von Maximilian John
Die Videospielkultur hat eigenartige Nischen, die für Außenstehende schwer zu erklären sind. Hier gibt es Praktiken, die sich dem intuitiven Verständnis von Spielspaß widersetzen. Sie sind nicht klassische Unterhaltung und stehen auch nicht im Verdacht, das Medium zu transzendieren oder irgendwie in künstlerischer Art und Weise weiterzubringen. Es sind Nischen, in denen Menschen viel Zeit, Geld und Energie investieren, für eine Belohnung, die augenscheinlich keinen Wert haben kann. Eine dieser Nische ist das intensive Sammeln von Trophäen. So befremdlich dieses Hobby auch wirken mag – es kann uns ein paar Hinweise drauf geben, wie Gameplay und der Kontext, in dem man spielt, zusammenhängen.
Achievement-Systeme sind seit über einem Jahrzehnt fester Bestandteil der Spielkultur. Spieler:innen werden für das Erreichen eines mehr oder weniger willkürlich gewählten Ziels innerhalb der Spiele mit einem Erfolg (einer digitalen Trophäe) belohnt. Diese Ziele weisen dabei ein breites Spektrum auf: Manche Spiele vergeben ihre ersten Erfolge bereits beim Starten des Spiels, andere vergeben sie für das Erreichen von Zielen im regulären Spielablauf, andere wiederum verlangen von Spieler:innen, das Spiel gegen ihre Intuition zu spielen, wenn etwa in einem Third-Person-Shooter ein Erfolg für eine bestimmte Anzahl an Nahkampf-Angriffen vergeben wird.
Dass Erfolge innerhalb eines Spiels gekennzeichnet werden, ist nicht neu. Bereits die frühen Arcade-Spiele hatten Highscores, durch die sich die besten Spieler:innen im Spiel verewigen konnten. Das Besondere an modernen Achievement-Systemen ist, dass sie über das eigentliche Spiel hinausgehen. Die Erfolge, die in einem Spiel errungen werden, sind Teil eines Spiel- und teilweise sogar Konsolenübergreifenden Metasystems, in dem alle Erfolge in allen Spielen zusammengeführt werden. Auf den Microsoft-Konsolen etwa sammeln Spieler so über alle Spiele hinweg Erfolge, die jeweils eine bestimmte Anzahl an Gamerscore bringen. Diese erreichten Gamerscore werden dann zu einem Gesamtscore zusammengerechnet.
Etwas anders sieht es auf den PlayStation-Systemen aus: Hier bringen die einzelnen Erfolge zwar auch Punkte, die in einem Levelsystem zusammengerechnet werden, die Punkte sind allerdings nicht der Fokus des Systems. Die Erfolge erscheinen in Form von Trophäen, die eine unterschiedliche Wertigkeit aufweisen: in aufsteigender Reihenfolge Bronze, Silber, Gold und Platin. In den meisten Spielen gibt es zwar sehr viele Bronze-, aber nur wenige Gold-Trophäen zu erspielen. Die Platin-Trophäe ist auf eine pro Spiel begrenzt und wird für das Erreichen aller anderen Erfolge vergeben. Während auf der Xbox also prinzipiell mit vielen leichten Erfolgen das gleiche Ergebnis erzielt werden kann, wie mit weniger schwierigen, ist dies auf den PlayStation-Systemen nicht möglich. Ausnahme hiervon sind besonders leicht zu erspielende Platintrophäen, die besonders in Kombination mit der Möglichkeit, ein Spiel via Crossbuy direkt für mehrere Systeme zu erwerben, auch als Marketinginstrument eingesetzt werden.
Der Umgang mit Trophäenlisten bei mehreren Versionen eines Spiels ist nicht genormt. Manche Spiele, etwa Persona 5, teilen eine Liste über alle Systeme, auf denen sie erschienen sind. Andere Spiele haben nicht jeweils eine eigene Trophäenliste pro Region und Konsole, sondern eine insgesamt. Es ist also egal, welche Version des Spiels gespielt wird, die Trophäen werden nur ein Mal gezählt. Manche Spiele haben aber pro Konsole, manchmal auch pro Konsole und pro Region, eine eigene Trophäenliste. Das heißt, dass Spieler:innen im Falle eines Crossbuy-Angebots durch den Kauf eines Spiels gleich mehrere Platintrophäen erspielen können. Es liegt in der Hand der Entwickler beziehungsweise in vielen Fällen der Publisher, wie sie dies handhaben möchten. Der Publisher Ratalaika Games etwa hat sich in Konsequenz und vermutlich sehr bewusst dafür entschieden, für jedes Spiel möglichst viele und relativ leicht erspielbare Platin-Trophäen anzubieten. Ihre Spiele sind fester Bestandteil der Trophäenliste vieler passionierter Trophäenjäger:innen und ihre Spiele befinden sich häufiger in den oberen Teilen der Angebotsliste.
Die Anzahl an Spielen, die bewusst eine einfache Platin-Trophäe zu Verkaufszwecken versprechen, ist allerdings trotz des Katalogs von Ratalaika Games und ähnlichen Publishern begrenzt. In den allermeisten Spielen ist das Erreichen der Platin-Trophäe mit zeitlichem Aufwand oder hohen spielerischen Können verbunden – oft sogar mit beidem. Doch es gibt ein Genre von Spiel, dass allein aufgrund seines Wesens und seiner Struktur sich besonders für die schnelle Trophäen-Jagd eignet, ohne dabei jeweils darauf ausgelegt gewesen zu sein. Die Struktur ist sogar deutlich älter als die Trophäen-Systeme insgesamt: Visual Novels.
Visual Novels zeichnen sich dadurch aus, dass sie, wie der Name bereits andeutet, eine Art Roman in Spielform sind. Die Auseinandersetzung mit dem Spiel beschränkt sich weitestgehend auf das Lesen von Textpassagen, die von in der Regel kaum animierten Bildern begleitet wird, die meist aus Charakteren vor wenig detaillierten und nicht selten verschwommenen Hintergründen bestehen. Dass die Porträts von Charakteren dabei eine so wichtige Rolle einnehmen, hängt damit zusammen, dass die Texte zumeist hauptsächlich aus Dialogen bestehen. Das interaktive Element ist im Regelfall die Auswahl von Dialogantworten oder anderen Aktionen aus einem Menü. In manchen Fällen, etwa Hatoful Boyfriend, führt diese Auswahl zu jeweils unterschiedlichen Weiterführungen und Enden der Geschichte, in manchen Fällen gibt es nur eine richtige Antwort und die Aufgabe der Spieler:innen ist es, diese herauszufinden, um nicht in einem Game Over zu enden. In einigen Spielen wird dieser Loop aus Lesen und Auswahl noch durch Minispiele unterbrochen.
Wie bei allen Genres ist es schwierig Visual Novels komplett abzugrenzen, etwa von Dating Sims, die durchaus als eigenes Genre betrachtet werden können, gerade im deutsch- und englischsprachigen Raum aber häufig unter der Genrebezeichnung “Visual Novel” gefasst werden. Auch die Ace-Attorney-Spielreihe, eine ursprünglich für Nintendo-Handhelds erschienene Serie vom Publisher Capcom rund um den Strafverteidiger Phoenix Wright, wird hierzulande als Visual Novel betrachtet, obwohl sie mit einigen Genre-Konventionen bricht und mit dem Fokus auf Rätsel an einigen Stellen stärker an klassische Point-And-Click-Adventures erinnert als an andere Vertreter des Genres.
Gemein ist all diesen Spielen allerdings, dass es sich um eher passive Spiele handelt und die Interaktion nicht mit schnellen Reaktionen, sondern dem Treffen von Entscheidungen verbunden sind: manchmal im Sinne des Lösens eines Rätsels, manchmal im Sinne einer Entscheidung zum Fortgang der Geschichte, manchmal (vor allem in Dating Sims) aber auch im Sinne einer Entscheidung über die Nutzung einer knappen Ressource Zeit. Diese Entscheidungen (etwa zur Nutzung der Ressource) unterscheidet sich dabei beispielsweise von Strategiespielen insofern, als die Folge von Möglichkeiten fest und wahrnehmbar terminiert und nicht dynamisch ist. Jeder Spielablauf ist bei gleichen Entscheidungen also exakt gleich und kann ohne größeren Aufwand reproduziert werden.
Dieser exakt gleiche Ablauf macht Visual Novels für Trophäen-Sammler:innen interessant. Die Bedingungen für das Erreichen der Platin-Trophäen besteht, heruntergebrochen, nur aus dem Anklicken von Optionen in einer bestimmten Reihenfolge, wobei diese Reihenfolge vorher schon feststeht. Das heißt auch, dass das Spiel nicht im eigentlichen Sinne gespielt werden muss. Die jeweilige Auswahl kann komplett aus einem Guide übernommen werden, ohne dass Sammler:innen dabei gezwungen sind auf den Spielinhalt zu achten. Im Zusammenhang mit einer in der Regel vorhandenen Vorspulfunktion ermöglicht dieser Umstand zum einen eine relativ exakte Planbarkeit des Zeitaufwands für eine Platintrophäe und ermöglicht zum anderen nicht nur Spiele in einer beherrschten Sprache zu platinieren.
Unter diesen Gesichtspunkten wandelt sich auch die Bewertung eines Spiels. Geschichte und Grafik werden unerheblich, da beides sowieso nur am Rande wahrgenommen wird. Ins Sichtfeld rücken Aspekte wie: Wie oft muss eine Auswahl getroffen werden? In welchen Zeitabständen? Letzteres ist insofern von Bedeutung, als beim Platinieren von Visual Novels nicht unüblich ist, mehrere Spiele gleichzeitig geöffnet zu haben und so von einem Spiel zum nächsten zu springen und die jeweilige Option auszuwählen. Braucht es nur selten eine Auswahl, können mehr Aktionen in anderen Spielen in dieser Zeit ausgeführt und so mehr Spiele parallel gespielt werden, während das Spiel mehr oder weniger automatisch eine Platin erspielt.
Visual Novels sind nicht die einzigen Spiele, bei denen das effektive Erreichen der Platin-Trophäe zu einer Spielweise führt, die den Spielspaß verringert oder Systeme ad absurdum führt. Schon im Jahr 2009, als die Systeme zwar schon etabliert aber noch deutlich frischer waren, schrieb der Gamedesigner Greg McLanahan im Bezug auf Mehrspielererfolge:
What game designers in general often seem to ignore is that when players are presented a goal, their first inclination is to devise the most efficient (not necessarily the most fun) means of reaching that goal. This is true of any game, with or without achievements, single-player or multiplayer. Show the player the end point, and that player will take the quickest and easiest route, regardless of whatever path the game intended for him to take.” Als Ratschlag fügte er hinzu “Always evaluate the weight and fun of an achievement by the most efficient method by which it is earned. Again, players do what’s efficient, not what’s fun. It’s up to the designer, not the player, to ensure that efficient actions overlap with fun ones.
Für Visual Novels bedeutet dies eine besondere, kaum lösbare Herausforderung. Ihr ganzes Design ist so angelegt, dass es sich für eine effektive Spielweise anbietet, insofern das Ziel nicht das Erleben der Geschichte, sondern das Erhalten einer Platintrophäe ist. Auf den ersten Blick hat diese Art des Spielens nicht viel mit dem „regulären“ Spielen einer Visual Novel zu tun. Intuitiv ist es etwas ganz anderes, eine Checkliste abzuarbeiten, als einer Geschichte zu folgen und aus ihr heraus Entscheidungen zu treffen. Ein Blick auf das Gameplay im engen Sinne, verstanden als (im ersten Schritt kontextlose) Interaktion mit dem Spiel, zeigt allerdings ein anderes Bild: Auf einer basalen Ebene führt das Folgen eines Guides und ein eigentliches Spielen des Spiels zur gleichen Aktion: Einer Auswahl aus einem Menü. Dass diese Auswahl in der jeweiligen Situation einen ganzen anderen Kontext hat und so Spieler:innen anders affiziert, ist hierbei zunächst scheinbar unerheblich.
Diese Art des effektiven Spielens steht erst einmal im krassen Gegensatz zu dem bereits erwähnten Thirdperson-Shooter, der eine Trophäe für eine bestimmte Anzahl an Nahkampfangriffen verleiht, obwohl diese weniger Spielspaß bringen als das Nutzen von Schusswaffen. Der für den Spielspaß intendierte Gameplayloop wird hier ausgehebelt, während der Gameplayloop im Abarbeiten der Guides intakt bleibt. Und trotzdem fällt es schwer, das reguläre Spielen einer Visual Novel mit diesem Abarbeiten gleichzusetzen. In gewisser Weise ist das Abarbeiten des Guides ein Paradebeispiel für Arbeit im Sinne des Philosophen Moritz Schlicks (als etwas, das um etwas anderem willen getan wird, in dem Fall einer Trophäe) gegenüber dem Spielen (im Sinne einer Tätigkeit um ihrer selbst willen). Die Tätigkeit der Trophäen-Sammler:innen, die Visual Novels nicht um ihrer selbst spielen (und häufig aufgrund fehlender Sprachkenntnisse gar nicht spielen können) steht im krassen Kontrast zum Erleben einer Visual Novel als einem künstlerischen Ausdruck, der um seiner selbst willen genossen wird.
Dies wird umso deutlicher, wenn wir uns eine Welt ohne Trophäen vorstellen, in der Menschen Visual Novels wahrscheinlich nicht spielen würden, nur um alles in einer Checkliste abgearbeitet zu haben, während viele Spieler:innen schon Phoenix Wright: Ace Attorney auf dem Nintendo DS, einer Konsole ohne Erfolgssystem, genossen haben. Die Rezeption ist zwangsläufig eine vollkommen andere, und doch ist die Interaktion mit dem Spiel, also das, was das Spiel zum Spiel macht und von Literatur im engeren Sinne unterscheidet, bei beiden Gruppen gleich: die Auswahl aus Menüs.
Was sagt das nun über den Zusammenhang von Gameplay und Kontext aus? Es ließe sich einwenden, dass es sich bei Visual Novels nicht um Spiele handelt, diese also kein Gameplay im engeren Sinne haben. Diese Debatten wurde schon um Spiele geführt, die deutlich mehr Interaktion bieten als die durchschnittliche Visual Novel, etwa bei Heavy Rain oder Beyond Two Souls, zwei Spiele vom französischen Studio Quantic Dreams, die in ihrem Anspruch und ihrer Inszenierung durchaus filmisch sind (und an diesem Anspruch auf voller Linie scheitern). Es ist allerdings bezeichnend, dass bereits bei Detroit: Become Human, Quantic Dreams neuestem Spiel, diese Diskussion deutlich weniger geführt wurde. Letztendlich ist es die Frage, ob jede interaktive Geschichte, die in digitaler Form vermittelt wird, auch als Spiel bezeichnet und behandelt werden kann.
Jede Antwort auf diese Frage hat ihre Probleme und es ist vielleicht gar nicht so wichtig, wo genau die Grenze zwischen Spiel und Film oder Literatur verläuft. Visual Novels sind als Genre auch nicht uniform genug, um bei einer strengen Kategorisierung alle auf einer Seite der Antwort zu landen. Letztendlich hat die Frage auch wenig Bedeutung für das, was ist und ist allenfalls für eine wie auch immer geartete distinktive Abgrenzung in irgendeine Richtung. Für die eigentliche Fragestellung ist die Kategorisierung uninteressant. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass benachbarte Literatur, etwa Choose-Your-Own-Adventure-Bücher, mit der gleichen Fragestellung konfrontiert wären, wenn es für das Erlesen aller Enden eine Belohnung geben würde.
Gehen wir also davon aus, dass wir die Auswahl in Menüs als Gameplay bezeichnen können: Wie verhält es sich mit Gameplay und Kontext? Vielleicht gibt es hier keine Eindeutigkeit. Die beiden Modi des Spielens sind gleich in der Aktion, ungleich im Kontext. Zwischen den Arten des Spielens bestehen eine diffuse Ähnlichkeit, die allenfalls in der Rezeption unterschieden werden kann. Die Unterschiede finden also nicht am Spiel selbst, sondern erst in der Wahrnehmung des Spiels statt.
Dieser Umstand ist auf der einen Seite banal. Bei weniger stark determinierten Spielen tritt diese Banalität offensichtlicher auf: Eine strikte Orientierung an einem Guide würde Irritationen hervorrufen, da das Spiel nicht zwangsläufig so reagiert wie intendieert. Der Unterschied in der Wahrnehmung beim kompletten Verlassen auf einen Guide gegenüber dem regulären Spielen führt zu einem Nachteil im Spiel, der in einem Scheitern mündet. Auf der anderen Seite hebt der Umstand aber auch hervor, dass Spiele mehr sind als ihr Gameplay und das Gameplay für sich genommen immer nur im Kontext des restlichen Spiels betrachtet werden kann. Bei genauerer Untersuchung zeigen viele Spiele hier offen ihr Scheitern als Spiel, da das Gameplay und der Rest des Spiels kein Einklang finden, wie sich etwa in Phänomen der Ludonarrativen Dissonanz zeigt.
Visual Novels decken durch ihre Klarheit und Erwartbarkeit auf, in welchem Verhältnis das Gameplay und der Kontext, in dem gespielt wird, zueinander stehen und in der Rezeption nur zu trennen sind, wenn bestimmte Aspekte ausgeblendet werden. Für die meisten Spiele ist dies nur teilweise möglich. Es gibt keine Vorspulfunktion und es reicht nicht aus, eine Menüauswahl zu treffen, deren Verständnis nicht einmal vorausgesetzt werden muss. Durch das Ausblenden der Geschichte, das Überspringen der Zwischensequenzen und Podcastkonsum während des Spielens kann der Kontext verschleiert und verfälscht, aber eben nicht komplett aufgehoben werden.
Die meisten Spiele erfordern in ihrem Gameplay einen zu großen Fokus auf das Drumherum. Aus diesem Grund nimmt das Platinieren von Visual Novels auch eine gewisse Sonderstellung ein: Die Interaktion mit dem Spiel kann auf ein Minimum begrenzt werden, das noch weit unter dem Minimum der Interaktion mit den meisten anderen Spielen liegt. Neben der im Regelfall deutlich schnell erreichten Platintrophäe bedeutet dies auch, dass Trophäenjäger:innen, denen es nur um die Zahl im Profil geht, sich noch weniger mit dem Spiel befassen müssen, als es bei jeder noch so belanglosen Trophäe in anderen Spielen der Fall ist.
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