Schwangerschaft erzählen – Zwischen Tabu und Idealisierung

von Clara Sondermann

 

In unserem Viertel sehe ich viele Familien mit kleinen Kindern. Erst seitdem ich Mutter bin, fallen mir auch die schwangeren Frauen auf. „Ich habe nicht gewusst, was eine schwangere Frau ist“, schreibt Anna, die Hauptfigur in Mit arbejde (dt. Meine Arbeit[1]), dem aktuellen Roman der dänischen Autorin Olga Ravn. Der Roman, abwechselnd auch Essay, Drama und Gedicht, erzählt von der Autorin Anna, die kürzlich Mutter geworden ist. Anna möchte sich nicht zwischen Care- und Erwerbsarbeit entscheiden müssen und Ravn stellt ihr, wie um dem Dilemma zu entgehen, eine Erzählerin an die Seite, die so etwas wie ihre Doppelgängerin ist. Schon in den ersten Sätzen zeigen sich Mutter und Autorin wie zwei widerstreitende Pole in ein und derselben Person: „Wer hat dieses Buch geschrieben? Ich, natürlich. Auch, wenn ich gern das Gegenteil beweisen würde.“ Mal schreibt Anna, mal gibt die Erzählerin Annas Aufzeichnungen wieder – oder sieht ihr wie einer Schauspielerin auf der Bühne beim Nachgehen der häuslichen Pflichten zu. Das literarische Motiv der Doppelgängerin macht vielleicht nirgends so viel Sinn wie an dieser Stelle. Ravn zeigt die gespaltene Frau, die versucht, die Erwartungen an sie zu erfüllen und gleichzeitig dagegen zu kämpfen.

Von einer Mutter wird immer noch häufig erwartet, dass sie von einem Moment auf den anderen ihre eigenen Träume begräbt und sich selbstlos und glücklich der Erziehung des Kindes widmet. Anna schreibt: „Ich frage mich, was näher an der Wahrheit ist, Fiktion oder Realität. Mir wurde so viele Male erzählt, dass der Moment, in dem das Kind den Körper der Mutter verlässt, der glücklichste in ihrem Leben ist. Aber so war es nicht. Es war schrecklich. Seit der Geburt meines Kindes kämpfe ich mit dieser Geschichte. […] Schritt für Schritt habe ich diese Geschichte als Fiktion entlarvt. Die Geschichte der glücklichen Mutter. Und ich frage mich: wofür war diese Geschichte gut?“ Anna kommt zu dem Schluss, dass sich die Bevölkerung nur kontrollieren lässt, der Status Quo nur aufrecht erhalten werden kann, wenn die Geschichte ihrer Reproduktion eine glückliche ist. Annas Geschichte dagegen ist eine der Schmerzen und des eigenen Verschwindens.

Ich denke an die ersten Wochen meiner eigenen Schwangerschaft, in denen ich mich nur übergeben habe. Die schwangerschaftsbedingte Übelkeit, Hyperemesis gravidarum, ließ auch nachts nicht nach. Als ich kein Wasser mehr bei mir behalten konnte, wurde ich ins Krankenhaus eingewiesen, wo ich zehn Tage lang glucosehaltige Infusionen bekam. Mein Körper konnte nichts mehr aufnehmen und ich fragte mich, wie er in der Lage sein sollte, das Kind zu versorgen. Es war eine zermürbende Zeit, vor allem, weil es für meine Erfahrung keine Berechtigung zu geben schien.

Das Krankenhauspersonal und die Gynäkologinnen gaben mir das Gefühl, unfähig zu sein, einen wundervollen Zustand annehmen und genießen zu können. So bekam ich Schuldgefühle, noch bevor mein Kind die Größe einer Erbse erreicht hatte. Erst eine Psychologin konnte die Aufregung in meinem Kopf ordnen. Wenn sich ein neuer Körper in einem bestehenden Körper einrichtet, kann das mit anhaltenden Strapazen verbunden sein, für die euphemistische Bezeichnungen wie ‚Morgenübelkeit‘ mehr als unzreichend sind. Das bloße Wissen darüber könnte Schwangeren in einer vergleichbaren Situation helfen, sich weniger einsam und falsch zu fühlen.

Aber die Mauer des Schweigens ist unglaublich dicht. Das stumme Leiden der Frau ist Konsens, die unsichtbare Reproduktionsarbeit eingeschlossen. Die meisten Gespräche, die ich mit anderen Schwangeren, Müttern und Ärztinnen geführt habe, konzentrierten sich auf die positiven Aspekte der Schwanger- und Mutterschaft. Auf die Fiktion. Das bedeutet, dass ein Großteil der überwiegend weiblichen Erfahrung einfach heruntergeschluckt werden muss.

Rachel Cusk hat bereits vor zwanzig Jahren in ihrem Memoir A Life’s Work gefragt, warum ihr niemand von den brutalen Seiten der Mutterschaft erzählt hat. Mit arbejde lehnt sich gewissermaßen daran an, zitiert andere Schriftstellerinnen mit ähnlichen Fragen und macht das Angebot einer Gemeinschaft. In seiner Form ist der Text auch eine Auflehnung gegen Perfektion und Effizienz, und eine große Suchbewegung. Es gibt mehrere Anfänge, Fortsetzungen und Enden, Fragmente, deren Faden wieder aufgenommen werden kann, wenn die Zeit gekommen ist. „Meine Arbeit ist es, dafür zu sorgen, dass Buch und Kind einander nicht in den Schatten stellen“, schreibt Anna.

Auch ich habe das Bedürfnis zu arbeiten, seitdem unsere Tochter auf der Welt ist. (Mit Arbeit meine ich hier die Arbeit mit Büchern, mit der ich Geld verdiene.) Gleichzeitig kann ich keine halbe Stunde in einem anderen Zimmer sitzen, ohne an mein Kind zu denken. Ich denke sie mit, bei allem was ich tue. Beim Schreiben dieses Textes, beim Spaziergang allein – eigentlich kann ich gar nicht mehr allein sein. Rachel Cusk schreibt in A Life’s Work, dass die Geburt die Frau nur physisch vom Kind entbindet, nicht aber sozial: “Another person has existed in her, and after their birth they live within the jurisdiction of her consciousness. When she is with them she is not herself; when she is without them she is not herself.”

Ich finde eine Notiz aus dem frühen Wochenbett: „Das Kind besiegt regelmäßig meinen Kopf – alles, was ich für meine Vernunft gehalten habe. Das Kind ist zu meinem Kopf, es ist zu meiner Vernunft geworden.“ Vielleicht hat das Kind auch meine Gedanken gekapert.

Olga Ravn arbeitet sich am Mythos der glücklichen Mutter ab, nimmt Schwangerschaft und Geburt aber an keiner Stelle die Mystik. In einem Interview mit der Autorin Samantha Hunt im New Yorker stoße ich dazu auf eine interessante Frage. Hunt sagt über das Kinderkriegen: „How can we be honest except to say that we don’t understand? While I enjoy being overwhelmed by the wonderful, the magnificent, I also wouldn’t mind having more information.” Während ihrer Schwangerschaft habe der gesamte Fokus auf der Geburt gelegen, erzählt Hunt. Dabei habe sie sich gewünscht, dass ihr jemand erklärte, wie in ihrem Körper gerade Augen entstanden waren: “I still have no idea. And I chalk that ignorance up to sexism. If men made eyes, we’d learn how it happens in second grade.”

Würden wir Schwangerschaft und Geburt vielleicht tatsächlich weniger als Wunder und mehr als komplexen biologischen Vorgang begreifen, wenn er uns als solch ein Vorgang schon in der Schulzeit vermittelt worden wäre? Schwangerschaft und Kinderkriegen werden aber viel häufiger mit  Wundern verglichen, die wir sonst nur aus Märchen oder der Bibel kennen. Ich habe mich dagegen nie so sehr den Naturgesetzen unterworfen gefühlt wie als Schwangere. Das war ungewohnt, aber es hat mich weniger irritiert als die Erzählung von der Schwangerschaft als einem Wunder. Sie lässt – ebenso wenig wie das Bild der glücklichen Schwangeren – keinen Raum für die ganz unangenehmen, aber realen Erfahrungen und Empfindungen.

“Warum hält sich die Vorstellung in meinem Inneren so hartnäckig, dass ich nicht ohne Scham über Mutterschaft schreiben kann?“, fragt Anna. Kann im Umkehrschluss nur eine Autorin schamlos über Mutterschaft schreiben, wenn sie selber keine Mutter ist? Sheila Heti hat in Mutterschaft so ziemlich alle Fragen gestellt, die man als Nicht- oder Noch-nicht-Mutter stellen kann und auch alle wunden Punkte berührt, die es in dieser Angelegenheit gibt. Heti stellt gute Fragen – vor allem fragt sie sich, warum sie keine Kinder bekommen möchte. Zwischen den Kapiteln wirft sie Münzen: „Ich muss fragen, ob ich wie eine dieser blassen, zerbrechlichen Schriftstellerinnen bin, die nie das Haus verlassen, keine Kinder haben und mich schon von jeher irgendwie faszinieren und erschrecken? Ja. Kann ich irgendetwas tun, um nicht so zu sein? Nein. Ist es eine echte Schande, so zu sein? Ja. Heißt so zu sein im Grunde: egoistisch? Ja.

Heti begreift sich als moderne, unabhängige Frau, die fürchtet, dass ein Kind ihre Integrität und Freiheit beschneiden wird. Sie erzählt von ihren jüdischen Vorfahren, denen gegenüber sie eine gewisse Verpflichtung empfindet, von ihrer Mutter und der Beziehung zu ihrem Freund. Am Ende ihrer Überlegungen tendiert sie immer wieder zu einem Nein auf die Kinderfrage, nicht ohne Melancholie: „Es liegt eine Traurigkeit darin, etwas nicht zu wollen, was dem Leben so vieler anderer Menschen Bedeutung verleiht.“ Die Kinderfrage wird hier recht schematisch behandelt, auch, wenn der Roman ähnlich lose erzählt ist wie Olga Ravns Mit arbejde. In Mutterschaft kann hingegen der Eindruck entstehen, es gäbe nur zwei Lebensrealitäten, zwischen denen sich eine Frau, genauer gesagt Autorin, entscheiden kann: Entweder bleibt sie kinderlos und Autorin oder sie wird Mutter, dann muss sie sich von der Kunst verabschieden. In der Hinsicht ist das Buch, bei aller Radikalität im Ton, recht traditionell.

Auf die Frage, wer eine Mutter sein kann, findet die Autorin Anne Waak ganz andere Antworten. Sie erzählt in ihrem Buch Wir nennen es Familie von Familienkonstellationen mit viel mehr als den üblichen zwei nahen Bezugspersonen für das Kind. Die biologische Mutter muss weder die erste Bezugsperson noch bekannt sein. Mutterliebe sei auch kein Instinkt, schreibt Waak. Erst mit der Aufklärung sei die Liebe zwischen Eltern und Kind in den Fokus gerückt und die Mutterschaft von einer Pflicht zu einer erfüllenden Tätigkeit aufgewertet worden. „Die moderne Familie formiert sich um diese zu Opfer und Hingabe bereite Mutter herum, während der Vater von dieser Intimität ausgeschlossen bleibt“, schreibt Waak.

Tatsächlich wird es anderen Personen als der Mutter heute immer noch erschwert, auch nur ansatzweise so viel Lebenszeit mit dem Kind zu verbringen. Es gibt beispielsweise keine Vaterschutzgesetze und wenn ein Vater nach der Geburt seines Kindes länger als zwei Monate in Elternzeit gehen möchte (das Minimum, um den Bezugszeitraum zu verlängern), gehört er zur absoluten Minderheit und muss Diskussionen mit dem Arbeitgeber führen. Anders gesagt ist es wahrscheinlicher, dass ein Mann seinen Job riskiert, als dass er so viel Elternzeit nehmen kann, wie es die Familienplanung vorgesehen hat. Das ist nicht nur für den Mann ernüchternd, es erschwert auch der Frau den Wiedereinstieg in den Beruf.

Es ist also leichter, bei der Familienplanung in konventionellen Strukturen zu landen und vor den strukturellen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen zu kapitulieren, als durch Diskussionen und Auseinandersetzungen zu einer selbstbestimmteren Lösung zu kommen.

Wut kann hier ein produktives Gefühl sein, ein Gefühl, das meine Schwangerschaft begleitet hat. Die Wut wuchs bei mir zeitgleich mit dem Kind heran. Sie half mir, mein Terrain zu verteidigen und mich abzugrenzen. Wenn eine Frau schwanger wird, wird ihr Körper öffentlich. Die Wut war wie ein Panzer für das Kind und mich, aber auch der Ausdruck meiner Fassungslosigkeit angesichts der schon angesprochenen vielen blinden Flecken, die Schwanger- und Mutterschaft durchziehen. Ich stellte fest, dass ich nichts wusste. Über die Schrecken, die Überforderung, die Aufgaben.

Seit meiner Schwangerschaft ist inzwischen fast ein halbes Jahr vergangen. Sie kommt mir vor wie ein nebliger Traum, auf jeden Fall nicht wie etwas, das ich erlebt habe.

Auch die Erinnerung an die ersten Wochen nach der Geburt ist verschwommen. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich nicht mehr wütend war, sondern sentimental. Sogar der Schein der Lampe an der Wand rührte mich. Die Hebamme hatte uns gesagt, dass wir auch nachts ein Licht anlassen sollten. Also stellte ich meine Schreibtischlampe neben das Bett und fixierte diesen Fleck Licht im Zimmer wie die Spitze eines Leuchtturms. Es rührte mich, dass die Lampe einfach leuchtete.

Als mein Freund mir an einem Nachmittag im November einen Absatz aus A Little Life von Hanya Yanagihara vorlas, traf mich die ungeheuer zutreffende Beschreibung der Angst, die schon länger Teil meines Unterbewussten gewesen war. Im Buch beschreibt eine der Figuren die Liebe zum Kind:

„It is a singular love, because it is a love whose foundation is not physical attraction, or pleasure, or intellect, but fear. You have never known fear until you have a child […] Every day, your first thought is not I love him but How is he? The world, overnight, rearranges itself into an obstacle course of terrors. I would hold him in my arms and wait to cross the street and would think how absurd it was that my child, that any child, could expect to survive this life. It seemed as improbable as the survival of one of those late spring butterflies – you know, those little ones – I sometimes saw wobbling through the air, always just millimeters away from smacking itself against a windshield.”

Auch diese Angst ist sicher nicht ungewöhnlich, trotzdem habe ich bislang kaum mit jemandem darüber gesprochen. In ihrem Essay in der Paris Review beschreibt die Autorin Claudia Dey, dass es in Gesprächen mit jungen Eltern nie um die Angst und den Tod gehe: “The conversations I had with other new mothers stayed strictly within the bounds of the list: blankets, diapers, creams. Every conversation I had was the wrong conversation. No other mother congratulated me and then said: I’m overcome by the blackest of thoughts. You?”

Vielleicht wird mein Kind irgendwann fragen, warum ich ihr nicht von der Angst erzählt habe, die das Wochenbett begleitet. Von der Angst, an die man sich so langsam gewöhnen muss wie an das Kind selbst. Vielleicht wird mir erst in dem Moment wieder einfallen, dass es diesen Zustand einmal gegeben hat, dass er mehrere Wochen andauerte und sehr schwarz war – mit Ausnahme des Lampenscheins – und von außen aussah wie Glück.

Ich weiß immer noch nicht, was eine schwangere Frau ist. Aber ich sehe sie jetzt.

[1] Die ausgewählten Passagen wurden von Clara Sondermann übersetzt

 

Photo by Jan Tinneberg

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