Chronische Krankheit als Story – Erzählungen von MS

von Vera K. Kostial

 

Zwei Kommissar:innen überbringen in einer aktuellen ZDF-Krimiserie einer etwa Mitte vierzigjährigen Frau die Nachricht, dass ihr Mann ermordet worden ist. Sie, die sich zuvor schon auf einen Gehstock abstützen musste, sackt zusammen und bittet um ein Glas Wasser und ihre Tabletten. Begründung: „Ich habe MS, und so ein Schock kann einen Schub auslösen.“ Dass Stress einen Schub begünstigen kann, ist korrekt – aber dass im Akutfall eine Tablette das Risiko eines Schubs abwendet? MS-Patient:innen wären dankbar für solch eine simple Lösung. Die Frau, so erfahren wir weiter, war früher gefeierte Cellistin und musste wegen der Erkrankung ihre Karriere beenden. Auch das ist soweit – leider – eine realistische Erzählung; weniger realistisch ist allerdings ein entscheidender Teil ihrer Hintergrundgeschichte, dass sie nämlich „auf der Bühne“ ihren ersten Schub hatte und „ihre Hand plötzlich nicht mehr bewegen“ konnte. Zwar ist das durchaus möglich – Multiple Sklerose, auch die „Krankheit der 1000 Gesichter genannt“, ist immerhin die Krankheit des ‚Alles kann, nichts muss‘ – besonders wahrscheinlich ist es jedoch nicht, dass eine Hand plötzlich vollständig gelähmt ist, wenn nie zuvor vergleichbare Symptome aufgetreten sind oder sich zumindest über einige Stunden aufgebaut haben. Ähnlich in der Symptomatik, aber noch spektakulärer in der Ausgestaltung ist die Szene im Film Balanceakt (2019), in der die anschließend mit MS diagnostizierte Marie beinahe ihren Sohn beim Klettern abstürzen lässt, da sie mit einem Mal die Kraft in ihrer Hand verloren hat. Noch abenteuerlicher ist da nur der Film Blueprint (2003), in dem die Protagonistin, ebenfalls professionelle Musikerin, plötzlich auf der Bühne zusammenbricht – die Szene erinnert eher an einen Kreislaufzusammenbruch als an einen MS-Schub.

Nun ist eine Krimiserie ebenso wie die beiden Filme Blueprint und Balanceakt natürlich Fiktion und medizinische Besserwisserei nicht unbedingt angebracht, ansonsten könnte wohl keine Krankenhausserie jemals ausgestrahlt werden. Selbst wenn es um den Bereich der Medizin geht, genießen fiktionale Erzählungen gewisse Freiheiten. Mehr als um die Korrektur einzelner medizinischer Wahrscheinlichkeiten geht es mir um die sich darin manifestierende Symptomatik der im literaturwissenschaftlichen Sinne dramatischen Darstellung von Multipler Sklerose. Denn eine Korrektur der vorherrschenden Narrative in Bezug auf chronische Krankheiten – und hier eben im Besonderen MS – scheint durchaus notwendig zu sein.

Blueprint und der Krimi erzählen jeweils von einer Figur, deren Lebenstraum aufgrund von MS zerstört wird. Sie kompensieren diesen Schicksalsschlag auf mehr als fragwürdige Art und Weise – die Pianistin in Blueprint lässt einen Klon ihrer selbst erschaffen und die Musikerin im Krimi manipuliert ihren letztendlich zum Mörder werdenden Celloschüler – und werden als gebrochene Figuren dargestellt. Neben diesem Narrativ gibt es noch eine zweite aus MS zu entwickelnde Storyline, die sich in Balanceakt und häufig im Infotainment-Bereich findet, beispielsweise in Porträts MS-betroffener Personen in Magazinsendungen. Nach der Krisensituation der MS-Diagnose erfährt der:die Betroffene eine kathartische Wandlung, wobei in der medialen Darstellung auffällig oft ein Schwenk vollzogen wird vom durch die Diagnose erschütterten Außen – der beruflichen Situation – zum Innen – dem Privaten. Tanja Kollodzieyski (auf Twitter zu finden unter @RolliFraeulein) diagnostiziert in ihrem Essay Ableismus (2020):

Wir Menschen mit Behinderung scheinen immer noch den Kreativfluss von Journalist*Innen zu hemmen. Anders ist es zumindest nicht zu erklären, warum sie zwei Geschichten wieder und wieder erzählen: Entweder leiden wir unglaublich unter unseren Behinderungen oder wir überwinden sie und studieren oder lachen ‚trotz Behinderung‘.

Diese Narrative erinnern an das aus dem Deutsch-Leistungskurs bekannte Freytag’sche Dramendreieck: Auf die Exposition (Vorstellung einer beruflich erfolgreichen Figur) folgt die ansteigende Handlung (Entwicklung von Symptomen), der Höhepunkt (traumatische Erfahrung der MS-Diagnose), die abfallende Handlung (beginnende Akzeptanz/Auseinandersetzung mit oder negative Kompensation der Krankheit) und wahlweise ein positiver Schluss (neues, erfülltes Privatleben) oder die Katastrophe (gebrochene Figur). Daraus können nun durchaus angenehm zu rezipierende Filme entstehen, die hier auch gar nicht in Hinblick auf Unterhaltungswert, schauspielerische Leistung und andere filmästhetische Kriterien beurteilt werden sollen. Es geht stattdessen um die verzerrte Wahrnehmung der Krankheit MS, zu der sie meiner Ansicht nach beitragen, denn Multiple Sklerose als chronische Erkrankung verweigert sich einer dramatischen Darstellung. Oder, auf eine einfache These gebracht: MS ist nicht gut erzählbar.

„MS ist kein Todesurteil“, sagte meine damalige Neurologin mehrfach bei der Diagnosestellung. Die Erschütterung des Selbstbilds, mit Mitte zwanzig gleichzeitig unheilbar krank und doch nicht vom Tod bedroht zu sein, dieses plötzliche Zerbrechen der eigenen Unverwundbarkeit, stellt die am Ende des Studiums angenehm unkonkrete und flexible weitere Lebensplanung radikal in Frage. Von diesem Moment an geht es um die reale story of your life, Planung ist keine Option mehr, sondern zwingende Notwendigkeit: Wählen Sie eine Therapieoption. Im besten Fall, wenn sie wirkt, begleitet sie Sie die nächsten Jahrzehnte. Als Frau, Mitte zwanzig, wollen Sie Kinder? Das müssen wir bei der Auswahl des Medikaments bedenken. Dieses Medikament injizieren Sie dann immer montags, mittwochs und freitags. Planen Sie es in Ihre Morgenroutine ein, wie das Zähneputzen. Planen Sie für die Injektion genug Zeit ein, damit Sie nicht unter Stress stehen. Planen Sie, das Medikament früh genug aus dem Kühlschrank zu nehmen, damit Sie es bei Raumtemperatur injizieren können. Planen Sie den Gang zur Apotheke, damit Sie das Medikament auf direktem Weg in den Kühlschrank bringen können. Planen Sie besonders, bevor Sie verreisen: Sie brauchen eine Zollbescheinigung und eine medikamentengeeignete Kühltasche. Planen Sie ganz generell Ihr Leben: Stress ist ungesund! Überfordern Sie sich nicht! Planen Sie Sport! Planen Sie Pausen! Planen Sie Erholung! Planen Sie vor allem mit der Unplanbarkeit! Sie wissen nicht, was passieren wird! „MS führt nicht zwangsläufig zum Rollstuhl!“

MS führt nicht zwangsläufig zum Rollstuhl. Dieser Umstand ist ein großes Glück, eine Errungenschaft der Forschung, war die Gleichung MS ist gleich ein Leben im Rollstuhl doch bis vor gar nicht allzu langer Zeit die dominierende Annahme – und MS damit auf eine zynische Art und Weise ‚besser vorhersehbar‘ und somit ‚erzählbarer‘ als heute. „Multiple Sklerose verläuft bei jeder:jedem anders“, auch das ist heute zunehmend bekannt, MS hat keine Zwangsläufigkeit und keine Erzählstruktur, entzieht sich radikal der Planungsfähigkeit, die doch gleichzeitig von Patient:innen erwartet und von der in fiktionalen wie faktualen Kontexten erzählt wird. „Die MS schläft nie“ ist ein beliebter Satz, um die unterschwellige Krankheitsaktivität auch zwischen den für die Patient:innen deutlich wahrnehmbaren Schüben zu veranschaulichen. (Hinweis: Neben der schubförmigen gibt es auch progrediente, d.h. kontinuierlich fortschreitende Formen von MS. Ich beziehe mich hier auf den schubförmigen Verlauf, der zum Diagnosezeitpunkt laut der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft bei bis zu 90% der Patient:innen vorliegt.) Gerne untermauert wird diese Information in den bunten Broschüren der Pharmahersteller durch die Eisberg-Metapher: Die Schübe sind nur die Spitze des Eisbergs, der größte Teil der Krankheit ist unsichtbar, wie der riesige Sockel des Eisbergs unter der Oberfläche des kalten, arktischen Ozeans. Sprachlich wird damit eine diffuse Bedrohungslage eines im Körper sitzenden, nicht greifbaren Feindes kreiert, den man konstant – medikamentös – bekämpfen muss, den man aber nie besiegen kann. Eine unendliche Geschichte.

Vom Informationswert her ist das natürlich korrekt, unter dem Gesichtspunkt des medizinischen Storytellings jedoch eher fragwürdig, wird doch durch die Personifizierung der ‚nie schlafenden‘ Erkrankung als unsichtbarer Gegner, der – wie der Sockel des Eisbergs – auch noch viel größer sein kann als angenommen, ein Bild der Angst geschaffen: Die Geschichte der lebenslangen, diszipliniert zu planenden Auseinandersetzung mit und Therapie der Krankheit hat begonnen. Es sei noch einmal betont, rein inhaltlich sind die Informationen nicht falsch. Doch gerade als frisch Diagnostizierte:r kann eine etwas pragmatischere Informationsvermittlung durchaus mehr zur Beruhigung und sachlichen Auseinandersetzung mit der Krankheit beitragen als eine noch dramatisch auf einen Eisberg zugespitzte Darstellung der MS. In den gleichen Bild-Kosmos, um damit wieder zur Fiktion zurückzukehren, passt die Erzählung der an MS erkrankten Frau und ihres Mannes aus der Krimiserie als „Schiffbrüchige“. So bezeichnen die beiden sich selbst, seitdem durch die Diagnose ihre zuvor zahlreichen Reisen nicht mehr möglich sind. Ebenfalls nicht mehr möglich, so erfahren wir nebenbei, ist eine funktionierende Beziehung, denn „mit meiner Krankheit hat mein Mann mich nicht mehr berührt“, erzählt die Ex-Cellistin. Auf die Darstellung der schicksalsgeschlagenen Figur, von MS gebrochen, gleichzeitig bemitleidenswert und – durch ihre weiteren Handlungen – befremdlich wird also durch die sexuelle Ablehnung noch eine Schippe draufgelegt.

Es muss also tatsächlich, so scheint es, in der medialen Darstellung der chronischen Krankheit MS immer eine der beiden Storylines sein: Katharsis oder Bruch. Doch Multiple Sklerose folgt wie gesagt keiner Storyline. Die Diagnose ist zwar, flapsig gesagt, ganz großes Drama, aber es entwickelt sich keine dramatisch darstellbare Handlung daraus: Als unheilbare, chronische Erkrankung gibt es zwar einen Anfangs-, jedoch keinen Endpunkt. Der plötzlich eintretende Planungszwang und die dauerhaft disziplinierte Auseinandersetzung mit der ‚nie schlafenden‘, personifizierten Erkrankung und ihrer Therapie steht allzu oft in paradoxem Kontrast zur Unvorhersehbarkeit der Krankheit selbst. In die Struktur eines klassischen Dramas oder in einen guten Spannungsbogen pressen lässt sie sich erst recht nicht. Belastungen durch die MS sind bisweilen von außen völlig unsichtbar, können banal und absurd wirken. Bis zur erwähnten Kühltasche für das Medikament war es ein langer Weg in mehrere Apotheken, begleitet von verständnislosen und überforderten Blicken angesichts eines so ‚außergewöhnlichen‘ Wunschs – das kostet Geld, Zeit und Nerven und ist vor allem eines: anstrengend für Betroffene und sehr langweilig für Außenstehende, auf jeden Fall nichts, was in einem Skript irgendwie Platz hätte. Außer vielleicht im absurden Theater, was wohl für das Thema MS die am ehesten adäquate Form wäre. Es passiert einfach nichts, was gut dramatisch darstellbar wäre. Viel los ist trotzdem.

Die Kritik an vorherrschenden Narrativen in Bezug auf Multiple Sklerose mit der Behauptung zu verbinden, MS sei nun mal per se schlecht erzählbar, wirkt vielleicht zunächst seltsam. Zusätzlich sind viele der geschilderten Eindrücke subjektiv. Dennoch: Nur weil etwas schwierig abzubilden oder in die Fiktion einzuweben ist, heißt das nicht, dass es nicht versucht werden sollte. Bestehende Narrative können hinterfragt werden. Es ist unbedingt zu begrüßen, wenn chronische Erkrankungen wie MS medial abgebildet und sogar in fiktionalen Filmen thematisiert werden. Doch jede mediale Darstellung prägt das Bild, das jede:r Einzelne und unsere Gesellschaft als Ganzes von Multipler Sklerose haben – gerade weil es eine Erkrankung ist, mit der man sich ‚im Normalfall‘ nicht auseinandersetzen muss. Wenn dann aber dieser ‚Normalfall‘ plötzlich nicht mehr zutrifft und man selbst oder eine nahestehende Person mit MS diagnostiziert wird, dann sind es genau die Geschichten aus Filmen und Fernsehbeiträgen, die man als unbedarfte:r Zuschauer:in rezipiert hatte und die plötzlich in den Kopf kommen.

„Wenn ich nicht mehr laufen kann, dann spiele ich eben Rollstuhl-Basketball!“, sagte ich wütend und trotzig. Nicht, dass ich eine besondere Affinität für Basketball hätte oder im Schulsport beim Werfen und Fangen geglänzt hätte. Aber es war eine Story, die nach der Diagnose für mich verfügbar zu sein schien, die ich mir aus verschiedenen bekannten Erzählschnipseln zusammensetzte. Nie hätte ich gedacht, dass mich heute an meiner MS oft die zeitliche Komponente am meisten nervt, etwa die häufigen, zeitraubenden Termine bei Ärzt:innen. Ich habe durchaus schon im Wartezimmer meine Arbeitsunterlagen zur Hand genommen und während der Kortison-Infusion Seminarlektüre erledigt. Ja, ich muss planen und bisweilen meine eigene ‚Healthcare-Managerin‘ sein – aber ich muss keine Story durchkomponieren, wie Erzählungen von MS es darstellen. So wie jeder medizinische MS-Verlauf anders ist, so ist auch der Umgang jeder:jedes Betroffenen mit der Erkrankung unterschiedlich, auch diesbezüglich ist Multiple Sklerose wohl die Krankheit des ‚Alles kann, nichts muss‘. Ich muss erstmal gar nichts, nur weil ich MS habe. Die durch Erzählungen im Kopf fest verankerten Bilder wieder herauszulösen, zu hinterfragen, sich zu erlauben, ihnen nicht zu entsprechen, kann durchaus anstrengender sein als der suggerierte ‚Kampf gegen den unsichtbaren Feind im Körper‘. Und gerade deshalb wäre es wünschenswert, wenn Erzählungen über chronische Erkrankungen wie MS mehr als zwei dramatischen Schemata folgten. Damit der erste Gedanke bei der Diagnose nicht „Rollstuhl“ ist, und damit der Kampf gegen vermeintlich alternativlose Stories nicht als weitere Belastung zur Erkrankung an sich hinzukommt.

 

Photo by Viktor Talashuk on Unsplash

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