War die Tankstelle einer der mythischen Räume, an dem der Zeitgeist des vergangenen Jahrhunderts offenbar wurde, so ist der Serverraum einer der Orte, an denen das 21. Jahrhundert paradigmatisch wird. Das Brummen der Algorithmen, die umfassende Vernetzung, die schöne Kühle der technischen Geräte – in Datenzentren, wie sie „Google“ oder „Facebook“ betreiben, spielt sich die Welt im Kleinen, Geheimen und Rätselhaften ab.
Kein Wunder, dass auch eine der Figuren aus Josefine Rieks‘ „Serverland“ ständig danach fragt, ob man „dieses Facebook“ reaktivieren könne. Denn unser jetziger vernetzter Alltag ist in Rieks‘ Fiktion zum digitalen Mythos geworden. Nach einem Referendum in einer näheren Zukunft wurde das Internet abgeschaltet. Laptops, Bildschirme und Beamer sind zur Ramschware geworden, die Druckmedien erleben eine Renaissance. Die Gründe hierfür bleiben im Dunkeln, ja, insgesamt wird der Leserschaft wenig Kontext geboten, in was für eine Welt sie sich gerade hineinliest.
Ob die AfD, die Linke oder ein KI-Digitalisat von Angela Merkel Deutschland regiert, wird nicht erwähnt. Immerhin, die deutsche heile Welt scheint kaum angetastet: Im „Aral“ kauft der Protagonist Reiner „Haribo“-Tüten ein, später erfahren wir, dass er bei der „Deutschen Post“ arbeitet. Für die einen mag so eine Zukunft wie das Paradies, für die anderen wie die Hölle klingen. Für Reiner, einen Mittzwanziger, der sich die Zeit mit dem Sammeln von Laptops und dem Spielen alter PC-Spiele vertreibt, ist es wohl irgendetwas dazwischen.
Mit einer Sequenz aus dem Echtzeit-Strategiespiel „Command and Conquer“ setzt „Serverland“ denn auch ein: Die Freiheitsstatue wird von sowjetischen Raketen beschossen, in deren „patinagrünen“ Augen blitzt Panik auf, bevor sie krachend zusammenfällt und Soldaten unter sich begräbt. Es ist eine schachmattige Eröffnung, eine Verschachtelung, die sich wundersam verkantet: In einer nicht-apokalyptischen Zukunft spielt ein nostalgischer Nerd ein PC-Spiel aus den 90ern, das eine kriegszerstörte Zukunft imaginiert. Das Ausbleiben der Katastrophe generiert erst die Langeweile, die der endzeitlichen Fiktion bedarf, um sich selbst zu bekämpfen.
Nach dem Internet ist vor dem Internet
In diesem euphorielosen Leben, dessen Highlight tote verpixelte GIs sind, hat Reiner sich eingerichtet, als er von einem Freund zu verlassenen Server-Hallen mitgenommen wird. Und schon glimmt die einstige Utopie des Internets in den Augen und Kabelausgängen erneut auf. In der holländischen Pampa treffen sich immer mehr junge Leute, die kommunenhaft nahe stillgelegter „Google“-Server campieren. Sie gieren nach dem Früheren, nach der vermeintlichen Freiheit der Nuller- und Zehnerjahre. Aus den Datenbanken ziehen sie „Youtube“-Videos auf ihre Festplatten, die sie sich dann voller Begeisterung zeigen. So lebte man damals, so stellte man sich damals zur Schau. Robbie Williams reißt sich im Musikvideo zu „Rock DJ“ zuerst die Kleider, dann die Haut vom Körper. In Endlosschleifen knallen die Flugzeuge in die WTC-Türme.
An diesen Stellen flackert kurz auf, wie konzeptuell vielversprechend „Serverland“ ist. Es hätte ein toller Medienroman über das Leben und Wahrnehmen im 21. Jahrhundert werden können, darüber, wie wir zwischen News-Feed, digitaler Manie und körperlosen Stellvertretern feststecken, den Blick auf die große Idee gerichtet, dass das Internet die Rettung sei. Nicht umsonst ist dem Roman ein Zitat des kürzlich verstorbenen Internet-Aktivisten John Perry Barlow vorangestellt: „I declare the global social space we are building to be naturally independent of the tyrannies you seek to impose on us.“
Gerade diese tyrannische Agenda verhandelt „Serverland“ aber nirgends. Dabei gäbe es ausreichend Anlässe: In den USA will eine Behörde die Netzneutralität, die den freien Datenverkehr garantiert, abolieren. In China sollen über ein total(itär) vernetztes System alle Bürger nach Sozialpunkten bewertet und diszipliniert werden. Die ökonomische und politische Indienstnahme des Internets in die Fiktion hinein zu verlängern – das hätte dem Roman eine Dringlichkeit gegeben. Stattdessen wird das Internet weggezappt, als reiche es, einen Off-Knopf zu drücken, um etwas zum Verschwinden zu bringen. Aber was ist mit den gesellschaftlichen Verwerfungen, die in den sozialen Netzwerken zu Tage treten? Was mit der individualisierten Werbung, die uns Schuhe, Slips und Strandurlaube andreht?
Weder Mühe noch Spaß
Auch hier zeigt sich die Einfallslosigkeit dieser Welt: Der Zustand nach dem Internet ist nahezu identisch mit demjenigen vor dem Internet. Alles ist eingeengt auf die klug gedachte, aber konfus gestellte und kleinlich beantwortete Frage, welches utopische Potential im Menschheitstraum Internet steckt. Und es bereitet weder Mühe noch Spaß, Rieks‘ lau vor sich hin agierendem Personal bei ihrem Projekt zu folgen. Mal kaufen Reiner und Jonny irgendetwas ein, mal streitet sich Reiner mit Marco. Gäbe es keine Namen, alle Figuren wären eins. Zugleich ist die Sprache ohne jeglichen Ehrgeiz, ohne bildhafte oder rhythmische Dynamik: Ein modisches Sujet gereicht hier zum Schreiben und Verlegen.
Dabei ergreift einen immer wieder die Lust, sich in diesem Zukunftsentwurf umzuschauen. Mal will man mehr über die Atmosphäre und das Milieu dieser neuen, anderen Zeit erfahren, bekommt dann aber wenig mehr als die Info, dass der „VW Scirocco“, mit dem Reiner herumfährt, als Oldtimer gilt. Mal will man sich in Internet- und Medienüberlegungen hineinfuchsen und in den Dialogen nach Theorie-Anhaltspunkten suchen. Stattdessen werden bestimmte Ausführungen, etwa zur technischen Prophetie, wie sie Steve Jobs und Bill Gates ablieferten, ironisch als Expertensprech heranzitiert.
Schade, ja, ärgerlich, dass „Serverland“ wenig mehr ist als ein Anreger, Anderes zu lesen: Wer sich für medientheoretische Überlegungen, u. a. zu Video- und Buffer-Mechaniken von Youtube, interessiert, ist mit Tom McCarthys Roman „Satin Island“ besser beraten. Wer sich fragt, wie Gesellschaften sich in einer (absichtlich herbeigeführten) Post-Internet-Zeit in weltanschaulichen Cliquen organisieren, der lese Leif Randts Roman „Planet Magnon“. Und wer eine erschriebene Ahnung bekommen möchte, wie Nachgeborene auf uns zurückblicken werden, kann zu Roger Willemsens Essay „Wer wir waren“ greifen.
Überzeugende Besprechung. Schon die zweite, die deutlich macht, das aus einer interessanten Idee hier wohl leider wenig gemacht wurde…