von Franziska Reuter
Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass Twitter die Alt-Text-Funktion für alle Nutzer:innen sichtbar gemacht hat. Schon wieder so ein Satz, den nur versteht, wer Social Media benutzt. Für die Glücklichen, deren Aufmerksamkeitsbedürfnis oder Job sie nicht auf soziale Medien gezwungen hat: Alt-Text bietet die Option, jedes geteilte Bild mit einer Beschreibung zu versehen, die sehgeschädigte oder blinde Menschen sich vorlesen lassen können. Manchmal ist das entscheidend zum Verständnis des Tweets. Sichtbar zu machen, welche Bilder mit Alt-Text versehen sind und welche nicht, hat auf Twitter eine ganz neue Dimension von Konfliktpotential freigeschaltet. Aber dazu später.
An sich ist die Funktion nicht neu. Schon seit Jahren konnte man sie manuell zuschalten und die Beschreibung ausfüllen. Das machten nur nicht sonderlich viele. Und da Twitter bis zur Übernahme durch Elon Musk dann und wann eine gute Entscheidung traf, entschied das Unternehmen im Sinne der Barrierefreiheit. Wer ein Bild hochlädt, muss nur noch auf das “Alt”-Feld tippen und ein paar Worte hineinschreiben. Ob man das gemacht hat, sehen alle User*innen.
Die User*innen können und müssen selbst entscheiden, wo sie Alt-Text verwenden. Manche entscheiden sich aktiv dagegen. Manche vergessen es schlicht. Und da fangen die Probleme an. Denn es gibt gar nicht so wenige Menschen auf Twitter, die einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit der Aufgabe widmen, andere auf ihr Versäumnis hinzuweisen. Nach meiner Beobachtung sind die meisten von ihnen nicht selbst sehgeschädigt, sondern handeln als Allies. Das ist ehrenwert. Man kann sich nicht vorstellen, dass es sonderlich Spaß macht, dauernd für eine marginalisierte Gruppe einzustehen, der man nicht mal angehört, und damit häufig auf Genervtheit zu stoßen. Außer, und da kommen wir zum Konfliktpotential, dass es manchen sehr wohl Spaß zu machen scheint.
“Schade, du hast die Bildbeschreibung vergessen” ist wahrscheinlich die netteste Formulierung, die mir im vergangenen Jahr dazu begegnet ist. Aber die Skala der passiven Aggressivität ist nach oben offen. Häufig geht die Erinnerung auch in die Richtung “von dir hätte ich mehr erwartet”. Außerdem sieht man in der Reply-Historie der Person oft eine Antwort dieser Art nach der anderen. Das vermittelt einigen auf Twitter den Eindruck: Hier ist jemand, dem es nicht so sehr um Barrierefreiheit geht, sondern der einfach große Freude daraus zieht, andere öffentlich zurechtzuweisen. Das ist der erste Grund, warum einem manchmal Wortduelle unter diesen Tweets begegnen, in denen die Angesprochenen äußerst verärgert reagieren.
Es geht dabei aber nicht nur um den Tonfall der Erinnerung. Hier stoßen vielmehr zwei ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen von Social Media aufeinander. Die eine Seite sieht und nutzt Twitter eher so wie die frühen Blogs: persönlich und impulsiv. Die andere Seite sieht Twitter als relevante Plattform für den Austausch von Information und Meinung. Das ist grundsätzlich vollkommen zutreffend. Auf Twitter starten Bewegungen, es wird Lobby-Arbeit und Politik gemacht. Nur eben nicht von allen Accounts. Wer jeden Morgen ein Foto von seinem Espresso und jeden Nachmittag ein Foto seiner Katze postet, entscheidet zwar durch die Weglassung von Alt-Text eigenmächtig, eine ganze Gruppe von Menschen davon auszuschließen, die sich dann fragen muss, was nun auf dem Bild zu sehen sein könnte. Denn Screenreader überspringen diese Inhalte nicht einfach. Aber man kann natürlich darüber diskutieren, wie wertvoll hier die Bildbeschreibungen “Kaffeetasse” oder “Katze auf Kratzbaum” wären.
Das bringt uns zum zweiten Grund, warum die gerügten Twitterer:innen manchmal so wütend werden: Wer auf Social Media persönliche Inhalte teilt, erwartet nicht, dafür angemault zu werden. Je persönlicher, desto schlimmer. Da das Maß aber offenbar mal verloren gehen kann, wenn man sich dem Projekt Alt-Text verschrieben hat, finden sich wohlmeinende Erinnerungen unter Tweets von Menschen, die offensichtlich gerade sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Die vielleicht um jemanden Angst haben oder trauern. Die wegen einer Herausforderung aufgeregt sind. Die wütend sind, weil ihnen Ungerechtigkeit widerfahren ist. Wer wirklich glaubt, der guten Sache einen Dienst zu erweisen, indem er auch in solchen Situationen den Zeigefinger hebt, irrt gewaltig. Wenn die Angesprochenen überhaupt reagieren, dann entweder mit einer verärgerten Antwort – oder indem sie blocken. Beides ist absolut erwartbar. Nichts davon bringt die Barrierefreiheit weiter.
Hinzu kommt, dass die Alt-Text-Allies ihre Erinnerungen durchaus nicht willkürlich über die ganze Plattform streuen. Sonst könnte es ja einfach mal passieren, dass jemand versehentlich gerügt wird, den man eigentlich gerade in Ruhe lassen sollte. Tatsächlich gibt es nur eine Personengruppe, die konsequent in Ruhe gelassen wird: die, von denen man sich ohnehin kein inklusives Verhalten erwartet. Meine Suche ergab zum Beispiel keinen Tweet, in dem jemand Julian Reichelt gebeten hätte, beim nächsten Mal doch bitte Alt-Text zu benutzen. Stattdessen ergeht die Erinnerung hauptsächlich an Leute, die sich ohnehin schon Mühe geben, sich anständig zu verhalten.
Man mag diesen Einsatz von Zeit und Energie für ökonomisch halten. Aber diese Ungleichbehandlung sorgt eben auch für Unwillen: dort die, die sich ungestraft aufführen wie eine offene Hose, und hier ich, die ich jetzt einmal Alt-Text vergessen habe und sofort eine passiv-aggressive Antwort bekomme. Der Hinweis darauf, dass man etwas Richtiges zu tun versäumt hat, trifft eben nur die, die überhaupt einen moralischen Anspruch an sich selbst haben. Dieses Gefühl, dass an einen selbst immer noch höhere Maßstäbe angelegt werden, dürfte der dritte Grund sein, warum viele Nutzer*innen nicht dankbar reagieren, wenn sie an die Bildbeschreibung erinnert werden.
Und wie nun rauskommen aus diesem Konflikt? Es gibt keinen Ausweg. Nur ein paar Hinweise, die es vielleicht leichter machen könnten: Es gibt einen Unterschied zwischen einer Erinnerung und dem Reinreiben eines Versäumnisses. Es gibt Zeitpunkte, in denen Menschen nicht dafür empfänglich sind. Und wenn man wirklich etwas verändern will, sollte man sich nicht zu lange an den leichtesten Zielen aufhalten. Vor allem aber bleibt die Erkenntnis: Soziale Entwicklungen, und darum handelt es sich hier, müssen niemandem Spaß machen. Denn manchmal sind es nur der Konflikt, die Genervtheit, das Wortgefecht, die genug Aufmerksamkeit schaffen.