor der Einsamkeit, indem sie sich einen Fall herbeiphantasiert, ein Ereignis, um ihr langsames Verblassen zu verhindern. Auch Steven Millhauser hat sich in seinem Erzählband Stimmen in der Nacht 2018 diesem Mechanismus einer disruptiven Imagination gewidmet. In der Story The wife and the thief meint eine Frau, die bloß als „the wife whose husband sleeps“ vorgestellt wird, einen Einbrecher zu hören, der nachts durch ihr Haus in den Suburbs schleicht:

She should call the police, is what she ought to do, her cell phone is sitting on the night table, six inches away, but what if the thief hears her and heads upstairs, what if he’s holding a knife in his hand, what if the knife is a gun, what if the police arrive and find an empty house, nobody home but a sleeping husband and a neurotic wife who’s got nothing better to do than make crazy calls in the wee hours, ruining everything for everyone?

Gibt’s den Einbrecher? Wäre es nicht interessant, wenn es ihn gäbe? Während dort unten im Wohnzimmer nichts passiert, passiert hier oben in ihrem Kopf alles: die Sorge, als hysterische Ehefrau abgetan zu werden, die Angst, dass die Idylle zerbrechen könnte, die Lust, dass genau diese Idylle zerbrechen sollte.

Leben und Langeweile

Ottessa Moshfegh bedient sich in Der Tod in ihren Händen der gleichen Ausgangssituation, um ihre Figur dann aber auf ganz eigene Weise zugrunde zu richten: Gibt’s die Leiche? Wäre es nicht interessant, wenn es sie gäbe? Das Ehebett ist bei ihr eine Waldhütte, die Tristesse des Ehefrauenlebens die Trostlosigkeit des Witwenlebens. Was beide Figuren verbindet, ist das Unvermögen, ihre jeweils desolate Lage wahrzuhaben. Vesta Guhl ist lange Zeit betäubt von der idyllischen Monotonie, die am See herrscht. Und weil hier eine Frau am Ende eines faden Lebens irgendwo am Ende einer Welt portraitiert wird, ist auch die Sprache des Romans ganz ähnlich: unaufgeregt bis öde. Ein wenig fühlt es sich so an, als müsste der Leser durch jene Langeweile gehen, der Vesta tagein, tagaus ausgesetzt ist, um mitvollziehen zu können, weshalb sie sich in ihren investigativen Furor hineinsteigert: „Ich säte die restlichen Blumen aus, bedeckte meine vergrabenen Schätze mit einer dünnen Schicht Mutterboden und wässerte mein kleines Gärtchen vorsichtig mit dem Gartenschlauch.“

Bloß: Dieses Manöver innerhalb- und außerhalb des Gärtchens nimmt einiges an Zeit beziehungsweise an Seiten in Anspruch. Erst nach gut der Hälfte legt Der Tod in ihren Händen an Rasanz zu, wenn Vestas kleine Heimeligkeit am See sich als große Einsamkeit herausstellt. Ihre (zu) späte Wut auf den Alltagschauvinisten, der ihr Mann gewesen ist, tritt ebenso zu Tage wie ihr halb verdrängter, halb betrauerter Kinderwunsch, der sich nicht erfüllte: „Hätten wir ein Kind gehabt, wäre es in Monlith gut aufgewachsen. Aber das war nie eine Möglichkeit gewesen. Sinnlos, über so etwas nachzudenken.“ War es wirklich nie eine Möglichkeit gewesen? Und gilt das Dogma, nicht mehr darüber nachzudenken, nach wie vor?

Vestas zunehmend deliriumshafter Bericht vibriert zwischen Mutmaßung, Hinterfragung und Projektion. In der Hinsicht steckt auch ein wenig Faulheit in Der Tod in ihren Händen, muss doch jedes Detail, das Vesta notiert, daraufhin abgeklopft werden, ob hier verschleiert ein Trauma, ein Aussetzer oder eine Verdrängung zur Sprache kommt. Wenn es kein System hat, ist’s halt eines der Phantasmen der alten Irren. Wenn es hingegen System hat, referiert es auf eine von Vestas Verletzungen und Enttäuschungen, die sie sich nie eingestanden hat und die sie dementsprechend nicht ausdrücken kann. So ist man als Leser eigentlich fleißiger als die Autorin, die die Imaginationsarbeit an einen delegiert. Selbst das Urteil, das einem der Text nicht so recht zusagt, ist dann nur ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns daran, in einem hier und da unnötig verrätselten Text das Puzzle einer kaputten Psyche zusammenzusetzen.

Es war nicht der Gärtner

Wer Ottessa Moshfegs Romane kennt, weiß, mit welcher Raffinesse die Autorin ihre Frauenfiguren kurz ans wärmende Glück führt, um sie dann doch in die Kälte zu entlassen. Vor diesem Hintergrund ahnt man denn auch einigermaßen schnell, dass Vestas Dasein als Rentnerin, Witwe und Hunde-Frauchen von Charlie im Desaster enden wird. Zugleich setzt der Roman zu lange darauf, genau diese allmähliche Entgleisung Szene um Szene zu illustrieren, bei Spaziergängen, in der Stadtbücherei, während eines absonderlichen Treffens mit den einzigen Nachbarn weit und breit. Der Krimi, der kein Krimi ist, endet dementsprechend vorhersehbar, weil er genau das Gegenteil dessen tut, was das Genre eigentlich vorsieht. Es war nicht der Nachbar, nicht der Tankstellenwart mit dem zerschossenen Gesicht, schon gar nicht der Gärtner:

Ich begriff, dass niemand im Wald gewesen war, dass es keine Bedrohung von außen gab. Das, was mich die ganze Zeit dort draußen beobachtet hatte, war Charlie gewesen.

Steven Millhausers Figur, „the wife whose husband sleeps“, legt sich am Ende der Story wieder ins Bett, um „like the dead“ zu schlafen. Die Aufregung ist verflogen, der Funke erloschen. Moshfeghs Studie über die imaginative Enthemmung einer Todunglücklichen hält vor diesem Hintergrund eine ziemlich traurige Pointe parat: Vesta hätte die Chance, sich alles Mögliche vorzustellen, jetzt da ihr altes Leben samt seiner Lügen in sich zusammenfällt. Aber was tut sie? Sie, die immer nur handelsübliche Krimis gelesen und geschaut hat, fabuliert sich einen Standard-Plot samt Leiche im Wald, geheimnisvoller Notiz und allerlei Verdächtigen herbei. Die Tipps, die sie einem Leitfaden zum Krimi-Schreiben entnimmt, helfen auch nicht weiter, ganz im Gegenteil.

„Später erfand ich“, heißt es in Marlen Haushofers Die Wand, in der auch eine Frau im Ausnahmezustand in einer Waldhütte portraitiert wird, „ein neues Spiel, ein Spiel für eine einsame Frau“. Vesta Guhl spielt ebenfalls ihr eingebildetes Spiel, eine Partie Freiheit, erstarrt in alten Mustern – und das ist eine dann doch spannende, wenn auch nicht aufregend innovative Erkenntnis von Der Tod in ihren Händen: dass Menschen selbst in Momenten der Emanzipation reglementiert sind durch die Denk- und Erzählformen, in denen sie ihr konformistisches Leben verbracht haben und die sie sogar daran hindern, es endlich hinter sich zu lassen.

Beitragsbild von Morgan Vander Hart

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