von Tobias Siebert
Der Anruf kam, als ich an einem Mittwochmittag im April in einem Second-Hand-Laden in Verona stand. Die Stimme auf der anderen Seite sagte, sie freue sich, mir mitteilen zu können, dass sich die Jury für mich als nächsten Stadtschreiber in Gelsenkirchen entschieden haben. „Oh, da freue ich mich“, stammelte ich verlegen. „Teilen Sie mir doch bis Montag mit, ob Sie das Stipendium annehmen möchten“, sagte die Frau, und wir verabschiedeten uns damit, dass sie mir nochmal eine Mail mit den weiteren Details schicken würde und ich mich bis zum nächsten Montag zurückmelden würde.
Ich war gerade mit Autor*in C im Italienurlaub. Die Bewerbung und das mögliche Stipendium hatte ich so gut wie vergessen. Ich streifte durch den Laden und sagte zu C: „Ich hab das Gelsenkirchen-Stipendium bekommen.“ Nachdem ich den Satz ausgesprochen hatte, wurde mir sofort schlecht. Ich musste den Laden verlassen und eine Zigarette auf dem Vorplatz rauchen. Auf meinem Handy suchte ich nach der Ausschreibung. Drei Monate Gelsenkirchen von Mitte Juli bis Mitte Oktober. Eigene Wohnung plus 1.500 Euro pro Monat, dazu Fahrtkosten für An- und Abreise. Gefordert wurde, Texte über Gelsenkirchen zu produzieren, die das Leben literarisch einfangen. Was auch immer das heißen sollte.
„Womit hast du dich beworben?“, fragte C.
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich dasselbe wie immer. Irgendwas mit Jugendlichen und Subkultur.“
Die Bewerbung hatte ich wie so oft aus älteren Bewerbungen zusammenkopiert, angepasst, übertrieben, geflunkert – eben so, dass es für die Jury richtig klingen könnte. Was ich eigentlich gewollte hatte, war Zeit, um an meinem Roman zu schreiben. Keine Ablenkung, etwas Geld, ein bisschen Ruhe. Die kitschige Vorstellung einer Literaturresidenz eben. Natürlich war ich nicht davon ausgegangen, dass ich das Stipendium überhaupt bekommen würde und hatte mich beworben, weil es halt dazu gehört. Ständig irgendwo irgendwas hinschicken und hoffen, dass es klappt.
Im letzten Jahr hatte ich das Glück, für zwei Residenzen ausgewählt worden zu sein. Glück? Naja.
Ich verbrachte zunächst vier Monate in Altena. Irgendwo zwischen Hagen und Siegen. Ich wohnte allein in einer Wohnsiedlung, traf so gut wie keine Menschen, ging mit dem Hund spazieren und aß um Punkt 12 Uhr Mittag, schaute das Vorabendprogramm im Fernsehen, aß um 18 Uhr zu Abend und ging manchmal vor um 21 Uhr ins Bett, weil ich nicht wusste, wohin mit mir. Die letzten Wochen und Tage dort waren schlimm. Genoss ich am Anfang noch die Abwechslung des ländlichen Lebens, fieberte ich ab der Hälfte der Zeit darauf hin, zurück nach Leipzig zu kommen, meine Freund*innen zu treffen, Essen zu gehen, Leute zu sehen, raus zu gehen. Als ich Ende Juni wieder in meiner Wohnung ankam, war ich völlig neben der Spur, wusste nicht, was ich tun sollte, konnte kaum rausgehen, Menschenmengen waren mir zu viel. Es war alles zu laut und zu voll. Zugegeben, ich konnte in Altena ziemlich gut schreiben. Ich hatte Struktur, setzte mich jeden Morgen brav an den Schreibtisch und schrieb meine Seiten voll. Als ich wieder in Leipzig war, konnte ich den Text nicht mehr anrühren und brauchte eine ganze Zeit, um mich wieder an das alte Leben zu gewöhnen.
Kurz nach meiner Rückkehr bekam ich eine Residenz in Augustusburg zugesprochen. Bis dahin wusste ich nicht mal genau, wo Augustusburg liegt. Irgendwo bei Chemnitz. Es sah idyllisch aus, mit Schloss und Berg. Die Zusage kam Mitte Juli, die Residenz sollte Ende August beginnen. Ich musste zunächst aushandeln, dass ich später kommen könnte, da ich mir auf der Arbeit nicht so schnell freinehmen konnte. Schon damals fragte ich mich, was es für eine Erwartungshaltung ist, dass ich innerhalb von vier Wochen dort hinkommen könne. Immer alles freihalten, es könnte doch noch eine spontane Zusage kommen. Planbarkeit? Fehl am Platz.
Nun also Gelsenkirchen und die nächste Residenz. Drei Monate weg. Drei Monate kaum soziale Kontakte. Drei Monate in einer fremden Wohnung hocken, die Zeit absitzen. Dazu den Deal eingehen, Texte zu schreiben, die sowieso niemand liest, die irgendwo verschwinden, unbeachtet, aber immerhin mit Lokalbezug. Dafür 1.500 Euro gesponsert von der Gelsenwasser-Stiftung. Lohnen würde sich das Ganze sowieso nur, wenn ich meine Wohnung in Leipzig untervermieten würde und mir so die Möglichkeit nähme zwischen den Orten zu pendeln. Dass das Pendeln sowieso unrealistisch war, stellte ich fest, als ich sah, dass die Zugverbindung zwischen Leipzig und Gelsenkirchen über sechs Stunden betrug.
Natürlich freute ich mich auch über die Zusage und darüber, dass ich ausgewählt wurde, dass sich irgendeine Jury für mich und meine Arbeit entschieden hatte. Trotzdem war der Urlaub an der Stelle für mich gelaufen. Die Vorstellung den ganzen Sommer in Gelsenkirchen verbringen zu müssen, bereitete mir Panik. Ich wusste, dass ich dort nicht hinwollte, obwohl ich mich beworben hatte. Nicht weil ich über Gelsenkirchen schreiben wollte, sondern weil es eben so läuft, weil das der Betrieb so will – noch ein Stipendium, noch eine Residenz für den Lebenslauf. Damit es gut aussieht, damit sich Verlage irgendwann für mich interessieren. Nur für ein kleines bisschen Aufmerksamkeit, um die Karriereleiter aufzusteigen.
Ich weiß, dass meine Situation privilegierter ist als die der meisten. Abgeschlossenes Studium am Literaturinstitut Leipzig, ein flexibler Home-Office-Job, der die Fixkosten deckt und mir Zeit zum Schreiben lässt. Keine Familie, keine Kinder, um die ich mich zu Hause kümmern muss, keine körperlichen Einschränkungen. Denn das wollen die meisten Literaturresidenzen: biegbare Autor*innen – zeitlich und räumlich. Dass ich es mir nicht leisten konnte, drei Monate Leipzig zu verlassen, war mir eigentlich von Beginn an klar. Anfang des Jahres hatte ich erneut eine Therapie angefangen, drei Monate nicht in Leipzig zu sein, würde bedeuten, den langersehnten Platz aufgeben zu müssen. An einem anderen Zeitpunkt wieder von vorne anzufangen. Die eigene psychische Gesundheit auf Halde zu setzen für das Ziel, irgendwann irgendwo ein Buch zu veröffentlichten.
Was bin ich bereit, dafür einzugehen? Was will ich aufgeben? Wie wahrscheinlich ist es, dass ich in Gelsenkirchen einen Buchvertrag finden würde? Tendenz gegen null, gestand ich mir ein. Ich schrieb eine Mail an die zuständige Koordinatorin und fragte nach den genauen Bedingungen der Residenz, log, dass ich erst mit der Arbeit abklären müsste, ob ich so lange fortsein könne, in der Hoffnung, vielleicht eine Lösung zu finden, bei der ich das Stipendiengeld bekommen könnte, ohne 12 Wochen am Stück in Gelsenkirchen sein zu müssen. Denn natürlich freute ich mich über den finanziellen Teil des angekündigte Stipendiums. In der Antwort hieß es, man ginge schon davon aus, dass das Stipendium größtenteils vor Ort wahrgenommen werde, dass man aber bis jetzt noch keinen Vertrag gebraucht hätte, um das festzuhalten, dass es noch bezahlte Lesungen gäbe und dass eben genannte Texte über die Stadt entstehen sollten. Von einer Plattform, auf der die Texte erscheinen würden, war nicht die Rede. Sinnloses Produzieren von Textmaterial als künstlerische Werbung für die Stadt. Mehr nicht. Kein Interesse an einer nachhaltigen Förderung für Autor*innen.
Hier liegt das Problem: Literaturresidenzen, vor allem solche als Stadtschreiber*in, fordern in erster Linie Eingeständnisse von Autor*innen. Ich schreibe jenen Text über eine Stadt, damit ich heimlich an meinem wirklich, richtig, echten Text arbeiten kann. Es ist ein Katz- und Maus-Spiel. Ich verkaufe meine Zeit, meine Anwesenheit an einem Ort, den ich nicht kenne, ohne Leute, die ich kenne. Ich bin auf mich allein gestellt und soll im besten Fall Stadtmarketing betreiben. Ich werde einkauft. 1.500 Euro pro Monat als Vollzeitstelle. 24 Stunden vor Ort sein. Dass dabei die Autor*innen auf der Strecke bleiben, scheint in den meisten Ausschreibungen völlig verdrängt zu werden. Die Städte wollen sich mit Literatur und der großzügigen Geste auf dem Rücken der Autor*innen schmücken. Wer kann es sich denn leisten, mehrere Monate diesen Kompromiss einzugehen? Wer kann überhaupt mehrere Monate von quasi jetzt auf gleich den Ort wechseln? Wer hält es mehrere Monate ohne soziale Kontakte aus?
Die hiesige Literaturförderung hinkt gewaltig und hat nicht erst seit gestern ein strukturelles Problem. Literaturresidenzen gehen oftmals völlig an den Bedürfnissen der Autor*innen vorbei. Natürlich kann ein Ortswechsel in der künstlerischen Arbeit helfen und inspirierend sein, doch es wird eine riesige Kompromissbereitschaft für ein kleinwenig Zeit und Geld erwartet, Vereinbarungen, die nur von den wenigsten überhaupt erfüllbar sind. Das Problem ist nicht die grundsätzliche Bereitschaft Literatur zu fördern, sondern wie viele dieser Programm umgesetzt werden und wie suggeriert wird, es werde etwas für die Literatur und die Autor*innen getan. Als Autor werde ich in eine Ecke gedrängt, in der ich gar nicht stehen möchte, aber vielleicht stehen muss, wenn ich es denn endlich schaffen möchte.
Ich sagte das Stipendium mit einer Lüge ab. Ich schrieb, dass ich es mir aufgrund der Lohnarbeit nicht erlauben könne, drei Monate die Stadt zu verlassen. Meine psychische Gesundheit wollte ich nicht als Grund anführen. Ich hatte keine Lust auf Diskussionen, auf ein Aushandeln, wie oft ich da sein müsste, damit es in Ordnung ist. Natürlich ist es schade um das Geld und die Zeit, aber ich weiß, dass ich diese drei Monate nicht schadenfrei überstanden hätte. Es gibt immer wieder die Momente, in denen ich die Entscheidung, das Stipendium nicht angetreten zu haben, bereue. Habe ich damit alles verspielt? Darf ich überhaupt absagen? Eine Antwort auf meine Absagemail habe ich übrigens nie bekommen.
Ich schrieb diesen Sommer also in Leipzig mit nicht ganz so viel Zeit und mit den Kompromissen der Lohnarbeit. Dafür konnte ich nach dem Feierabend in den Garten gehen, zum See fahren oder mich mit Freund*innen auf eine Limo treffen. Das ist wahrscheinlich wichtiger als eine weitere Zeile im Lebenslauf und drei Monate Selbstausbeutung in Gelsenkirchen.
Foto von Waldemar