Schlagwort: Personal Essay

Eine kurze Geschichte des Nicht-Schreibens – Mit Tillie Olsen

von Katharina Walser 

Ich sitze hier und warte bis meine Großmutter aus dem MRT kommt. Vor einigen Wochen war sie in Kroatien gestürzt. Den Bus wollte sie erwischen, um von ihrer älteren Schwester, die sie dort zeitweise pflegt, nach Hause zu fahren. Der Bus fährt nur ein paar mal am Tag von der dalmatinischen Hafenstadt ins kleine Dorf im Hinterland und sie war spät dran, ist zu schnell gelaufen, über ihre eigenen Sandalen gestolpert und der Länge nach hingefallen. Für einen Sturz Mitte 80 ist es “gut” gegangen, “nur” die Hand war gebrochen. Aber nun war die ewige Kümmerin selbst verletzt und musste dorthin kommen, wo sich andere noch um sie kümmern konnten. Zu uns nach Deutschland. 

Ich warte bis die Untersuchungen gelaufen sind und ich zurück ins Arztzimmer kommen kann, um zu übersetzen. Auf meinem Schoß liegt ein Rezensionsexemplar der deutschen Erstübersetzung von Tillie Olsens gesammelten Essays Was fehlt (Ü: Nina Frey & Hand-Christian Oeser), ein Buch, auf das ich lange gewartet habe. Es ist ein Montag im September 2022, 7 Uhr morgens – der einzige Termin, der in der Radiologie zu kriegen war. Bis wir wieder gehen können, ist es 10 Uhr, bis ich sie nach Hause gebracht habe, 12 Uhr, bis ich zurück an meinem Schreibtisch bin, 14 Uhr. Statt zu arbeiten, rufe ich meine Mutter an, um ihr von Großmutters Zustand zu berichten und zu planen, wer diese Woche wann vorbei fahren kann, um einzukaufen, zu kochen, zu putzen. Ich mache in dieser Woche 15 Minusstunden bei der Lohnarbeit. Wie viele Minusstunden ich an meinen Texten mache, weiß ich nicht, denn fürs Schreiben werde ich meist nicht bezahlt. Für mein Schreiben habe ich kein Log-in-System oder Urlaubstage. Ich schreibe nach der Arbeit abends, am Wochenende und manchmal, wenn ich sonst nicht dazu käme, auch in der Mittags-”Pause”. Wenn die Care-Arbeit dann noch hinzukommt, die sich nicht auf Wochenendtage oder Mittagspausen verschieben lässt, schreibe ich wochenlang gar nicht und bereue Rezensionen zugesagt zu haben, als die Care weniger war und meine Naivität groß. 

Die Personen, die durch die Strukturiertheit unserer Lebens-und Arbeitswelt – in diesem Fall den Strukturen des Literaturbetriebs und den Bedingungen für freie Autor:innenschaft – auf verschiedenste Weise vom Schreiben abgehalten werden oder es nur durch einen sehr beschwerlichen Weg schaffen, sind Olsens Gegenstand: “Schreibende einer Klasse, eines Geschlechts oder einer Hautfarbe, die in der Literatur nur am Rande vertreten sind – für sie ist eine erschöpfende Leistung, trotz verschwindend geringer Chance eine ‘schriftliche’ Stimme gefunden zu haben.” Dieses, wie Olsen es nannte, “Schweigen der Marginalisierten”, das eintritt, wenn bestimmte Personen nicht mehr oder nur sehr wenig schreiben können,  ist ein vielfältiges, denn die Unterdrückungsmechanismen, die verschiedene gesellschaftliche Stimmen klein halten, sind mehrfach miteinander verschränkt. Auch, wenn sie den Begriff noch nicht nutzen konnte, Olsen wusste sehr genau von dieser Mehrfachdiskriminierung. Sie widmete sich in ihren Essays und Vorträgen auch durch ihre eigene Perspektive als Mutter und postmigrantisches Arbeiterinnenkind, vor allem den ineinandergreifenden Geschlechts- und Klassen-Diskriminierungen, die an diesem “unnatürlichen Schweigen” in der Literatur partizipieren.

Doch welche Umstände braucht es, um in dieser versteinerten literarischen Umwelt Fuß zu fassen? Mit einem Blick in Notizen und Tagebücher bekannter Schriftsteller:innen, unter anderem Henry James, Thomas Mann, Joseph Conrad, Virginia Woolf, Katherine Mansfield oder Rilke, zeigt Olsen, dass es vor allem die Freiheit von Care-Arbeit, die Geschlechtszugehörigkeit und die finanziellen Mittel sind, die zum Schreiben ermächtigen. So regelte eine “stille, wachsame, unermüdliche Liebe” Joseph Conrad im Hintergrund seines Schaffens den gleichmäßigen Ablauf seiner Tage. Ruhe und Stille braucht es im Sinne dieser großen Literat:innen, um zu schreiben, dieses “unbegrenzte Alleinsein“, das Rilke suchte. Im Umkehrschluss ist für diejenigen, für die diese Ruhe nicht möglich ist, die Kümmernden, ein Schreiben also nicht möglich, oder zumindest nicht in dem Maß, das es braucht, um große Erfolge und Quantität in Produktion zu liefern. 

Wenn ich mit Kolleg:innen aus nicht-migrantischen Familien spreche, die ebenso um meine angesammelten Minusstunden wissen wie ich, heißt es oft, ob die Oma denn nicht alleine zum Arzt gehen könne, das sei doch nicht “meine Aufgabe”, sie zu all ihren Terminen zu begleiten. Und ich denke daran, wie einseitig Care selbst in vermeintlich feministischen Kreisen immer noch gedacht wird. 

Es fehlt ein breiterer Begriff von Care-Arbeit. 

Immerhin gibt es langsam überhaupt einen Begriff, mit dem die Arbeit bezeichnet wird, die auf Gehaltszetteln unsichtbar bleibt, die Zuhause und in Familien geleistet wird –  einen Begriff für die Pflege, die Betreuung, die emotionale Arbeit und den mental load. Und es gibt eine immer weiter erstarkende öffentliche Debatte darum, wie diese Care- mit 40h Lohnarbeit zusammenfinden soll. 

Für die Zunft der Schreibenden, haben sich in den vergangenen Jahren Anthologien wie Schreibtisch mit Aussicht und Autor:innenkollektive wie writing with CARE/RAGE oder otherwirtersneedtoconcentrate mit dieser, wie die Journalistin Mia Latkovic es in ihrer aktuellsten Newsletter-Folge benennt, “VerKeinbarkeit” von Schreiben und Care auseinandergesetzt. Vor allem mit der Doppelrolle, die gerade schreibende Mütter zu stemmen haben und mit die auch Olsen primär beschäftigte. 

Diese Debatte wird zurecht geführt, denn die geleistete Care ist auch in Deutschland und auch in den 2020ern in keinster Weise gendergerecht verteilt. Bleibt die Debatte jedoch dort stehen – das wird mir bei den Kommentaren meiner Kolleg:innen aufs Neue bewusst – denkt sie bei weitem nicht alle Menschen mit, die täglich Care leisten, ebenso, wie sie diverse Familiengefüge ausblendet, in denen kreuz und quer Sorgearbeit stattfindet. “Care” scheint für viele weiterhin synonymisch mit “Elternschaft”. In postmigrantischen Familien beispielsweise, wird Care jedoch nicht vorwiegend linear “abwärts” von Eltern zu Kindern, sondern ebenso “aufwärts” von Kindern zu Eltern, Großeltern und “horizontal” zu Geschwistern geleistet. Das liegt zum einen daran, dass in vielen (post-)migrantischen Familien weniger die Konzepte einer reduzierten Kernfamilie gelebt werden (können), aufgrund von fehlendem Wohnraum und den ökonomischen Hürden von externen Pflegeeinrichtungen. Es liegt aber auch daran, dass Kinder für ihre Eltern oft die sprachlichen und organisatorischen Sparings-Partner:innen bleiben, wenn es um Behördengänge, Arztbesuche oder andere Termine geht, bei denen Sprachbarrieren und Bürokratiemauern überwunden werden müssen. 

Das soll nun nicht heißen, dass die Texte, die sich der besonderen Aufgabe der schreibenden Mutter widmen, heute weniger relevant seien, nur, dass unter Umständen die postmigrantische alleinlebende Autorin ohne Kinder, die für ihre Familie verantwortlich ist, Pflege betreibt oder ihre Arbeitszeit in Wartezimmern verpasst, weniger zum Schreiben kommt als die nichtmigrantische Mutter, deren Schreiben und Sorgearbeit in einer Partnerschaft stattfindet, durch die ein familiäres Grundeinkommen bereits gesichert ist.

Olsen hat bereits darauf hingewiesen, dass Diskurse um Mutterschaft nicht ohne Fragen der Klassenzugehörigkeit diskutiert werden können. So bleibt sie in ihrer Untersuchung nicht bei der bloßen Erkenntnis stehen, dass die herausragenden Werke des 20. Jahrhunderts vor allem von kinderlosen Frauen stammen Gertrude Stein, Edith Wharton, Virginia Woolf, sondern verwies zudem darauf, dass diejenigen Frauen, die trotz Mutterschaft literarische Erfolge feierten, schnell zu zählen seien und vor allem: beinahe alle Bedienstete hatten. Konsequenterweise müssen Care-Arbeits-Diskurse heute (wo wir schon beginnen darüber zu sprechen, dass die Abgabe von Care an ökonomisch schlechter gestellte Frauen, keinen inklusiven Feminismus voranbringt, sondern eine “Girl-Boss” Strategie verfolgt) deshalb auch diejenigen mitdenken, die sowohl Brotjobs als auch eigene Care jonglieren müssen und nicht nur immer wieder von den prekären Arbeitsbedingungen im Literaturbetrieb zum Schweigen gebracht werden, sondern “im Vorfeld” schweigen. Über diejenigen, die nicht einmal vom Schreiben träumen können, da ihr Alltag von der Aufrechterhaltung der Grundsicherungen bestimmt wird und/oder von der Übernahme der Care besser gestellter Schreibender. 

Es fehlt eine differenzierte Verwendung des Begriffs “Brotjob”

Auch, dass das Schreiben oft von einem Brotjob begleitet wird, findet langsam aber sicher einen Platz in öffentlichen Debatten, um die Funktionsweisen des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Sammelbände, wie Brotjobs & Literatur, Monographien wie Caroline Amlingers Schreiben, aber auch Einzelbeiträge in Zeitschriften, wie Johannes Franzens Beitrag zur Merkur Ausgabe im Februar ‘22 mit dem Titel Das liebe Geld, Literatur und Autonomie-Ideologie diskutieren, zeigen, wie verwoben und vor allem abhängig die Arbeit Schreibender mit anderen Erwerbstätigkeiten ist. Sei es zusätzlich auf Lesungen fahren müssen, Unterricht in kreativem Schreiben zu geben oder aber einer mit dem Schreiben gänzlich unverwandter Tätigkeit nachgehen, um die Lebenshaltungskosten zu decken, während Vorschüsse zu gering ausfallen oder Artikel-Aufträge ausbleiben. 

Diese Veröffentlichungen und die zu ihnen parallel geführten Debatten in den sozialen Medien leisten ihren Beitrag dazu, das romantische Bild aufzubrechen, eine Person könne heutzutage einzig und alleine vom Schreiben leben. 

Leider laufen diese Debatten zuweilen auf Abwegen, wenn so manche:r etablierte:r Autor:in auch dann von “Brotjobs” spricht, wenn die gemeinten Nebentätigkeiten überhaupt nicht mehr dazu sind, lediglich das Brot leistbar zu machen. Jobs etwa, die eine Verwandtschaft zum Schreiben haben, sei es das Übersetzen, das Lektorieren oder das Redigieren, sind zwar Tätigkeiten, die nicht im engsten Sinne das eigene Schreiben am Text betreffen, aber sehr wohl Arbeiten an der eigenen Rolle innerhalb des Literaturbetriebs sowie an den eigenen Fähigkeiten darstellen. Diese Nebenerwerbe stehen deshalb, selbst wenn sie das ökonomische Kapital aufbessern, nicht “neben” dem Schreiben, wie es etwa der Job hinter der Theke tut und sind so ein klarer Vorteil für Schreibende, wo der Erfolg im Literaturbetrieb, wie Olsen schreibt, in hohem Maße vom kameradschaftlichem Umgang, vom “Klima innerhalb literarischer Kreise” abhängt. Diese Tätigkeiten, die das Klima für einige Teilnehmer:innen am Literaturbetrieb verbessern, mit den branchenfernen Arbeiten unter dem Begriff Brotjob diskursiv in einen Topf zu werfen, verschleiert die Ressourcen, die es braucht um diese Jobs in der Branche zu bekommen – ebenso wie die Ressourcen, die die Ausübung dieser Tätigkeiten wiederum schafft. Vielleicht könnten wir anfangen, bei solchen Nebentätigkeiten von Kuchenjobs zu sprechen. 

Meine Lohnarbeit ist nicht wirklich verwandt mit dem Schreiben, auch wenn ich dort ab und an etwas auf-schreiben soll. Unter anderem deshalb, weil die Vergabe all dieser Jobs, die es wären, immer noch in hohem Maße an Praktika-Erfahrung geknüpft sind – also an unbezahlt abgegoltene Monate, die ich mir während des Studiums schlicht nicht leisten konnte – und an die Kontakte, die währenddessen entstehen. Also arbeite ich neben dem Schreiben etwas, für das es keine Rolle spielt, ob ich Kommunikationswissenschaften studiert hätte, oder, wie es tatsächlich ist, einen Masterabschluss in Literaturwissenschaft habe – solange bis die dort erworbenen Fähigkeiten hoffentlich irgendwann die fehlenden Praktika aufwiegen werden und ich sie mit in den Literaturbetrieb nehmen kann. 

 Es fehlt ein transparenter und antiklassistischer Umgang mit den Produktionsbedingungen von Texten sowie der Besetzung literaturbetrieblicher Stellen

Womit ich mein Geld verdiene, war lange kein Gesprächsthema, wenn ich mit anderen Schreibenden ins Gespräch kam. Schon alleine deshalb, weil ich viele Jahre dachte, es ginge nur mir so. Denn, ungeachtet dessen, dass die Rede von Brotjobs größer wurde, gewisse Jobs haben in Kreisen bürgerlicher Autor:innen und Journalist:innen weiterhin einen schlechten Ruf, insbesondere diejenigen, die ihre Marktzugehörigkeit schlechter verschleiern als der Literaturbetrieb.

Online-Marketing ist ganz sicher einer dieser Jobs. Denn irgendwie hält sich, trotz all der Beiträge in den vergangenen Jahren, die auf das Gegenteil verweisen, nach wie vor der Gedanke, dass das Schreiben eine Tätigkeit sei, die unabhängig von den Imperativen der Verwertbarkeit funktionieren sollte, fern vom schmutzigem Kapitalismus und denjenigen, die dir “nur” etwas verkaufen wollen – Kunst der Kunst wegen. Welch kapitalistischen Maschinen Literaturverlage und große Tageszeitungen sind, scheint sich leichter ignorieren zu lassen als eine Anzeige, die ich für meinen Arbeitgeber in den sozialen Medien schalte. Und selbstverständlich gibt es hinter dieser bewussten Ignoranz Menschen, die von ihr profitieren. Denn die Aufrechterhaltung dieses Mythos zur “Berufung”, die man nur aufgrund von ideellen Ansprüchen ausübt, vereinfacht die Rechtfertigung schlechter Gagen im Journalismus oder Verlagswesen –  schließlich mache man das ja gerne und nicht fürs Geld. 

Bevor Olsen an einem Spätsommertag in einem zu hellen Wartezimmer auf meinem Schoß lag, in der Hoffnung ich würde an diesem Tag endlich mehr als zehn Seiten am Stück lesen, hatte ich das Rezensionsexemplar schon dabei, als ich mich für den Sommerurlaub nach Kroatien aufmachte. Die Urlaubspläne, in meinem Fall Was fehlt fertig lesen und eine Bewerbung für ein Schreibseminar fertig stellen, wichen auch dort schon der körperlichen wie emotionalen Care, die mit einem Besuch in der zweiten Heimat immer einhergeht. Erst in späten Abendstunden habe ich versucht, die losen Fragmente, die ich bisher für dieses größere Schreibprojekt sammeln konnte, in ein Exposé für einen Roman zu pressen. Die Romanform war die Voraussetzung für die Teilnahme an besagtem Schreibseminar. 

Auch das Zögern, das ich empfinde, zu dem zu stehen, was dieses “Schreibprojekt” einmal werden soll (dieses allumfassende Schaudern bei dem Begriff “Buch”) hat etwas mit dem verstummen verschiedener (potenzieller) literarischer Stimmen im Laufe der Zeit zu tun. Denn um es überhaupt zu versuchen mit dem eigenen Schreiben, braucht es ein gewisses Gefühl von entitlement, also das Gefühl, dass die eigene Stimme es wert ist gehört zu werden.  “Wie viel doch nötig ist. Um zu schreiben […] wie viel Überzeugung von der Wichtigkeit des eigenen Wortes, des eigenen Rechts, es auszusprechen. [Schwer genug für jeden Mann, der nicht in eine Klasse hineingeboren wurde, die solches Selbstbewusstsein züchtet. Fast unmöglich für ein Mädchen, eine Frau.”, schreibt Olsen. Mein Schreibprojekt ist kein Roman, ich weiß, dass es nie einer sein wird. Ich tue dennoch so, weil ich 28 bin. Was mein Alter damit zu tun hat? Wer als Autor:in ein Stipendium ergattern will, fällt unter 30 in das Raster der Jungautor:innen, an das eine Vielzahl von Fördermöglichkeiten gebunden sind. Idealerweise verlegt man also vor 30 seinen ersten größeren Text bei einem Publikumsverlag, um sich jenseits der 30 auf Töpfe für bereits verlegte Autor:innen zu bewerben. 

Es fehlt eine inklusive Förderkultur. 

Bereits seit einiger Zeit wird zu diesen teils sehr eingeschränkten und in diesem Fall sogar adultistischen (diskriminierend aufgrund des Alters) Förderkriterien Kritik laut, wie im April 2022, als die Ausschreibung für den Wortmeldungen-Förderpreis der Crespo Foundation auf Instagram und Twitter für Aufsehen sorgte. Auch hier sollten ausschließlich Autor:innen unter 30 gefördert werden. Veränderung passiert jedoch trotz der Kritik nur langsam. Alleine deshalb, weil die Situation so prekär ist, dass es Schreibenden gar nicht möglich ist, sich bei bestimmten Förderern, deren Werte sich nicht mit den eigenen decken, nicht zu bewerben. Es ist die “Verzweiflung, die in dem sonderbaren System des bloßen Existenzminimums, das wir uns für unsere Kunstschaffenden ausgedacht haben, jene Berge von Bewerbungen um Stipendien der Stiftung […] erklärt”, schreibt auch Olsen. 

Als ich die Bewerbung für das besagte Schreibseminar abschickte, wusste ich bereits, dass ich meinen Text zu etwas zurechtgeschnitten hatte, das er nicht war. Denn das lineare Schreiben passt weder zu dem Thema meines Schreibprojekts, in dem es primär um die Unzuverlässigkeit von Familienerinnerungen geht, noch zu meinem Alltag. Wie lange müsste man am Stück am Schreibtisch sitzen, um etwas Zustande zu bringen, in dem am Ende mehr als zehn Seiten kohärent zusammen gehören sollen? Vielleicht gibt es auch Textformen, die sich mit der Care-Arbeit und dem eigenen ökonomischen Stand schlechter vereinbaren lassen, als andere. Vielleicht braucht man für manche Textformen mehr Zeit und “Fülle des Ichs”, das ganz bei sich und dem eigenen Schreiben sein? Wie die Autorin Julia Wolf in ihrem Vorwort zu Was fehlt, frage ich mich auch: “welche anderen literarischen Formen entsprechen meinen Lebensumständen vielleicht besser als der viel beschworene “große Wurf” des Romans?”.

Dass ich nach meiner Rückkehr aus Kroatien eine Absage für das genannte Schreibseminar im Briefkasten hatte, überraschte mich nicht weiter, schließlich war es nicht mehr mein Text, den ich da in meiner „Förder-Panik“ einreichte. Aber über die Schreib-Form(en), die einem unterbrochenen Alltag möglicherweise gerechter werden als der Roman, über die dachte ich noch lange nach. 

Noch vor dem Sommer war ein Text von mir und einer lieben Co-Autorin erschienen, der ein schriftlicher Dialog über unsere soziale Herkunft ist. Wochenlang haben wir uns in einem Google-Doc mal lange Briefe, mal fragmentarische Notizen hinterlassen, bis wir 90 Seiten über Klassendiskriminierung, Antislawismus und Bildungsaufstieg gefüllt hatten. Es hätte bei diesen emotionalen und großen Themen ein beschwerliches Schreiben sein können, und war doch eines der leichtesten – auch, weil es nicht nur aus mir selbst heraus produziert werden musste. Wenn ich nach Tagen ohne zu schreiben in das Doc zurückkehrte, war da immer etwas, das wartete: ein Impuls, eine Frage, ein Widerspruch, etwas, das mir half anzuknüpfen, schneller aus einem unterbrochenen Alltag zurück ins Schreiben zu finden, als die gähnende Stille im alleinigen Schreiben. Das gemeinsame Schreiben half uns “das Genie [in uns zu] töten”, ein Akt, den Julia Wolf als obligatorisch sieht, wenn Care-Arbeitende unter jetzigen Bedingungen des Literaturbetriebs schreiben wollen. Nach diesem dialogischen und impulsiven Schreiben wieder alleine an etwas zu arbeiten, wie eine simple Rezension, fühlte sich an wie durch ein schunkelndes Fahrwasser zu navigieren, der mein Alltag ist – in dem es nicht leistbar ist, als “Insel” zu schreiben. Ein Alltag, in den ein lineares Schreiben, langes Schreiben, tiefes Schreiben einfach nicht hineinpasst. 

Mittlerweile war es Herbst und ich hätte immer noch einige Wochen gehabt, um die Rezension pünktlich zum Erscheinungsdatum der deutschen Erstübersetzung von Olsens Silences zu schaffen. 

Doch zwischen den weiter folgenden Arztterminen, Gips-Wechseln, Nachsorge und dem panischen Nacharbeiten der immer weiter steigenden Minusstunden auf meinem Arbeitszeitkonto im Herbst ‘22 werden zwei wichtige literarische Preise vergeben und ich ärgere mich mehr über Geschriebenes als dass ich selbst schreibe. Zuerst geht der Literaturnobelpreis an die französische Autorin Annie Ernaux. Man freut sich in einem Teil der Inklusion fordernden Literatur-Blase: eine Frau, die über gesellschaftliche Tabus wie Schwangerschaftsabbrüche schrieb, ein Arbeiterinnenkind dazu, hat nicht nur eine Stimme, sondern internationale Anerkennung gewonnen. Man freut sich aber nur solange, bis man sieht, was Teile des konservativen Feuilletons zu ihr zu sagen haben. Es scheint mehr über ihre Statur und ihre Wirkung als Frau zu lesen zu sein, als über ihre Texte. Da war ich kurz der Illusion verfallen, Nicole Seiferts Frauenliteratur hätten nun auch alle Kritiker:innen gelesen und so etwas sexistisches und vor allem werkfernes traue sich niemand mehr. Hoffnungslos naiv zu glauben, alle hätten die wichtigen Thesen eines Buchs verinnerlicht, das 2020 Jahr erschienen ist – wo doch Tillie Olsen bereits in den 70ern schrieb: “Selbstzweifel; all jene Stunden, in denen die eigene Ernsthaftigkeitt hinterfragt, sich über das eigene Aussehen verrückt gemacht, die Konzentration in Fetzen gerissen wird, bis nichts bleibt […], da nur das für schätzungswert gilt (und ist), was auf Männer attraktiv wirkt.” Wenn man nun Denis Scheck liest, der Annie Ernaux als erotische und zugleich fragile Pippi Langstrumpf beschreibt, scheinen Texte wie Norman Mailers misogyne Reklame für mich selber kaum ein paar Tage alt zu sein. Immer noch geschieht also, was auch Olsen beobachtete: “die abschätzige Reaktion auf ein Buch nicht aufgrund seiner Qualität oder seines Inhalts, sondern aufgrund der bloßen Tatsache, dass es von einer Frau verfasst wurde”.

Alles, was Olsen über Frauen schreibt, müsste man heute für alle marginalisierten Gruppen schreiben. 

Denn kurz nach dem Gewinn für Annie Ernaux gewinnt Kim del Horizon mit Blutbuch den deutschen Buchpreis. Ein Text über eine nicht-binäre Erzählfigur, die ihr familiäres Trauma zum Thema macht, von einer nicht-binären schreibenden Person. Es ist ein historischer Gewinn mit einer eindrücklichen, medienwirksamen Performance bei der Verleihung, die Kim mit einer Rasur der eigenen Haare und einer politisch engagierten Dankesrede den protestierenden, inhaftierten und ermordeten Demonstrierenden im Iran widmet. Auf Social Media lassen die Vorwürfe nicht lange auf sich warten. Schnell wird infrage gestellt, ob das Buch denn auch “gut” sei, oder schlicht aufgrund seiner politischen Aktualität gewonnen hätte – oder schlimmer noch: weil sich das Gremium lediglich möglichst divers präsentieren will. Und auch Besprechungen verschiedener Feuilletons beleben daraufhin die alte Debatte von “Qualität vs. Identitätskultur” wieder. Ich erinnere mich an Miryam Schellbach, die bereits früher im Jahr zur Verleihung des Bachmann-Preises, gegen diese ewige Diskussion schlicht festhielt, dass im Grunde jede Literatur immer Identitäten verhandele und es sich deshalb hierbei um einen konstruierten Scheinwiderspruch handelt, der gerne von all denjenigen politisch instrumentalisiert wird, die in der Literatur gerne alles beim alten belassen wollen. 

Die Frage von “was fehlt”, heißt im Umkehrschluss vielleicht auch: was ist zu viel? 

Beiträge, die diesen Scheinwiderspruch künstlich am Leben halten, sind – im Vergleich zu sogenannten “identitätspolitischen Texten”, die vermeintlich den Buchmarkt dominieren, in jedem Fall zu viel. Vielleicht kommt das von Florian Kessler im Oktober 2022 herausgegebene Hanser Akzente Heft zur Frage “Was ist gute Literatur” genau zum richtigen Zeitpunkt – nicht weil sich nicht auch hier unter den vielzähligen Autor:innen, die in dem Band auf Kesslers Frage antworten, akademisierte und zum Teil sicher auch limitierende Antworten gegeben werden, sondern aufgrund der Diversität der Antworten, die in ihrer Fülle wieder einmal das literaturkritische Kriterium “Qualität” als ein durch und durch prekäres Instrument zur Kunstkritik entlarven. Olsen fand diesen Gegensatz “Identität” vs. „Qualität“ ebenfalls zu unterkomplex und zitiert in ihrem Essayband Virginia Woolfs Vorwort zu So haben wir gelebt: Englische Arbeiterinnen erzählen, die darin schreibt: “Ob das Literatur ist oder nicht, maße ich mir nicht an zu entscheiden, aber dass es viel erklärt und viel enthüllt, ist gewiss.”

Worauf Olsen schlicht hinzugefügt: “Literarische Größe […] steckt auch in dem, was viel erklärt und viel enthüllt (was zugleich der Nährboden für große Literatur ist).” Und auch einen weiteren relevanten Punkt setzt Olsen bereits vor 50 Jahren der Ecke des Feuilletons entgegen, in der regelmäßig behauptet wird, es sei nun auch einmal gut mit der “Migrationsliteratur” und den anderen Marginalisierten-Geschichten, da Inklusion doch ohnehin langsam erreicht sei, nämlich der Hinweis auf ein weiteres Schweigen in der Literaturgeschichte: “dem Schweigen nach dem ersten Buch”. 

Inwiefern wir uns also mit Ehrung, wie der von Kim, wirklich auf einem Weg zu mehr Inklusion befinden, bleibt in den kommenden Jahren abzuwarten. Bis dahin bleibt klar, dass, solange Rezensierende und Redakteur:innen, wie zuletzt Joachim Scholl vom Deutschlandfunk Kultur im Gespräch mit dem Verleger Jo Lendle, bei einem Autorin:Autor-Verhältnis in den Frühjahrsvorschauen 2023 des Hanser Verlags bei 8:14 den Eindruck haben, das seien ja “fast 50%” bleibt Olsens Text hochaktuell, denn: “selbst ein Verhältnis von eins zu sechs oder eins zu fünf würde nicht Grundlegendes ändern. Jedes Verhältnis außer eins zu eins fordert die Frage hinaus: Warum?”. Wenn wir nun Abstand davon nehmen, das Teilhabe-Problem lediglich als gender-binäres zu begreifen, muss die Feststellung heute jedoch leicht abgewandelt werden: 

Jedes Verhältnis außer jenes, das unsere diverse Gesellschaft prozentual abbildet, fordert die Frage hinaus: Warum?

Ich habe Was fehlt nach dem vierten Arztbesuch mit meiner Großmutter beinahe fertig gelesen, meine Minusstunden im Job traue ich schon gar nicht mehr ansehen, aber geschrieben habe ich meine Rezension immer noch nicht. Dafür füllt sich nebenher die Notizen-App in meinem Handy mit weiteren Themen und Artikel-Drafts, die ich umsetzen könnte, wenn ich den Olsen Text irgendwann fertig geschrieben habe. Zwischendurch überlege ich, ob ich einfach eine Kolumne mit dem Titel “5 Texte, die ich diesen Monat fast geschrieben hätte” starten soll, einfach um irgendetwas mit diesen hoffnungslos optimistischen Ideen zu tun, die ich auf-schreibe, wenn ich nicht schreibe. 


[Fertiggestellt wurde der Text nun letztlich nur aufgrund „gewonnener“ Zeit durch eine Erkrankung und eine damit verbundene “Arbeitsunfähigkeitsbescheinung”. Oh the irony]

Foto von Christin Hume auf Unsplash

Der Tampon in der geballten Faust

von Any Woman

Während ich schreibe zieht der Schmerz am hinteren Bein entlang bis in den Fuß. Er kommt unterwartet und wirft meinen Atem aus seinem Rhythmus. Ich mag nicht Luftholen, will nur warten, dass er sich verzieht, dieser Schmerz, der ruhelos durch meinen Körper wandert. Ich liege im Bett, im Rücken eine Wärmflasche, eine auf dem Bauch, zwei Paracetamol und einen Krampflöser im Magen, ich habe trotzdem Schmerzen. Meine Brüste tun wegen der Wassereinlagerungen schon seit Tagen weh. Dann diese Müdigkeit, das Gefühl, jemand drücke langsam die Luft aus mir heraus, wie aus einem labbrigen Ballon, der im Gebüsch vor dem Standesamt auf sein Ende wartet.

Dazu kommen die extrem starken Blutungen. Ich benutze die größten Tampons, die es gibt, häufig reichen sie dennoch nicht, dann wache ich in einer Blutlache auf. Neuerdings wecken mich an schlimmen Tagen meine Schmerzen auf, manchmal auch mehrfach in einer Nacht. Ich bin Menstruations-Profi, ich kenne alle Tricks der Schmerzbekämpfung, besitze eine Ansammlung von Wärmflaschen, für den Notfall habe ich Tabletten vom Hexenschuss aufgespart, die den Schmerz nicht an das Gehirn melden. Ich weiß auch genau, wann das Zeitfenster ist, wenn Selbstbefriedigung den Schmerz lindert und Krämpfe löst. Das Glück, sich für einen Moment von der dauernden Anspannung zu lösen. Manchmal muss man dafür teuer mit neuen, intensiveren Krämpfen bezahlen.

Nach zwei bis drei Tagen normalisiert sich alles wieder, die Wassereinlagerungen verschwinden. Meine Menstruation ist so verlässlich wie unzuverlässig. Sie richtet sich nicht nach der Norm von 28 Tagen und ob ich am dritten Tag wieder mein Leben, mein Arbeiten wieder aufnehmen kann, entscheidet sich spontan. Heute ist der dritte Tag und ich möchte eigentlich nur schlafen und kitschige Filme gucken. Seit einiger Zeit beginnen die Blutungen gerade dann, wenn ich sie gar nicht brauchen kann: unmittelbar vor Vorträgen, an wichtigen Arbeitstagen, bei Familientreffen und natürlich bei Dates. Verlässlich sind nur die wiederkehrenden Schmerzen, die Mengen an Blut, die Muskelbewegungen aus meinem Körper pressen. Verlässlich ist auch die Sorge, der Tampon, die Menstruationstasse sei voll, der Weg zur nächsten Toilette zu weit. An den ärgsten Tagen bin ich am liebsten in der Nähe meiner eigenen. Seit einigen Jahren arbeite ich in einem neuen Gebäude mit neuen, sauberen Toiletten, zum ersten Mal in meiner über 30jährigen Menstruationskarriere.

Als der Hausarzt vor einiger Zeit Eisenmangel bei mir feststellt, schickt er mich ohne Absprache zu einer Magen- und Darmspiegelung. Meine Großmutter hatte Darmkrebs, ich bin panisch. Mit dem Darm ist alles in Ordnung, aber meine Monatsblutungen sind in den letzten Monaten noch viel extremer. Ich schlafe nachts mit einem Handtuch zwischen den Beinen. Danach fragt mich meine Hausarzt aber nicht, obwohl es bei Eisenmangel bei Frauen meines Alters absolut naheliegend ist. Mein neuer Hausarzt will später wissen, warum ich in meinem Alter denn schon eine Magen- und Darmspiegelung hinter mir habe. Als ich ihm den Grund nenne, zuckt er mit den Achseln, die Menstruation hätte man eben nicht so im Blick. Jede vierte Person auf der Welt menstruiert regelmäßig, also im Schnitt auch ein*e von vier Patient*innen. Wieso hat man das als Allgemeinmediziner nicht im Blick?

Ich brauche schnell einen Termin und gehe zur Vertreterin meiner Gynäkologin. Nach der Untersuchung sieht sie ratlos aus, denn in meiner Gebärmutter haben sich mehrere Myome ausgebreitet. Sie sind für die starken Blutungen verantwortlich. Krebs könne sie weitgehend ausschließen, um sicher zu sein, müsse man aber ein MRT machen, sagt sie. Dafür bekomme ich frühestens in drei Monaten einen Termin. Ich entscheide mich für eine Operation. Bis zur OP sieben Wochen später begleitet mich die Aussicht auf Krebs, ich schiebe sie weg. Die neue privaten Krankenversicherung stuft mich derweil als Risikopatientin ein: wegen der Myome und wegen der Magen- und Darmspiegelung.

Die Myome lasse ich mir in einer Klinik entfernen, die auf Spätgebärende spezialisiert ist, denn ich will meine Gebärmutter behalten. Dafür muss ich kämpfen, denn ich bin Mitte 40 und da braucht man die Gebärmutter ja nicht mehr. Mit einer Hysterektomie sind Frauenärzte noch immer nicht zimperlich, der angeblich inklusive Begriff „Menschen mit Uterus“ hat medizingeschichtlich einen höchst bitteren Beigeschmack und braucht ganz dringend Ersatz. Myome sind gutartige Gewächse, sie wachsen besonders in der fünften Lebensdekade, man muss ihretwegen keine Organe entsorgen, die keineswegs nur einer Schwangerschaft dienlich sind.

Bei der OP werden sie zertrümmert, in einem von tausend Fällen ist es doch Krebs, dessen Zellen man dann im ganzen Körper verteilen würde, werde ich vorab informiert. Ob ich nicht doch eine Hysterektomie vorzöge. Auch die mich behandelnde Ärztin mault beim post-operativen Gespräch, was der Erhalt denn solle, bei der Diagnose. Das nächste Mal müsse sie dann aber raus, raunt sie. Das nächste Mal, denke ich, bin ich privat versichert und dann operiert mich deine Chefin. Erst nach Weihnachten erfahre ich, dass der histologische Befund unauffällig ist. Die ersten drei Perioden nach dem Eingriff sind erfreulich unauffällig, danach ist alles wieder beim Alten und schlimmer.

Ich hätte gern ein Gesetz wie in Spanien, das Krankheitstage für Menschen mit Hypermenorrhoe und anderen starken Menstruationsbeschwerden vorsieht. Dann müsste ich nicht immer vortäuschen, an etwas anderem erkrankt zu sein, wenn ich vor Schmerzen kaum aus dem Bett komme oder panisch bin, bei der Arbeit so starke Blutungen zu haben, dass ich es nicht mehr bis in die nächste öffentliche Toilette schaffe, es alle mitbekommen. Ich würde gern sagen können: ich kann nicht zur Arbeit kommen, weil ich mich vor Schmerzen winde, nicht zuhören kann und mich fühle, als rausche die ganze Welt durch mich hindurch. Stattdessen melde ich mich zwei Tage krank, am dritten dann wieder gesund, dann benötige ich keinen Nachweis und keinen Arzt. Das tun zu können, Zugang zu Hygieneprodukten, Schmerzmitteln und Krankentagen zu haben, ist ein Privileg, ich weiß.

Überhaupt fällt es so schwer, Worte zu finden für das Menstruieren, in ein Gespräch über dessen Beschwerlichkeiten zu kommen. Wie oft habe ich von Frauen gehört „Damit habe/hatte ich ja keine Probleme“, wenn ich gesagt habe, es geht mir nicht gut. Es ist mir unangenehm, deshalb bei der Arbeit zu fehlen. Ich bin ja eigentlich nicht krank, müsste das doch aushalten können. Andere gehen dann schließlich zum Bouldern. Öffentlich macht uns das Menstruieren ja allen nichts aus, wir sind leistungsstark und machen in dieser Zeit Sport und alles andere wie immer, so will es das Werbenarrativ der Hygieneindustrie. Ich freue mich für alle, denen es so geht. Ich aber bin jedes Mal erleichtert, wenn ich am Wochenende menstruiere, wenn es privat ist, in meiner Komfortzone.

Das Thema ist so voller Scham, nur ein funktionierender Unterleib ist ein erzählbarer Unterleib. Dem erhofften Liebhaber kann ich nicht sagen, dass meine Gebärmutter voller Myome steckt, obwohl ich es ihm gern sagen können würde. Wie ich gerade das Organ verteidigen muss, mit dem ich ihn gern in entfernte Berührung brächte, warum ich mehr behalten will, als nur meinen Gebärmutterhals. Der wird nämlich auch deshalb stehen gelassen, damit er den Beckenboden stabilisiert. Einem anderen guten Freund kann ich nie sagen, wie es mir wirklich geht, beschreiben, was mit mir passiert, stattdessen fasele ich von „Frauenleiden“ oder „Wärmflaschentagen“ und bin wütend auf mich selbst. Nur mit den engen Freundinnen war und ist es anders.

Die weitgehende Sprachlosigkeit begleitet mich schon seit Periode Eins. Meine erste Monatsblutung habe ich im Krankenhaus, nach einer Routineoperation erlebt. Vollkommen unerwartet wache ich im Bett voller Blut auf, es dauert ewig, bis ich frische Kleider und neue Bettwäsche bekomme. Ich bekomme Krankenhausbinden, die ständig verrutschen. Niemand redet mit mir, fragt mich, wie es mir geht. Ich habe mir das schon gedacht, sagt die Krankenschwester bedeutungsvoll zu meiner Mutter, als sei sie eine Expertin für meinen Körper. Ich bin bei meiner ersten Periode schon 14 und spät dran. In der Schule hat fast niemand Worte für das, was jeden Monat mit uns allen passiert, was einige von uns aus der Bahn wirft, quält.

Ich hatte lange nicht verstanden, warum man nicht schwimmen oder beim Sport mitmachen kann, weil die Tante zu Besuch ist, warum das Wort Periode oder Menstruation so unaussprechlich ist, selbst in der Mädchenumkleide. Tampons reichen wir uns heimlich weiter, in der geballten Faust oder hinter dem Rücken, so als würden wir Drogen verticken. Wenn wir eines brauchen, flüstern wir miteinander. Rollt der Tampon auf den Klassenfußboden, dann sind das Momente größter Scham, sogar heute ist es mir noch peinlich, wenn es mir etwa im Zug passiert.

Wären Tampons in meiner Schule, an meiner Uni einfach auf den Toiletten öffentlicher Institutionen verfügbar gewesen, so wie es heute immer üblicher wird, hätte das meiner Generation vielleicht viel Scham erspart, ein anderes Sprechen ermöglicht, nicht nur in mit der besten Freundin, der das Gerede von der Tante zu Besuch auch zu blöd war. Dennoch: Ich habe diesen Text im Ordner privat gespeichert, ich habe ihn voll Sorge einer Freundin zum Lesen geschickt, ob sie meine Aufzeichnungen vielleicht völlig unpassend findet. Mein Name steht nicht darüber, denn ich will schließlich nicht vor allem die sein, die schlimm menstruiert. Vorerst bleibt der Tampon in der geballten Faust.

Titelfoto von Josefin

Wovon wir sprechen, wenn wir Versöhnung sagen oder: Wer fabriziert hier wem einen Popo?

von Mia Raben

Ich bin ein von innen verschmutztes, kluges, auffällig musikalisches, ordentlich frisiertes Mädchen mit Kragen. Ich bin irgendwie anders, aber sympathisch, denn ich bin anpassungsfähig. Ich lese den Erwachsenen ihre Wünsche aus den Gedanken ab, bevor sie sie selbst formulieren können. Zum Beispiel: Zeige dich lässig und unbeeindruckt vom Reichtum deiner Freundinnen und Freunde. Tu so, als sei es ganz normal, vier Mercedesse vor dem Haus stehen zu haben, alle mit fast gleichem Kennzeichen, immer Hamburg und die Initialen meiner Freundin. HH-DH. Tu so, als gehörtest du dazu. Als hättet ihr in der Familie dieselben Rituale, wie alle anderen auch. Lindenstraße gucken. Das Auto waschen. Sonntagsfrühstück. Mahlzeiten immer zur selben Zeit. „Wir essen immer um 18.30 Uhr”, höre ich mich sagen. Das ist nicht wahr. Wir essen, wann es uns in den Kram passt. Manchmal erst um neun. Damit das nicht rauskommt, und auch andere Dinge nicht, die bei uns „komisch“ oder anders sind, übernachte ich lieber bei meiner Freundin, anstatt sie bei mir. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Erst zwei Jahrzehnte später werde ich erleichtert feststellen, dass meine Kinder gern andere Kinder zu uns zum Übernachten einladen.

Schamhafte Wahrheiten. Wie sich ihnen nähern?

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Nachdenken über Leben, Kunst und Kollektive

von Barbara Peveling

In ihrem Buch „Schäfchen im Trockenen“ reflektiert Anke Stelling über den Zusammenhang von Gemeinschaft und einem Leben mit der Kunst. Ihre Protagonistin kann bei den Anforderung der Leistungsgesellschaft nicht mithalten und wird deswegen ausgegrenzt. In dem Roman erwähnt sie auch das Kinderbuch von Leo Lionni. In „Frederick“ erzählt dieser die Geschichte einer Maus, die nicht, wie die anderen Mäuse, Vorräte für den Winter sammelt und verteidigt so den Beruf des Künstlers als singuläre Figur in der Gesellschaft, die scheinbar nichts tut. Während alle arbeiten, sammelt Frederick statt Reserven, einen Vorrat an Geschichten für einen langen Winter. Das Kinderbuch ist eine gesellschaftliche Utopie, in der am Ende alle ihre Ressourcen miteinander teilen, ob Kunst oder Nahrung, alles hat denselben Stellenwert, und hilft dabei, Krisenzeiten zu überstehen. In der Realität stehen die meisten Künstler*innen aber am untersten Ende der kapitalistischen Nahrungskette und müssen sich ihren Lebensunterhalt oft mit sogenannten Brotjobs finanzieren. 

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Ein schöner Tod

von Susanne Wedlich

Mein Vater ist am 31. Oktober 2020 um 16.34 Uhr gestorben. Es war ein schöner Tod. Für ihn, davon bin ich überzeugt, aber auch für uns. „Das war genau richtig so“, sagte meine Tante. „Das war schön“, sagte meine Schwiegermutter, nur um sich gleich zu verbessern: „Schön“ sei natürlich das falsche Wort. „Das war eine schöne Zeit“, sagte meine Mutter, brach in Tränen aus und bekräftigte dann: „Doch, es war schön.“ Das zu schreiben fühlt sich morbide an, aber es stimmt. Der Tod meines Vaters war schön, auch wenn das Wort zu kurz greift, zu flach, beliebig und alltäglich ist. Sein Tod war dunkel und voll Schmerz, aber auch existenzieller und intensiver als alles andere, was ich zuvor je erlebt hatte. 

„Ich lernte, dass Sterben, aus nächster Nähe, nicht das ist, was man sich vorstellt“, schreibt die britische Palliativmedizinerin Rachel Clarke. „Denn die Sterbenden sind am Leben, wie alle anderen. Das ist die Quintessenz des Lebens – des schönen, bittersüßen, zerbrechlichen Lebens…”[1] Es geht nicht um Ästhetik oder darum, einen schrecklichen Verlust zu verklären, auch wenn das möglich ist, wie der Journalist Bartholomäus Grill anhand der Reaktionen auf den Doppel-Selbstmord zweier Teenager beschreibt: „Der Tod wurde zum Verbündeten, zum schönen, süßen Tod, wie ihn die Romantiker glorifiziert hatten.“ Es geht auch nicht um die Kunst des Sterbens, eine auf das Jenseits gerichtete, aber lange aus der Mode gekommene Ars moriendi

Uns als Familie fehlt der Bezug zur Religion, auch wenn sich eine Assoziation unvermutet aufdrängte. „Er sieht wie ein geschundener Heiland aus“, dachte ich, als ich meinen Vater Tage vor seinem Tod reglos liegen sah. Fast nackt, weil er keinen Stoff auf der Haut ertrug, eingefallen und, ja, blutig geschunden, weil er unablässig Pflaster abriss, Nadeln aus dem Arm zog und selbst im Schlaf mit den Fingern im Gesicht kratzte, um sich vom Sauerstoffschlauch in der Nase zu befreien. 

Der gemarterte Körper allein war es aber nicht, es ging noch mehr um die Würde, die mein Vater ausstrahlte. Mehr Würde, als die Gesellschaft und wohl auch wir ihm wie allen gebrechlichen Alten bis dahin zugestanden hatten. Nie war er offenkundig älter und kränker, fragiler und hilfloser gewesen als in diesen Tagen. Nie kam er mir stärker, stolzer und über jedes Urteil erhaben vor. Gabriele von Arnim hat die Würde ihres Mannes bewundert, der fast über Nacht zum schweren Pflegefall wurde. Seine Würde konnte er auch in scheinbar entwürdigenden Situationen behalten. Es sei seine „innere Unabhängigkeit“ gewesen, sagt von Arnim in einem Interview. 

Kann das auch gelten, wenn Menschen nur dahindämmern? Würde hängt zum Glück nicht von äußeren Umständen ab. Mehr noch, zum ersten Mal verstehe ich nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, wie machtvoll das Bild sein kann von einem Gottessohn, der jämmerlich am Kreuz verreckt. Zumindest in Gesellschaften und bei Menschen, die Siechtum und Tod nicht so entfremdet sind wie ich. Ich erlebe diese existenzielle Krise zum ersten Mal mit fast 50 Jahren. 

„In der heutigen entwickelten Welt ist es möglich, eine ganze Lebenszeit lang zu leben, ohne jemals den Tod direkt zu Gesicht zu bekommen…”, schreibt Clarke. „Vor weniger als einem Jahrhundert war diese Entfernung vom Sterben unvorstellbar. Unweigerlich schieden wir so aus der Welt, wie wir in sie hineingekommen waren, inmitten unserer Familien, hautnah und persönlich, nicht von Krankenhauslaken umschlungen, sondern von der Intimität unseres eigenen Zuhauses.” [2]

Ich war nicht vorbereitet, habe mir den Tod meiner Eltern als eine Art Orkan vorgestellt, der unweigerlich über mich hinwegziehen wird. Meine passive Rolle: Ducken, warten und dann den Rest meines Lebens notdürftig mit der Verwüstung leben. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ich das Sterben meines Vaters als lebensbejahend erleben werde. Wenn es diese Geschichte gibt, so kenne ich sie nicht, nur den Tod als Erlösung aus unerträglichen Schmerzen oder als Ansporn für die Hinterbliebenen, das eigene Leben bewusster zu leben.

Das macht aber noch keinen schönen Tod aus. Eine Voraussetzung dafür ist sicher ein guter Tod, den ich als Abwesenheit von Faktoren definiere, die das Sterben unerträglicher und den Verlust unverzeihlicher machen können. Die Sollbruchstellen – oder eher Mussbruchstellen – waren auch bei uns offenkundig: die Umgebung, die Nähe, der Körper. Wir hatten Glück. Mein Vater ist nicht im Krankenhaus gestorben, sondern daheim. Er war nicht allein, sondern in unserer Mitte. Er musste keine unerträglichen Schmerzen leiden. 

Der schöne Tod war aber noch mehr als eine Abwesenheit, auch wenn mir die Worte dafür fehlen. Vielleicht hilft ein Bild: Es war eine Welle wie eine Naturgewalt, die uns mitgerissen und über unseren Schmerz getragen hat. Es tat und tut immer noch sehr weh, natürlich, aber wir sind nicht zerbrochen oder mussten uns erst wieder zusammensetzen. Wir haben überlebt mit einer empfindlichen Narbe. Fast als ob die klaffende Wunde seines Verlustes so schnell verheilt wäre wie sie geschlagen wurde. Anders: Wir haben den Verlust meines Vaters erlebt und erlitten und gleichzeitig ihn ertragen gelernt. 

Vielleicht habe nur ich als Tochter gespürt, dass sich ein Kreis zwischen uns geschlossen hat, auch weil ich mich in seinen letzten Tagen um ihn wie um ein Kind gekümmert habe. Ganz selbstverständlich gehörte zur Pflege eine ungewohnte Körperlichkeit. Ein Geschenk. Rachel Clarke hat dies ähnlich nach dem Tod ihres Vaters erfahren: „Dass ich meinen Vater waschen kann, so, wie er mich einmal gewaschen hat, ist eine Ehre, ein Geschenk, ein letzter Liebesbeweis, ein Moment unübertroffener Intimität.“ [3]

In seinen letzten Tagen war Kommunikation mit meinem Vater kaum mehr möglich. Wir sind trotzdem zusammengewachsen, haben Reibungspunkte und Konflikte ohne viele Worte wegfallen lassen. „Zwischen uns eine Stille, eine sanfte Stille und darin eine überraschende Harmonie, ein Einklang zwischen ihm und mir. Was im Leben so oft gefehlt hatte, schien uns im Sterben zu gelingen“, schreibt von Arnim über ihren so lange leidenden Mann. 

Die Vorgeschichte meines Vaters war weniger drastisch und ist schnell erzählt: Vorerkrankungen, auch eine Herzschwäche, dann ein schwerer Infarkt und OP, Rippenbrüche und eine Lungenentzündung. Ganz alltäglich in Deutschland, aber eben auch nicht: Im Jahr 2020 war jede Krankheit, jedes Sterben, jeder Tod im Krankenhaus von Corona überschattet. Nur eine Stunde pro Tag durfte meine Mutter in die Klinik, ich habe mit meinem Vater telefoniert. Oft war er hellwach, manchmal auch verwirrt oder weggetreten. Aus der zeitlichen Distanz scheint mir, sein Organismus war schon damals möglicherweise unaufhaltsam ins Trudeln gekommen. 

Zunächst ging es ihm aber so viel besser, dass er fürs Krankenhaus nicht krank, fürs Pflegeheim aber auch nicht stabil genug war. Ein versorgerisches Niemandsland. Sein geistiger Zustand war ein Problem, wenn ein paar fest in seinem Kopf verankerte Ideen die Wirklichkeit überlagerten. Seit einer nicht plangemäß verlaufenen Operation vor Jahren fühlte er sich von der deutschen Ärzteschaft verfolgt, überwacht und kontrolliert. Und davon ließ er sich nicht abbringen. Ich vermute, dass das eigentliche Problem tiefer lag: Er war als Patient nicht richtig aufgeklärt worden, fühlte sich als Mensch übergangen und seiner Würde beraubt. 

Seine selbstgewählte Mission bestand darin, die Öffentlichkeit vor Ärzten zu warnen, die über die Köpfe ihrer Patienten hinweg schwerwiegende Entscheidungen treffen. Was ich hiermit übernehme: Ob sie ihn nicht heimnehmen wolle, wurde meine Mutter von einem Arzt gefragt. In Ermangelung anderer Optionen stimmte sie zu, ahnte aber nicht, dass ihr von einem Tag auf den anderen ihr schwerkranker Mann vor die Füße gelegt werden würde. Bewegungsunfähig und mit tropfendem Blasenkatheter. Ohne Ausstattung, ohne Krankenbett, ohne Unterstützung. 

Nur meine Mutter, Mitte 70 und mit kaputter Hüfte. Um meinen Vater zur Couch zu bringen, habe sie ihn halb auf dem Rücken tragen und halb ziehen müssen, erzählte sie mir später. Seine Beine hochlegen? Daran sind sie trotz gemeinsamer Anstrengung gescheitert. „Ich dachte, wir legen uns jetzt beide auf den Boden und sterben“, sagte sie. 

Meine Mutter lebt ihr Leben nach zwei Grundsätzen: „Wir schaffen das schon“ und „Das wird schon wieder“. Hier habe sie aber die Koordinatorin der Klinik (welche Koordination?) so angeschrien, dass die sich nur noch den Ton verbitten konnte. Ich bin sehr stolz auf meine Mutter. 

Und mein Vater kam wieder in die Klinik, wo sich dann plötzlich doch eine neue Option auftat. Eine Einrichtung, die auch ältere Menschen mit unzuverlässiger Bodenhaftung in der Realität aufnimmt. Für uns war das die Rettung und für mich eine Art Unterwasserwelt. Die Zimmer gingen links und rechts vom Gang ab, auf dem unablässig Patienten im gedämpften Licht drifteten, langsam ihre Runden drehten, schlurften und trippelten. 

Der Alt-Rocker mit Lederjacke und Stahlwollbart bis auf die Brust war völlig in sich versunken. Der Herr, der mit steifem Kreuz im Rollgestell steht, beäugte mich nur aus den Augenwinkeln. Die zierliche Dame mit den weißen Haaren lachte immer alle freundlich an. Einmal traf sie mich mit verweinten Augen an, blieb stehen, lächelte ihr strahlendstes Lächeln und sagte: „Wäre es nicht schön, wenn wir alle schon im Himmel wären?“

Von bizarren Begegnungen abgesehen blieb hier aber alles ruhig. Die Fürsorge für meinen Vater und auch für uns war greifbar. Wir wussten nicht, dass Pflege in Deutschland so aussehen, so zugewandt und respektvoll sein kann. Das hat mit dem Personal zu tun, vor allem aber mit der Arbeitssituation. Hier ist Zeit für jeden Menschen, für die im Bett und für die auf dem Stuhl daneben. An einem besonders schweren Morgen brachte eine Schwester meiner Mutter Frühstück und führte sie untergehakt eine kleine Runde durch den Garten. 

Trotzdem war es schwer, meinen Vater so zu sehen. Kälte schien er nicht mehr zu spüren, tolerierte weder eine Bettdecke noch ein Laken oder Nachthemd. Pflaster kratzte er sofort und selbst im Schlaf ab. Schläuche riss er sich aus der Nase und Nadeln aus dem Arm. Zerschunden sah er aus, übersät mit Kratzern und Blutergüssen. An seinem Unterarm, der flach auf dem Bett lag, war der rote Pegel bis zur Hälfte gestiegen. Hier hatte er eine Nadel gezogen, das Blut musste ins Gewebe gesickert und es gesättigt haben. „Die Haut wird ihm zu eng“, sagte meine Schwiegermutter. Ich dachte trotzdem nicht, dass er sterben könnte.

Wir lernten mit wenigen Worten und Gesten Wesentliches zu sagen. Er legt mir schwer die Hand auf den Kopf und streicht über mein Haar: „So stolz.“ Als mein Mann seine Hand hält, lacht er verschmitzt und sagt etwas, das wir erst im zweiten Anlauf verstehen. „Mein Wunschkandidat“ nennt er den Schwiegersohn von fast einem Vierteljahrhundert. Keine Missverständnisse mehr, nur tiefe Zuneigung.

Einmal dürfen die beiden Enkel aufs Zimmer. Sie wollen den Opa sehen, er sie auch. Lange schaut er sich die beiden Kerle an. Tischtennis? Das war seine Leidenschaft in der Jugend. Die Jungs haben den Sport übernommen und sind noch begeistert dabei. Schule? Alles gut, Opa, sagen sie und erzählen von den guten Noten, die sie nur ein klein wenig schönrunden. Dem Opa zuliebe und der ist zufrieden. 

Das war ein Abschied, aber ich dachte noch immer nicht, dass er sterben könnte. 

Dazu brauchte es eine weitere oder wiedergekehrte Lungenentzündung, die auf die Therapie nicht ansprach. Die Ärzte sind ratlos, wissen nicht, ob die Behandlung versagt oder gar nicht ankommt, weil mein Vater keine Nadeln toleriert. Es gebe nur zwei Optionen: Zurück in die Klinik, sedieren und künstlich beatmen, um das Antibiotikum zuverlässig verabreichen zu können. Oder Palliativpflege. Meine Mutter und ich sollen entscheiden. Wir brechen zusammen. 

Jetzt sind wir allein im medizinischen Niemandsland. Seit vielen Jahren recherchiere ich beruflich jeden Tag komplexe Fragen. Nun kann ich diese Lungenentzündung nicht entschlüsseln, weiß gar nicht, wo anfangen. Ist das eine akute Infektion? Oder Symptom eines Systems in Schieflage? Mein Vater wollte nie im Krankenhaus an Maschinen angeschlossen enden. Aber jetzt? Wir können das nicht entscheiden, weil wir eine emotionale Antwort auf eine medizinische Frage suchen. Oder eine medizinische Antwort auf eine emotionale Frage. 

Vielleicht gibt es auch gar keine Antwort, weil schlicht die Wegweiser fehlen. Jeder Versuch von „Wenn ja, dann links“ und „Wenn nein, dann rechts“ führt uns in den Systemfehler. Das ist, also ob ich mit dem Kopf unter Wasser Rettungsringe auf ihre Tauglichkeit hin prüfen sollte. Welcher wird das Ertrinken am wenigsten schlimm machen?

Ich kann mich nur entlanghangeln an dem, was ich weiß, und sehen, wohin uns das führt. Ich weiß, dass mein Vater in der Klinik menschenunwürdig behandelt wurde, anders als jetzt. Ich weiß, dass er uns braucht, auf der Intensivstation aber allein, orientierungslos und dann betäubt wäre. Besuche wären verboten. Und ich weiß, dass ihm schon ein Pflaster unerträglich ist. Soll ich diesem Menschen die Gewalt einer Betäubung und Beatmung antun? So bleibt nur die Palliativpflege. 

Das entscheiden wir, nur um sofort wieder zu zweifeln, nur um uns in der Entscheidung zu bestärken, nur um wieder zu zweifeln. Wir sind so entsetzlich allein, dass jeder Strohhalm herhalten muss. Als eine junge Schwester, die wahrscheinlich weder Erfahrung noch tiefe Kenntnis von der Krankengeschichte meines Vaters hat, anmerkt, dass alles andere nur Quälerei für ihn gewesen sei, klammere ich mich an diesen Satz, als ob er Substanz hätte. 

Ab jetzt liegt mein Vater im Einzelzimmer und wir dürfen ihn rund um die Uhr besuchen. Meine Mutter, meine Schwiegermutter, mein Mann mit mir: Wir wechseln uns ab, er soll nicht mehr allein sein. Und so unerwartet wie uns die resistente Lungenentzündung in tiefste Verzweiflung gestürzt hat, werden wir wenig später in die Stratosphäre katapultiert. Ihrem Mann gehe es erstaunlicherweise besser, ob sie ihn heimbringen möchte, wird meine Mutter von einem Arzt gefragt. 

Dieses Mal ist alles anders, wir müssen erst ein Krankenbett und Equipment besorgen, auch den medizinischen Dienst informieren, der helfen soll. Meine Mutter will die letzten 24 Stunden bei ihm in der Einrichtung verbringen, kommt aber wenig später aufgewühlt wieder nach Hause. Sie sei heimgeschickt worden: Einzig unser Landkreis ist erneut im Lockdown. Es ist die schlimmste Phase im Sterben meines Vaters, noch heute macht mir die Erinnerung an die Angst oder ihr Echo das Herz schwer. Ich fürchtete, er könne ohne uns körperlich oder geistig abbauen, für den Transport am nächsten Tag zu schwach oder verwirrt sein. Ich fürchtete, wir könnten ihn nie wiedersehen. 

Wir werden uns wirklich viel verzeihen müssen, heißt es, wenn es um die Pandemie geht. Das gilt sicher besonders für jene, die sich nicht von ihren Liebsten im Krankenhaus verabschieden konnten. Uns bleibt das erspart. Aber das weiß ich noch nicht.

Die verbleibende Zeit rüste ich für die Versorgung meines Vaters auf. Wir müssen ihn nicht nur heimbringen, sondern auch daheim behalten können. Es ist die Angst, dass wir scheitern könnten, er doch noch in ein Heim mit für uns verschlossene Türen kommt. Die Schwestern auf der Station haben mich angelernt im Waschen und Wenden, dem Wichtigsten aus der Pflege. Das ist nicht viel in der kurzen Zeit, aber genug, um zu verdeutlichen, dass zwei Leute nötig und alle paar Stunden im Einsatz sein werden. Wie soll ich diese Dauerbelastung und schwere körperliche Arbeit mit meiner Mutter bewältigen? Denn mein Mann muss mit den Kindern zurück zu uns nach Hause, ist jetzt mehrere hundert Kilometer entfernt.

Ich versuche, eine Pflegekraft zu organisieren, stolpere durch ein Dickicht von Corona-Bestimmungen, Einreise-Vorschriften und anderen Regeln. Ich komme nicht einmal so weit, mich wegen der Finanzierung zu sorgen. Der erste Haken: Pflegekräfte haben Anspruch auf acht Stunden Nachtruhe. Das ist an sich verständlich, hilft uns aber nicht. Tagsüber würde uns der mobile medizinische Dienst unterstützen. Die Nächte sind das Problem.

Dann aber kommt mein Vater, wird durch den Garten bis zum Haus getragen, wo ich auf ihn warte. Ich weiß nicht, welche Version meines Vaters ich vor mir habe. Krank vor Schmerz? Verwirrt? Weggedämmert? Er rührt sich nicht, nimmt nur alles mit kleinen und sehr wachen Vogelaugen in sich auf. „Papa“, sage ich, „wie geht´s Dir?“ Ich warte und habe Angst. „Bier“, sagt er. Ich bin erleichtert. Im Haus wird er konkreter: „Bier. Helles. Paulaner“. Später dann: „Breze“ und „Mandarine“. 

Ich sehe, was ich sehen will und das ist mein Vater, der zurück ins Leben will. Den ich aufpäppeln werde. Ich sehe nicht, dass er nur einen Schluck Bier aus der Schnabeltasse trinkt und nie mehr als zwei Löffel voll isst. Ich sehe nicht, dass er seine Erinnerungen schmecken will, sein Appetit ein Abschied ist. Er baut ab, während ich eine Mauer hochziehe aus Babybrei in Gläsern, energiereiche Getränke für Senioren in Flaschen und Protein-Pulver in der Dose. Ein Bollwerk und Bunker im Kampf gegen die Welt da draußen. 

Ich weiß, dass dieser gebrechliche Mann sein Bett aus eigener Kraft nicht mehr verlassen wird. Seine Beine sind nur Haut und Knochen. Könnte er ein Leben im Liegen ertragen? Immerhin hat er Jahre ohne echte eigene Mobilität nach einem Leben voll Sport ausgehalten. Wo verläuft die Grenze zwischen gerade noch gut genug und zu wenig? Wo fängt Leben an, unwürdig zu werden? Gibt es das überhaupt? Gabriele von Arnim zitiert in ihrem Buch einen Freund, der wie sie mit ihrem Mann schon lange mit seiner kranken Frau lebt: „Es gibt viele Arten zu leben.“

Die Frage stellt sich nicht mehr. Über den Tag und die folgende Nacht hinweg zieht sich mein Vater immer mehr zurück, wird stiller, isst und trinkt noch weniger. Der Leiter des mobilen Palliativteams kommt vorbei, sitzt am Bett meines Vaters und schaut ihn lange an. „Das sind aber schon sehr lange Atempausen“, sagt er dann. Und: “Sie wissen ja selbst, dass er diese Reise angetreten hat.“ 

Unter der Haut an der Schulter soll ein Morphinzugang gesetzt werden, der kaum zu spüren ist. Eine Mitarbeiterin erklärt mir, wie ich das Gerät bedienen und die Dosis bei Bedarf erhöhen kann. Ich fange an zu weinen und versuche zu erklären, dass wir vor kurzem noch auf eine Besserung gehofft hatten. „Da war diese falsche Hoffnung“, sage ich. Sie lässt mich ausreden und beruhigen und erwidert dann: „Das war keine falsche Hoffnung. Das war einfach nur Hoffnung.“ 

Das ist vielleicht der Zeitpunkt, an dem ich akzeptiere, dass mein Vater wirklich sterben wird. Und ich werde ganz ruhig. Ich entdecke eine innere Stärke, die ich bis dahin nicht kannte. Ich weiß, dass ich das, was kommt, überstehen kann. Erst Wochen später versuche ich diese unerwartete Quelle der Kraft und das Hochgefühl zu ergründen, lese viel über den Tod. Seit Jahren steht The Still Point of the Turning World in meinem Regal, ungelesen, weil ich mich zu sehr als Voyeur fremden Leids gefühlt hätte. Emily Rapp erzählt darin das Sterben ihres Sohnes Ronan an Tay-Sachs, eine unfassbar grausame Krankheit. 

Jetzt trauere ich auch. Ist es vermessen, das friedliche Ende eines langen Lebens mit dem Tod eines kleinen Jungen zu vergleichen? Hier hallt das Gespräch am Bett meines Vaters in mir nach: Wenn Hoffnung einfach Hoffnung ist, dann ist Trauer vielleicht einfach Trauer. “Wie jede tiefgreifende menschliche Erfahrung ist Verlust nicht quantifizierbar – gäbe es einen Trauerwettbewerb, wer würde ihn gewinnen wollen?”, schreibt Rapp dazu.

Ihr Buch hilft mir, weil sie ebenfalls von schönen Momenten berichten kann: “Auch fühlte ich mich aufgedreht, elektrisiert und gewahr, als ob ich brennen würde oder Feuer schlucken oder Funken sprühen könnte, etwas niederbrennen … Ich spürte eine ungezähmte Klarheit, eine unaufhaltsame Trauer und, manchmal, ein Aufblitzen von Traurigkeit wie eine trübe Erinnerung, als ob ich in eine Höhe des Rauschs emporgestiegen wäre, die ich noch nie erlebt hatte.” [4]

Das war es oder kommt in der Beschreibung dem am nächsten, was den schönen Tod meines Vaters ausmachte: wilde und ungebändigte Klarheit oder auch Klarsichtigkeit und nicht zu erklärende euphorische Augenblicke. Nie hatte ich weniger Zweifel an mir und meinem Tun. Nie habe ich Entscheidungen leichter getroffen und leichter mit ihnen gelebt als in dieser Zeit. 

Spät am Abend prüfe ich die Morphinpumpe und mein Vater, der weder sehen noch sprechen kann, packt mich und zieht mich in seine Arme. Es ist das letzte Mal. Nur einmal reagiert er noch: Nachts trete ich an sein Bett und sage ein paar Worte. Er macht die Augen auf und wendet mir sein Gesicht zu. Dann war er für uns nicht mehr zu erreichen. 

Nur manchmal und ohne erkennbaren Anlass reißt er plötzlich die Augen auf und reckt die Arme hoch. Mich erinnert sein Schrecken an meine Kinder, den startle reflex der Babys, die wie panisch zu schreien beginnen, wenn sie schlafend ins Bett gelegt werden. Als ob sie etwas sehen könnten, das uns verborgen bleibt. Immer wieder nehme ich meinen Vater in die Arme. „Ich halte Dich fest“, sage ich. „Ich lass Dich nicht los. Ich lass dich nicht fallen.“ Auch wenn es genau das ist, was ich machen muss. Der Autorin Karen Fisher wird ein Satz zugeschrieben, dessen Kontext ich nicht kenne: „Du musst alles fallen lassen, was fallen will.“ [5]

Im Lauf der nächsten Stunden zieht sich mein Vater weiter in sich zurück und doch nimmt er uns mit. Noch gehen wir dieses Stück Weg mit ihm. Er ist mein Fokus und ich bin fast erleichtert, dass mein Mann und die Kinder nicht mehr da sind. Ich würde mich in jede ihrer Regungen verstricken, mich um sie kümmern. Ich kann ahnen, was sie gerade bei uns daheim machen. Trotzdem sind sie nicht nur eine Tagesreise entfernt, sondern in einem anderen Universum. Meine Welt hat sich auf ein Zimmer reduziert. Es gibt nur noch meinen Vater, meine Mutter, mich und die Menschen, die uns begleiten. 

Unfassbar, dass sich der Planet da draußen weiterdreht. Das Gefühl kenne ich, schon einmal habe ich diese Isolation in einem anderen Still Point of the Turning World erlebt. Eines unserer Kinder musste nach der Geburt zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, wir aber wurden ohne Baby, aber mit unserer Verzweiflung entlassen. Mehrmals täglich fuhren wir zwischen Wohnung und Klinik hin und her, abgekapselt vom Rest der Welt. Staunend sah ich vom Auto aus den Menschen in den Straßen zu. Wie konnten sie lachen? Wie Kaffee trinken? Wie ihr normales Leben abspulen lassen, wenn doch nichts normal war? 

Schon einmal habe ich einen Tod in der Familie erlebt, stand damals aber vor der geschlossenen Zimmertür, hinter der dieser Orkan wütete. Meine Großmutter starb bei uns daheim wenige Tage nach meinem 17. Geburtstag. Der Schmerz darüber war viele Monate später noch genauso frisch wie am ersten Tag. Ich hielt mich deshalb über Jahrzehnte für zu schwach, um mit einem solchen Verlust umzugehen. Heute denke ich, dass mir ein Abschied vielleicht geholfen hätte.

Am nächsten Morgen kommen mein Onkel, meine Tante und meine Kusine, um meinen Vater ein letztes Mal zu sehen. Er liegt unerreichbar im Bett und ist doch der Magnet, an dem wir uns ausrichten. Jahrzehnte gemeinsamer Geschichte mit Nähe und Distanz, mit Zuspruch und Auseinandersetzung verkürzen sich auf das Band, das ihn mit jedem von uns verknüpft. 

Da ist mein Onkel, der dem großen Bruder über viele Stunden die Hand hält und sie wortlos streichelt. 

Da ist meine Tante, die sechzig Jahre mit dem Schwager geteilt hat. Als sie hochschwanger war und die Wehen überraschend einsetzten, war mein Onkel nicht da. Mein Vater fuhr sie in die Klinik und sagte den Satz, der nun zur Familienfolklore gehört: „Lass Dir ruhig Zeit, es pressiert nicht.“ Pressiert hat es dann aber doch. Meine Kusine konnte mit Glück gesund geboren werden. Sie verabschiedet sich nach mehr als einem halben Jahrhundert von ihrem Onkel.

Als sie gehen muss, bleiben wir zu fünft zurück. Meine Mutter. Meine Tante. Mein Onkel. Ich und mein Vater. Wir wachen an seinem Bett. Wir sprechen und wir erinnern uns. Wir lachen. Am späten Nachmittag dann, das Gespräch der anderen plätschert dahin, höre ich seinen Atem aussetzen. Oder vielleicht ahne ich es auch nur, habe ein Gespür dafür entwickelt. Seine Hand nehme ich nicht, auch wenn es schwerfällt, ich möchte ihn nicht halten. Aber ich blicke wie so oft in den letzten Tagen auf seinen Hals und die Ader, die da pocht. Einmal, zweimal, dreimal, eine Pause. Noch ein Pochen, noch eine Pause. Noch ein leichter Schlag. Stille. 

Wir verabschieden uns. Ich danke ihm. Wir waschen ihn und ziehen ihn an, nicht verkleidet im Anzug, sondern in der leicht ausgebeulten Cordhose und einem Karohemd mit Jacke. Vielleicht friert er nun ja wieder. Meine Schwiegereltern kommen. Noch ein schwerer Abschied. Mehr Familie kommt. Weitere Abschiede. 

All das nimmt uns mit, aber wir halten durch. Meine Stärke bricht nicht. Sie bringt mich nach seinem Tod durch das Treffen mit dem Arzt, der den Totenschein ausstellt. Ich ertrage die Bestatter. Ich komme durch die Nacht und die nächsten Tage. In den Tagen danach tasten meine Mutter und ich uns gegenseitig mit Blicken und Worten ab, aber es ist noch alles dran. Der Orkan ist über uns hinweggezogen. Wir stehen noch.

Ein Leben muss ein gut gelebtes Leben sein, wenn die Druckwellen seiner Implosion weit und bis zurück in die Zeit reichen. In den folgenden Tagen und Wochen melden sich alte Bekannte und Freunde, entfernte Familie, alle sind erschüttert, rufen immer wieder an. Eine langjährige Freundin beendet ein Gespräch: „Entschuldigung, jetzt muss ich ein bisschen weinen.“ Das ist unerwartet für uns, mein Vater hatte schließlich aus eigenem Antrieb lange schon zurückgezogen gelebt. „Sie wussten, dass er ein lauterer Mensch war“, sagt meine Mutter.

Die wilde Klarheit, wird sie bleiben? Nein, mit der Rückkehr zu meiner Familie und in mein normales Leben bin ich auch wieder mein gewohnt verzagtes und von Selbstzweifeln geplagtes Selbst. Was nicht schlecht sein muss. Im täglichen Leben ist die wild clarity verdammt nah dran am Bullying. Nie habe ich weniger darüber nachgedacht, was andere über meine Entscheidungen denken könnten. 

Mein Vater ist einen schönen Tod gestorben. Schön für ihn, denke ich, aber ganz überraschend auch für uns Angehörige. Wir sind mit ihm im Reinen, wir sind mit uns im Reinen, haben unseren Frieden gemacht. Ich kann nicht erklären, nur beschreiben, was war. Und für die unerwartet euphorischen Gefühle die Worte von Emily Rapp borgen, die sie beschreibt als „Momente des strahlendsten, ausgedehntesten und alle Logik erschütterndsten Glücks”, die sie je erlebt habe. [6]

Trotzdem bin ich nicht dieselbe nach dieser Erfahrung, muss mich an ihr abarbeiten. Mein Unterbewusstsein scheint aber weniger mit dem Sterben und dem Tod meines Vaters zu hadern als mit unserer Hilflosigkeit angesichts unmöglicher Entscheidungen. Nacht für Nacht träume ich mich in bizarre Szenarien hinein, die nur eines gemein haben: Ich muss ein unlösbares Rätsel lösen, eine Frage ohne Antwort beantworten, eine überwältigende Aufgabe bewältigen. Immer ahne ich, dass eine perfekte Lösung, Antwort und Strategie vor mir liegt, aber ich kann sie nie greifen. 

Dann stehe ich etwa auf einem Berg in Japan und kann den Heimweg nicht finden. Die Schilder lassen sich nicht entziffern und meine Adresse kenne ich auch nicht. Oder ich träume, dass meine Mutter schwer erkrankt. Nur ein experimenteller Wirkstoff könnte sie retten, aber sie möchte nicht an der Studie teilnehmen. Ich rekrutiere Barack Obama und er spricht geduldig auf sie ein. „Das wird schon wieder“, sagt meine Mutter und lächelt. „Das kriegen wir schon wieder hin”. 

Das nächste Mal versuche ich aus einem Wald zu entkommen, der mit einem Fluch belegt ist. In letzter Not springe ich auf ein Schiff, aber der Fluss führt über Berge und Täler immer wieder in den Wald hinein, der bei jeder Runde dunkler und bedrohlicher wird. Und wenn meinem Kopf die Ideen ausgehen, versetzt er mich einfach in den Krimi, den ich vor dem Einschlafen beiseitegelegt habe. Pech für die Mordopfer: Ich kann den Täter nicht entlarven, irre über Stunden durch die leeren Gänge eines verlassenen Hauses. 

Der, um den es eigentlich gehen müsste, lässt sich nur kurz blicken. Ich bin weinend eingeschlafen, weil ich dachte, mich nicht an den Händedruck meines Vaters erinnern zu können. Im Traum taucht eine Gestalt auf, das Gesicht verschattet, drückt mir im Vorbeigehen die Hand und ist gleich wieder verschwunden. Das macht nichts, ich bin ja ohnehin damit beschäftigt, eine wichtige Frage nicht zu klären oder ein einfaches Rätsel nicht zu lösen. 

Diese Träume kommen jede Nacht und zwar über Wochen. Am Ende bin ich so zermürbt, dass mir vor dem Einschlafen graut. Ich wünsche mir fast den Klassiker der Albträume zur Entspannung zurück: Matheabitur, ob mit oder ohne Kleidung ist egal. Immerhin wird mir jetzt klar, warum mich ausgerechnet die zu Schulzeiten so geliebte Mathematik über die Jahre immer wieder heimsucht. Wenn schon gymnasialer Horror, dann müsste mich eigentlich Caesar über schiefe Ebenen jagen. 

Latein und Physik taugen aber nicht so gut zum Albtraum. Es ist die Mathematik mit ihrer rätselhaften Sprache, die nur Kundigen elegante Wege zur Lösung eröffnet. Wer die Sprache nicht spricht, bleibt auf der Strecke. Kann ich mir nicht verzeihen, dass wir uns gegen die Hightech-Medizin entschieden haben? Fürchte ich, dass wir meinen Vater zu früh aufgegeben haben? Nein, ich denke, er ist den Tod gestorben, den er sterben sollte. Vielleicht ist das eigentliche Problem, dass wir in höchst emotionalen Situationen vor medizinische Entscheidungen gestellt werden, die uns an unsere Grenzen bringen.

Allen kritischen Eingriffen zum Trotz hat die Medizin meinem Vater zusätzliche Jahre geschenkt. Er hatte ein langes Leben und einen schönen Tod. Ich würde mir und meinen Angehörigen und jeder und jedem anderen auch ein solches Sterben wünschen. Das lässt sich nur nicht planen. Aber mich tröstet das Wissen, dass ein lebensbejahender Tod möglich ist. Und vielleicht muss das genug sein. „Ich hatte eigentlich immer Angst vor dem Tod“, sagte mein Mann nach einem Besuch bei meinem Vater in der Klinik. „Aber wenn das Sterben so sein kann, dann fürchte ich mich nicht mehr.“ 

Englische Originaltextstellen, alle ins Deutsche übersetzt von Peter Hintz:

[1] “I learned that dying, up close, is not what you imagine”, ”For the dying are living, like everyone else. It is the essence of living – beautiful, bittersweet, fragile life…” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[2] “In today’s developed world it is possible to live an entire lifetime without ever directly setting eyes on death…” , “Little more than a century ago, this distance from dying was inconceivable. We invariably departed the world as we entered it, among our families, close up and personal, wreathed not in hospital sheets but in the intimacy of our own homes.” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[3] “That I can wash my father, as once he washed me, is an honour, an offering, a last act of love, a moment of unrivalled intimacy.” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[4]“Loss, like any profound human experience, is not quantifiable – if there did exist a competition for grief, who would want to win it?”, “I also felt switched on, electrified and aware, as if I were on fire or could eat fire or spit sparks, burn something down…I felt a wild clarity, an unstoppable grief and, sometimes, a flash of sadness like a dim memory, as if I had climbed a ladder into a realm of ecstasy I had never experienced before.”(Emily Rapp: The Still Point of the Turning World, 2013.)

[5] “You must let everything fall that wants to fall.“

[6] „moments of the brightest, most swollen and logic-shattering happiness” (Emily Rapp: The Still Point of the Turning World, 2013.)

Foto von George Hiles

Vorlagen der Angst – Wie von Krebs erzählt wird

von Simon Sahner

Mit dem Gedanken, es gebe ein Reich der Kranken und eines der Gesunden und von Geburt an besäßen wir die Staatsbürgerschaft für beide, eröffnet Susan Sontag ihren berühmten Essay über Krebs und Krankheit als Metapher. Sie wolle dennoch nicht beschreiben, fährt sie fort, wie es ist, in das Reich der Kranken auszuwandern und dort zu leben, sondern stattdessen die Fantasien schildern, die es umranken. Ihrer eigenen Überzeugung zum Trotz, dass Krankheit eben – entgegen dem Titel ihres Essays – keine Metapher ist, beginnt sie also ihre Analyse des Reichs der Kranken mit einer solchen. Man ist verleitet bei dem Gedanken an ein Leben, das sich in zwei Reichen abspielt, an die einleitenden Worte von Charles Dickens‘ Eine Geschichte aus zwei Städten zu denken: „Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.“ Weiterlesen

Chronische Krankheit als Story – Erzählungen von MS

von Vera K. Kostial

 

Zwei Kommissar:innen überbringen in einer aktuellen ZDF-Krimiserie einer etwa Mitte vierzigjährigen Frau die Nachricht, dass ihr Mann ermordet worden ist. Sie, die sich zuvor schon auf einen Gehstock abstützen musste, sackt zusammen und bittet um ein Glas Wasser und ihre Tabletten. Begründung: „Ich habe MS, und so ein Schock kann einen Schub auslösen.“ Dass Stress einen Schub begünstigen kann, ist korrekt – aber dass im Akutfall eine Tablette das Risiko eines Schubs abwendet? MS-Patient:innen wären dankbar für solch eine simple Lösung. Die Frau, so erfahren wir weiter, war früher gefeierte Cellistin und musste wegen der Erkrankung ihre Karriere beenden. Auch das ist soweit – leider – eine realistische Erzählung; weniger realistisch ist allerdings ein entscheidender Teil ihrer Hintergrundgeschichte, dass sie nämlich „auf der Bühne“ ihren ersten Schub hatte und „ihre Hand plötzlich nicht mehr bewegen“ konnte. Zwar ist das durchaus möglich – Multiple Sklerose, auch die „Krankheit der 1000 Gesichter genannt“, ist immerhin die Krankheit des ‚Alles kann, nichts muss‘ – besonders wahrscheinlich ist es jedoch nicht, dass eine Hand plötzlich vollständig gelähmt ist, wenn nie zuvor vergleichbare Symptome aufgetreten sind oder sich zumindest über einige Stunden aufgebaut haben. Ähnlich in der Symptomatik, aber noch spektakulärer in der Ausgestaltung ist die Szene im Film Balanceakt (2019), in der die anschließend mit MS diagnostizierte Marie beinahe ihren Sohn beim Klettern abstürzen lässt, da sie mit einem Mal die Kraft in ihrer Hand verloren hat. Noch abenteuerlicher ist da nur der Film Blueprint (2003), in dem die Protagonistin, ebenfalls professionelle Musikerin, plötzlich auf der Bühne zusammenbricht – die Szene erinnert eher an einen Kreislaufzusammenbruch als an einen MS-Schub. Weiterlesen