von Antje Schmidt
Die Lyrik umgibt der Nimbus des Besonderen. Wer Gedichte liest oder schreibt, darf sich zu einer ebenso geschätzten wie bedauerten Außenseiter*innengruppe zählen. Darauf hat etwa Nora Bossong, selbst Dichterin, hingewiesen. Damit wird die Gattung identitätsstiftend für den eingeweihten Kreis ihrer Autor*innen und Leser*innen und nicht ohne Grund zählt die lyriklesende Einzelgänger*in längst zum Standardrepertoire der Popkultur. Im Rahmen retrotopischer Inszenierungen wie der Dark Academia Ästhetik auf Plattformen wie Tik Tok oder Instagram partizipieren zahlreiche Menschen an einem retrophilen Lifestyle, der Distinktion über die Nähe zur Lyrik sucht.
Gerade weil scheinbar kaum noch jemand Gedichte liest, haben sie das Potential, eine geheimnisvolle, melancholische Aura um eine Person zu kreieren, ihren Status als faszinierender Individualist*in zu markieren. Schon 1990 wunderte sich Robert Gernhardt in seinen Gedanken zum Gedicht über diese Diskrepanz zwischen dem positiven Image, das die Lyrik seit jeher begleitet – ein Überbleibsel von Selbstmythisierung und Geniekult, wie er vermutet – und ihre trotzdem schwindende Leser*innenschaft. Erklären konnte er sich diesen Umstand nur so: An der Lyrik würden “Eigenschaften geschätzt, die in anderer sprachlicher und sonstiger Mitteilung nicht so gern gesehen und schon gar nicht honoriert werden: Unverständlichkeit und Privatheit im Inhalt und Dunkelheit und Maßlosigkeit im Ausdruck”. Moderne Gedichte würden nurmehr als verdichtete persönliche Erfahrung gelten. Doch, so konstatiert Gernhardt ironisch, sei “der Bedarf an solchen Konzentraten offenbar gering”. Er wünscht sich stattdessen Gedichte, die sprachliche Mitteilung für ein breites Publikum sind, und möglichst komisch dazu.
Gernhardts Polemik ist nun gut 30 Jahre alt und mit seiner pragmatischen Dichtungsauffassung war er schon damals eher ein, wenn auch erfolgreicher, literarischer Außenseiter. Die Frage, die ihn umtrieb, hat allerdings nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Was ist es, was einen Großteil der Leser*innen von der Lyrik fernhält? Gedichtbände erschienen und erscheinen damals wie heute nicht auf Bestsellerlisten, Diskussionen über Lyrik finden meist in Nischen der kulturellen Sphäre statt. Und, darauf hat die Literaturwissenschaftlerin Anna Bers zu Recht auf Twitter aufmerksam gemacht, selbst die renommierte Seite Lyrik-Empfehlungen.de sah sich in didaktischem Duktus bemüßigt, ihre diesjährigen Tipps mit den Worten einzuleiten: “Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt ein Gedicht gelesen? Können Sie noch eines auswendig? Vielleicht ist es Zeit, sich wieder mit Poesie zu beschäftigen.” (Die Empfehlungen lohnen sich dennoch als Orientierung für Interessierte!)
Dass hier überhaupt an das schlechte Gewissen potentieller Leser*innen appelliert werden muss, lässt tief blicken. Lyriklesen scheint eine kulturelle Praxis zu sein, die viele für wertvoll halten, jedoch selten tatsächlich ausüben. Dem belasteten und ambivalenten Verhältnis zwischen der Poesie und ihrer (potentiellen) Leser*innenschaft hat auch Ben Lerner sich in seinem Essay Warum hassen wir die Lyrik? (Engl. The Hatred of Poetry, 2016) angenommen, der nun von Nikolaus Stingl für Suhrkamp ins Deutsche übersetzt wurde. Darin kommt der Autor, der hierzulande – und das entbehrt nicht einer gewissen Ironie – insbesondere für seine Romane bekannt ist (u. a. Abschied von Atocha, Die Topeka Schule), zu überraschenden, allerdings nicht durchweg überzeugenden Antworten.
Er fängt vielversprechend an, dieser knapp 100 Seiten lange Text. Der US-amerikanische Schriftsteller und Literaturprofessor Lerner berichtet von einem Initiationserlebnis aus seiner Schulzeit, das ihm das Nicht-Mögen von Lyrik geradezu ins Gehirn gebrannt hat. Vor die Aufgabe gestellt, ein englisches Gedicht auswendig zu lernen, wählt der Schüler “Lyrik” (“Poetry”) von Marianne Moore. Ein knapper Text, der aus nur vier Versen besteht und daher, so die Berechnung Lerners, bestens geeignet sei, die Aufgabe möglichst effizient zu erfüllen – um dann jedoch zu bemerken, dass er durch seine eigenwillige Form kaum im Gedächtnis zu behalten ist. Nur sein erster Vers wurde von diesem Tag an für den angehenden Dichter zum lyrischen Ohrwurm, der ihn bis heute stets beim Lesen, Schreiben und Hören von Lyrik begleite: “Ich mag sie auch nicht” (“I too, dislike it”).
Ausgehend von dieser privaten Erfahrung ist Lerner angetreten, den “Rhythmus von Denunzierung und Verteidigung” zu erklären, den die Lyrik von Platon bis in die Gegenwart in der Öffentlichkeit durchläuft (und zu deren Melodie wohl auch Gernhardts Einlassungen zu zählen sind):
Alle paar Jahre erscheint in einer Mainstream-Zeitschrift ein Essay, der die Lyrik denunziert oder ihren Tod verkündet und den lebenden Dichtern die Schuld an der relativen Marginalisierung ihrer Kunst gibt, und dann erhellen Verteidigungen die Blogosphäre, ehe die Kultur, wenn man das Kultur nennen kann, ihre Aufmerksamkeit, wenn man das Aufmerksamkeit nennen kann, wieder auf die Zukunft richtet.
Auch in Deutschland kennen wir diese regelmäßig wieder aufflammenden Debatten über Tod und Wiederauferstehung des Gedichts. Mit der Verleihung des Büchner-Preises an Jan Wagner im Jahr 2017 wurde dem deutschsprachigen Literaturbetrieb gar ein “Lyrik-Boom” prophezeit, der sich jedoch in den konstant niedrigen Umsätzen des Segments Lyrik und Drama nicht widerspiegelt.
Ben Lerner gesteht in seinem Essay ein, dass auch er die Lyrik ebenso hasse wie liebe und fragt sich: Geht es uns nicht allen so? Wer allerdings nicht besonders lyrikaffin, selbst keine Dichter*in, Kritiker*in (oder Lyrikforscher*in) ist, wird in dem auf diese amüsante Anekdote folgenden Essay zwar viel Lehrreiches über die Gattung, ihren Hang zur Selbstreflexion und ihre (überwiegend englischsprachige) Tradition erfahren. Sie wird sich aber in dem “Wir”, das in der deutschen Übersetzung so prominent in den Titel des 100-seitigen Buches gehoben wurde, wohl nur schwerlich wiederfinden.
Wenig ist zu lesen über die Mühen mit der poetischen Sprache, über den Voraussetzungsreichtum der Gattung oder andere Gründe dafür, dass Leser*innen gegenwärtig lieber zum Roman als zum Gedicht greifen. Auch andere relevante Phänomene wie die Popularität von Netzpoesie, Instapoetry und Slam Poetry, die möglicherweise auf eine Renaissance lyrischer Formen in neuen medialen Umfeldern schließen lassen, spart Lerner weitestgehend aus.
Ihm geht es um traditionelle Formen schriftlicher Lyrik, um die großen Werke kanonischer Dichter*innen, denen in diesem Essay viel Platz eingeräumt wird. Lerner schreibt vom Standpunkt des praktizierenden Dichters über das “Gedicht als Manifestation des Scheiterns” einer sprachlichen Annäherung an das Absolute und über den notwendig misslingenden Wunsch, Lyrik müsse Ausdruck unserer tiefsten, authentischen Individualität, soziales Medium oder gar politisches Vehikel zum Umsturz der Ordnung sein. Es ist also, folgt man Lerner, das Ungenügen des konkreten Gedichts gegenüber zahllosen vermeintlichen Wirkungshoffnungen, die im Laufe der Zeit an die Lyrik herangetragen wurden und immer noch werden, die die Gattung so besonders hassenswert macht.
Gedichte sind somit stets Protokolle des Scheiterns. Der Hass eine Folge übersteigerter Erwartungen, auch und besonders vonseiten der Verfasser*innen selbst. Daher sei auch das Dichten ein so ‘peinliches’ Geschäft: Dichter*innen mühten sich ab, uns ihr Innerstes sprachlich zu Gehör zu bringen, aber es kann und wird nicht glücken. Guten Gedichten, etwa den Werken John Keats’ und Emily Dickinsons, gelinge es jedoch zumindest, jenes Virtuelle der Lyrik, die Ahnung ihrer Möglichkeiten jenseits der Sprache, offenzuhalten. Zwischen den Zeilen deutet sich so eine Dichtungsauffassung an, die Lyrik vor allem als Spiel mit der automatisierten Sprache begreift, die auf das Nicht-Sagbare abzielt, und so eine Neujustierung unserer Wahrnehmung bewirken möchte. Ein poetologisches Programm, das man übrigens auch in Lerners Romanen wiederfinden kann, die das Gewohnte oft bis zu einem gewissen Grad ins Ungewisse verzerren.
Doch nicht nur Gedichten, auch den Schreibenden schlägt Lerner zufolge etwas von dem unterstellten Hass entgegen: Dichter*innen seien infolge ihrer Bemühungen um die hehren poetische Ideale eine Provokation für ihr nicht-dichtendes Gegenüber. Sie erinnerten es an seine ungenutzten kreativen Potenziale sowie daran, dass es sein Leben in den Dienst schnöder, zweckorientierter Erwerbsarbeit stelle. (Lerner unterstellt sogar seinem Zahnarzt, dass er sich wohl ihm, dem Lyriker, gegenüber schäme, weil sein Nicht-Dichten eine Entfremdung von der “reinen Potentialität des Menschseins” bedeute.) Lerner spinnt also den romantisierenden Mythos des schöpferischen Genies fort, obwohl er es ebenso vermag, dazu immer wieder in ironische Distanz zu treten – beispielsweise, wenn er anzweifelt, dass tranceartige Kunsterfahrung mehr als bloße Behauptung sei.
Politisch und erstaunlich aktuell wird es, wenn Lerner die Frontlinien der gesellschaftlichen Debatte um die Relevanz von Lyrik nachzeichnet. Aus seiner Sicht verlaufen sie zwischen denen, die erwarten, Gedichte könnten buchstäblich für alle sprechen, enthielten eine universalisierbare Sicht auf die Dinge, und seinem eigenen Standpunkt, dieses Vorhaben sei unmöglich “in einer Welt, die von Differenz und Gewalt gekennzeichnet ist”. Seine Ausführungen zum Universalitätsanspruch der dichterischen Stimme, die historisch stets für weiße Männer reserviert war, kann man so auch gegen das Gernhardt’sche Ideal einer ‘verallgemeinerbaren’ Dichtung lesen, das heute, im Lichte aktueller Debatten um Repräsentation, merkwürdig überholt erscheint.
Lerner dekonstruiert den nostalgischen Mythos und weist auf die Peinlichkeiten hin, die mit der kulturell kursierenden Fantasie einhergehen, ein Dichter wie Walt Whitman könne als Ersatzpriester “alle bewohnen”, ungeachtet etwa von race, class und gender seiner Leser*innen – eine Dichterin wie Sylvia Plath hingegen schreibe für “Mütter” oder “Frauen”. Gemeint ist ein tradiertes lyrisches Sprechen, das sogar vorsätzlich gewaltsame Ausschlüsse erzeugt, wie Marcel Inhoff kürzlich mit Blick auf Robert Frosts “The Theft Outright” aufzeigte. Und so schließt auch Lerner:
Man kann die zeitgenössische Lyrik – in jedem Zeitalter – hassen so viel man will, weil es ihr nicht gelingt, die Fantasie der Universalität zu realisieren, aber die Hasserinnen sollen aufhören, so zu tun, als hätte ein Gedicht jemals erfolgreich für alle gesprochen.
Immer wieder verweist er daher auf den poetischen Einsatz von Pronomen, etwa wenn die US-amerikanische Gegenwartsdichterin Claudia Rankine in Citizen: An American Lyric eine Rassismuserfahrung in Du-Anrede formuliert und damit ihre Leser*innen herausfordert, sich zu fragen, ob sie mit diesem “Du” überhaupt gemeint sind.
Vor diesem Hintergrund erhellt sich auch die Wahl des leicht modifizierten deutschen Titels: “Warum hassen wir die Lyrik?” (statt “The Hatred of Poetry”). Der Essay lädt dazu ein, den Blick auf sich selbst zu richten: Bin ich Teil dieses spezifischen lyrikhassenden “Wir”? Wer ist dieses “Wir” und wie wird es (poetisch) vereinnahmt? Was kann und soll Lyrik bewirken? Und er provoziert weitergehende Fragen an den Standort, nicht nur der US-amerikanischen, Gegenwartslyrik: Wie allgemein sollte lyrisches Sprechen sein, wie politisch, wie experimentell?
Lerner endet, nicht ohne Pathos, mit einem Appell an seine Leser*innen, den eigenen, unterschwelligen Lyrikhass über die innige Beschäftigung mit konkreten Gedichten in Liebe zu transformieren. Es ist durchaus sympathisch, dass er statt schlicht Indifferenz eine gerichtete und begründete Form der Abneigung gegenüber der Lyrik annimmt – ob er damit aber den Kern des Problems zwischen der Gattung und ihren Nicht-Leser*innen trifft, bleibt fraglich. Und damit wird auch die exkludierende Dimension dieses Essays deutlich.
Denn während Lerner die politischen und auf Universalisierbarkeit angelegten Erwartungen an die Lyrik strikt ablehnt, hält er dennoch weiter an dem Mythos hellsichtiger Dichter*innen und dem von ihm selbst als destruktiv dargestellten Ideal des Gedichts als ‘unmöglicher Forderung’ fest. Für ihn ist Lyrikhass, resultierend aus der Erinnerung ihrer Leser*innen an ungenutzte Potentiale, “Teil der bitteren Logik der Dichtkunst” und nicht ihres Außens. Damit reproduziert er, trotz meta-reflexiver Ironiebemühungen, den elitären Gestus einer Dichtung für Eingeweihte und Pionier*innen, der letztlich wohl vor allem der Beschwörung der eigenen Überlegenheit dient. Das ist vor allem schade, da der momentan so vitalen und pluralen Gegenwartslyrik somit erneut eine Chance abhanden kommt, ihre Relevanz auch für eine breitere Öffentlichkeit zu bezeugen.
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