Schlagwort: Gegenwartsliteratur

Wettlesen bei Susi’s Backhendlstation – Der Bachmannpreis 2023

von Eva-Sophie Lohmeier

Die Unterkunft lag in einem Dreieck aus Polizei, Laufhaus und Friedhof, und hinter dem Friedhof war Susi’s Backhendlstation, mehr braucht man im Leben und im Sterben nicht. Vielleicht noch die Konditorei unten im Haus. Vielleicht noch den See bei der Hitze im Sommer, aber dann ist wirklich Schluss. Hier könnte man in Ruhe existieren und jeden Tag diese unfassbaren Berge an Backhendl essen, die aufgetischt werden. Danach wahlweise einen monströsen Eisbecher oder einen Zirbenschnaps. So könnte es gehen in Klagenfurt, der kleinen Stadt in Kärnten, die von einem regiert wird, der einmal Jörg Haiders Tennislehrer war. Auch das könnte man herrlich ignorieren, kämen nicht ab und zu Stadtschreiber:innen, die einen in aller Öffentlichkeit daran erinnerten.

Die Stadtschreiber:innen sind ein Kollateralschaden des jährlich ausgetragenen Bachmann-Wettlesens, das offiziell „Tage der deutschsprachigen Literatur“ heißt beziehungsweise „Ingeborg-Bachmann-Preis“ nach dem höchstdotierten der Preise, die stets Ende Juni, Anfang Juli vergeben werden. Daneben gibt es ein ganzes Rahmenprogramm, das etwas despektierlich „Häschenkurs“ genannte Förderstipendium, Lesungen, Konzerte, ein Quiz und einen Empfang beim ehemaligen Tennislehrer, der nun als Bürgermeister arbeitet und sich auch dieses Jahr sehr große Mühe gab, wie jemand zu wirken, dem die schöne Literatur am Herzen liegt. Außerdem kann man in der Stadt kaum einen Schritt tun, ohne versehentlich in einen Autor oder zumindest Verlagsmenschen zu rumpeln. Und dann geht es sofort los: Wie fand man die Rede, wie war der Lesetag, wer war gut, wer weniger, was hat die Jury wieder abgelassen und wer hat es verdient, zu gewinnen? Nicht einmal auf der Buchmesse wird so viel über Literatur und Texte gesprochen, und dort betreibt man einen erheblich höheren Personalaufwand als das kleine ORF-Landesstudio Kärnten mit seiner dauerüberforderten Kantine, der ständig die Semmeln für die Leberkässemmeln ausgehen. 

Alles beginnt also am Mittwoch Abend mit vielen Reden. Diese Reden, wie sie unter anderem in Klagenfurt gehalten werden, beschwören regelmäßig Gründe, die Literatur gegen irgendeinen Feind von außen zu verteidigen. Gern lauert dieser Feind im Internet, er besteht in Schnelllebigkeit, in Geschwätzigkeit, in Seichtheit und Dauerverfügbarkeit. Im Internet ist alles billig und doof, und die Literatur wird diesen Zeitgeisterscheinungen entgegengehalten. Denn man kann, in den unvergessen kryptischen Worten des einstigen Juryvorsitzenden Hubert Winkels, das „Numinose“ nicht einfach so unters Volk schleudern. Und jetzt sollen auch noch KI und ChatGPT Texte produzieren? Da ist es gut, schon einmal prophylaktisch zu dem Schluss zu kommen, dass richtige Literatur natürlich auch dazu wieder ein Gegenentwurf ist und künstliche Intelligenz die menschliche Kreativität nicht ersetzen kann. 

Hätten wir das also schon einmal geklärt. Und sogar schon in der ersten Rede bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur – gehalten von der ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard, unterstützt von einem animierten Avatar ihrer selbst. 

Wodurch Literatur aber wirklich gefährdet wird, das erfuhr man erst später. Zum Beispiel von Tanja Maljartschuk, der ukrainischstämmigen Bachmannpreis-Gewinnerin des Jahres 2018, die in ihrer Rede zur Literatur zugab, eine ehemalige Schriftstellerin zu sein, denn ihr versagten die Worte angesichts des Angriffskrieges, unter dem ihr Land und, ganz konkret, ihre Familie leidet. Ein angefangenes Buch über das Schtetl, das sich einst im Dorf ihrer Eltern befand, wird wohl niemals zu Ende geschrieben werden. Gefährdungen anderer Art sprach Jacinta Nandi an, die in diesem Jahr unter den lesenden Autor:innen im Wettbewerb war. Kinderbetreuung für die Beteiligten gebe es keine, und am Ende war die Reise, so berichtet sie auf Instagram, finanziell ein Minusgeschäft. Auch das ist Literaturverhinderung, aber eine, die sich nicht für Eröffnungsreden eignet. Die hat mit diesem Ding namens Alltag zu tun, was sich da draußen abspielt, weit außerhalb des ORF-Gartens, zwischen Laufhaus, Polizei, Friedhof und Susi’s Backhendlstation.

Umso dankbarer war man Insa Wilke, der Jurypräsidentin, der nach der Lesung von Laura Leupi dann doch kurz der Kragen platzte. Leupi las, nein, sie trug vor, und zwar „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. Der Text handelt von Gewalt, einem Ich wurde Gewalt angetan, und es setzt sich nun neu zusammen. Wer jedoch dachte, man könne über diesen Vortrag sprechen, der eine Performance war, über die Textstruktur, über Listen als Stilmittel, über Schlagworte und wie sie auf die zarteren, subtileren Teile des Textes wirken, über die Ansprache an das Publikum, dem etwas zu pauschal unterstellt wurde, all das nicht zu kennen, und über die Sprache, die einem bleibt, wenn einem nach einer Vergewaltigung eigentlich eher nach Schreien oder Schweigen zumute ist, der wurde durch die Jurydiskussion eines besseren belehrt. Juror Philipp Tingler war es, der sagte, der Text sei nicht feministisch, der Text betreibe, was er kritisiere, er leide an einem Moralisierungsüberschuss und verwende Sprache totalitär. 

Drunter macht er’s wohl nicht, diese Suada einer gebrochenen Frau verwendet also totalitäre Sprache, und sofort bleiben einem angesichts dieser Geschütze sämtliche Einwände stecken und man seufzt und sieht ein, dass es anscheinend noch immer nicht möglich ist, bestimmte, weiblich besetzte Themen halbwegs sachlich zu verhandeln. Noch immer, so schließlich Insa Wilke, sei die Literaturkritik patriarchal geprägt und es sei schwer, da Durchlässigkeit zu schaffen. Umso dankbarer muss man sein, dass die Jurypräsidentin das sieht und ausspricht, und auch dem Jury-Neuzugang Thomas Strässle, dass er die Qualitäten in diesem Text gesehen und Laura Leupi eingeladen hate. Dennoch, man fühlte sich ungut an die frühen Jahre des Literarischen Quartetts erinnert und an die genervten bis abwehrenden Reaktionen der männlichen Kritiker, sobald ein weiblicher Alltag verhandelt wurde wie etwa in Marlene Streeruwitz’ Roman „Verführungen“, oder gottbewahre, weibliche Körperfunktionen, die nicht dem männlichen Amüsement dienen.

Nicht jeder Text ging in diesen Tagen in Klagenfurt so sehr ans Eingemachte wie der von Leupi, aber vielen merkte man an, dass sie sich an persönlichen Erfahrungen und Biographien entlanghangeln. Jayrôme C. Robinet, eingeladen von Mithu Sanyal, erzählt die Geschichte eines französisch-sizilianischen Mädchens, das zu einem deutschen Mann wurde, eingebettet in eine traumatische und anrührende Familiengeschichte. Er bekam viel Applaus und Zustimmung, am Ende aber keinen Preis. Jacinta Nandi erzählt mit bösem Humor von einer Mutter, die sich einredet, die Beziehung zu ihrem Mann sei keine Gewaltbeziehung. Deniz Utlu und Yevgeniy Breyger hadern mit Vätern mit Schlaganfall, allerdings in sehr unterschiedlichen Stilregistern.

Martin Piekar hadert sehr laut mit seiner polnischen Mutter, und überlässt ihr den zweiten Teil des Textes, in dem sie in ihrem eigentümlichen Deutsch zu Wort kommt. Ein Deutsch, so wird Piekar später in der Pause erklären, das in Millionen Haushalten gesprochen wird und es verdient, endlich Eingang in die Literatur zu finden. Seine Mutter fand es selbst nicht literaturwürdig, obwohl sie immer schrieb. All diese Geschichten handeln von Einwanderung, von Anpassung und Selbstfindung und zeigen, dass dieses Thema noch sehr, sehr lange nicht auserzählt sein wird. Oder, wie Sanyal in der Diskussion zu Robinets Text bemerkte: „Es gibt doch mehr als eine von uns.“ 

Zwei der Siegertexte, der von Valeria Gordeev (Bachmannpreis) und Anna Felnhofer (Deutschlandfunkpreis) berichten in sehr subtiler Weise von Gewalt. Felnhofer, die als Psychologin arbeitet, erzählt von einem Opfer von Schulhof-Mobbing, das sich in seine Rolle zu fügen beginnt, und darüber hinaus noch sehr viel mehr. Auch Gordeevs Protagonist, der die Zumutungen des Alltags nur im Putzwahn übersteht, weist über seine kleine enge Bakterienwelt hinaus. Bei beiden Lesungen verstummte das Publikum, nur das gelegentliche Geraschel des Seitenblätterns war im Garten unter den Pavillons zu hören und ab und zu das Heulen einer Sirene, weil die Freiwillige Feuerwehr gleich nebenan ist. 

Aber ist ein Text dann ein guter Text, wenn er einen aufwühlt? Mithu Sanyal sprach sich energisch dafür aus. Mara Delius und Philipp Tingler waren die Vertreter der objektiven Kriterien, die sie an einen Text anlegen wollten wie ein Maßband. Insa Wilke wiederum beharrte darauf, dass jeder Text nur aus sich selbst heraus zu beurteilen sei. Leider sprach gegen Tingler und Delius, dass sie die konsequent langweiligsten Autoren eingeladen hatten. Ist Langeweile ein objektiv messbares Kriterium? Sicher nicht, aber irgendetwas in einem anstoßen darf ein Text dann doch, und sei es ein ganz unaufwühlender Denkprozess. Mara Delius lud zum einen Andreas Stichmann ein, der das Publikum mit einem Mann in Midlife-Crisis konfrontierte, der an Nesselsucht leidet und Menschen miteinander verwechselt. Ein „mittelalter Mann mit Männerkrise“, so formulierte es Insa Wilke, die an dieser Stelle noch ein wenig Restmitleid mit dem Patriarchat aufbringen konnte. Mittelprächtig genervt war die Jury bei Delius zweiter Autorin, Anna Gien, und ihrem somnambulen Traumtagebuch einer Erzählerin mit Thomas-Bernhard-Fetisch. Ja, das ist exakt so unangenehm wie es klingt. 

Philipp Tingler hat eine Vorliebe für Gesellschaftsromane, er hat selbst welche geschrieben, und nun lud er zwei Autoren ein, die ungefähr das lieferten. Sophie Klieeisen mit einem Hauptstadtevent im Humboldtforum, in dem neben Polit- und Kulturschickeria auch der leibhaftige Teufel auftritt, wenn man ihn germanistisch zu enträtseln vermochte. Zudem Mario Wurmitzer mit dem jährlichen, obligatorischen Beitrag zur Kritik modernen Dienstleistungswesens, in dem ein Mann in einem Tiny-House-Musterhaus lebt und sich dabei zuschauen lässt, das Modell muss schließlich verkauft werden Das klingt recht witzig, bleibt aber letztlich brav und harmlos. Oder, um ein Reizwort der diesjährigen Debatte einzubringen: konventionell. Darunter allerdings verstand jeder etwas anderes. Geklärt wurde dieser Komplex in diesem Jahr nicht, das wurde vertagt und lieber in der Schlussrunde noch ein wenig ausgekeilt. Weil die Jurysitzungen zur Ermittlung einer Shortlist abgeschafft wurden, finden letzte brachiale Überzeugungsarbeiten nun anscheinend vor den Kameras statt. 

Am Sonntag wurden die Preise vergeben und in allen Nachrichtensendungen vermeldet. Valeria Gordeev und Anna Felnhofer bekamen Preise, dazu Laura Leupi einen und Martin Piekar gleich zwei. Sie packen die Preise ein und verlassen noch am selben Tag die Stadt. Nur der Stadtschreiber darf im Sommer mehrere Monate in der Künstlerwohnung verbringen und daran erinnern, dass die Stadt von Jörg Haiders ehemaligem Tennislehrer regiert wird. Diese Aufgabe fällt im nächsten Jahr Martin Piekar zu. Er ist Lehrer von Beruf, er wird es den Einwohnern sicherlich pädagogisch behutsam beibringen. 

Foto von Eva-Sophie Lohmeier

Uns bleibt immer noch Martin Walser – Pappfiguren von Juli Zeh und Simon Urban

von Eva-Sophie Lohmeier

Wer einen Roman schreibt, muss sich rechtfertigen. Es braucht schließlich gute Gründe, um ein paar hundert Seiten zu schreiben und zu erwarten, dass sie gelesen werden. Die besseren Autor*innen schreiben Romane, weil sie eine komplexe Frage umtreibt und ein Roman die Möglichkeit bietet,  sie gefahrlos aus allen Perspektiven betrachten zu können, ohne sie sich gleich zu eigen zu machen. Und dann gibt es Autor*innen, die haben keine Fragen, die wollen vor allem anderen etwas erklären, weil sie glauben, sie hätten schon alles verstanden. Die schneiden sich zwei Pappfigürchen aus und spielen damit pro Forma ein bisschen Pro und Contra, wissen aber eigentlich längst alles. Die erfolgreichste Pappfigürchenautorin Deutschlands heißt Juli Zeh.

Seit einigen Büchern nun macht sich Juli Zeh nicht einmal mehr die Mühe, neue Pappkameraden auszuschneiden, sie nimmt einfach die alten und stellt ein bisschen was um. Ihr neuer Roman „Zwischen Welten“ ist in Co-Autorschaft mit Simon Urban verfasst worden, was man aber nicht merkt. Es ist ein typischer Zeh-Roman mit typischem Zeh-Personal. Auf der einen Seite Stefan, der Kulturchef einer Hamburger Wochenzeitung, Stadtmensch, Gendersternchenbenutzer und Fair-Trade-Kaffeetrinker, der sich ständig um das Weltklima und die Befindlichkeiten von Minderheiten sorgt.

Er ist eine ähnliche Karikatur zeitgenössischen Bürgertums, wie es schon der freie Journalist Robert in „Über Menschen“ war, der Mülltrenner und Greta-Fan, Corona-Maßnahmen-Einhalter und mit einem „politischen Waschzwang“ geschlagen, an dem die Beziehung zu Protagonistin Dora letztlich scheitert. Dora zieht in “Über Menschen” nach Brandenburg und setzt sich mit der Scholle und den Dorfnazis auseinander. In „Zwischen Welten“ ist die weibliche Hauptfigur Theresa schon vor Jahren aufs Land zurückgezogen, um den väterlichen Bauernhof zu übernehmen, aber AfD-Wähler mit goldenem Herzen gibt es auch dort.

Walser-Romane und WhatsApp-Chats

Annähern müssen sich diesmal allerdings Theresa und Stefan, die vor Jahren zusammen Germanistik studiert haben, gemeinsam Martin-Walser-Romane lasen, in einer WG zusammenlebten und fast wie Geschwister waren, bis Theresa davonlief, sich nicht mehr meldete und Kuhbäuerin wurde. Martin-Walser-Bücher hat sie schon lange nicht mehr gelesen, als die beiden sich in Hamburg zufällig über den Weg laufen. Nun entspinnt sich das Folgende – Annäherung, Streit, Versöhnung, zunehmende Zuneigung – in Form von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten. Am Ende plant man gar eine gemeinsame Walser-Pilgerreise an den Bodensee, die aber nicht zustande kommt.

Man mag sich nun hoffnungsvoll fragen, ob man im Folgenden erfährt, wie sich moderne, fragmentarische Kommunikation mit unterschiedlichen Mitteln wohl auf diese Beziehung auswirkt, aber da verlangt man dem Roman schon zu viel ab. Ein Bewusstsein für die Mittel der Kommunikation und die den jeweiligen Kanälen eigenen Schreibweisen gibt es hier nicht. „Du irrst keineswegs, und dein Selbstbewusstsein hat unter dem Landleben offenbar nicht gelitten. Das war nicht deine Idee, meine Schöne, sondern bestenfalls unsere Idee, oder, noch besser gesagt: Du hattest die Ehre, dabei zu sein, als mich der göttliche Funke traf“, whatsappt Stefan am 5. Januar um 20.40 Uhr und hat nicht nur Zeit und Nerven für derart geschliffene Formulierungen, er weiß sogar, wie man Textnachrichten kursiviert. 

In langen Mails, in denen beide beteuern, dass sie eigentlich gar keine Zeit haben und dennoch zur besseren Information der Leser*innen noch einmal die gemeinsame Studienzeit Revue passieren lassen, kommt man sich langsam näher. Irgendwann wird der Ton regelrecht flirty: „19.04 Uhr, Theresa per WhatsApp: Wenn du hier wärest, stünden wir nicht im Stall, sondern säßen wir frisch geduscht mit einem guten Rotwein am Kamin. Wir würden auch nicht schweigen, sondern reden, reden, reden, über die Frage, ob Ehen in Philippsburg (du) oder Ein fliehendes Pferd (ich) das beste Buch aller Zeiten ist. Stundenlang! Reden! Trinken! Duften! Oder wenigstens normal riechen!“ Der Zauber von Kursivierung und korrektem Konjunktiv erfährt zwischendurch immer wieder Rückschläge, bis beide beschließen, keine Textnachrichten mehr zu schicken und nur noch zu mailen. Was sie so mittelgut durchhalten.

Unrealistische Mediensatire

Eine Zeitlang ist das Thema also die Wiederannäherung zweier sehr verschiedener Menschen, die sich einmal sehr nahe standen. Man erfährt einiges über die Probleme der brandenburgischen Landwirtschaft. Stefan setzt in seiner „Bote“-Redaktion zusammen mit der Schwarzen Online-Redakteurin Carla durch, dass es eine von jungen Aktivist*innen mitverantwortete Klima-Ausgabe geben wird, die sehr erfolgreich ist und sich gut verkauft. Nun kommen die Dinge ins Rollen, die dafür sorgen, dass aus dem Buch in der zweiten Hälfte eine Art Mediensatire wird, denn Stefan hat in Hamburg eindeutig den turbulenteren Alltag der beiden, während Theresa vor allem versucht, den Hof und die Ehe zu retten.

Das Problem an dieser Mediensatire ist, dass sie von ihrem Gegenstand nur wenig Ahnung hat. Die „Bote“-Redaktion erfährt gleich zwei Shitstorms von links, die die Figur Stefan dazu bringen sollen, nochmal über seine übertriebene Begeisterung für Klimaaktivist*innen und Gendersternchen nachzudenken – soweit die recht durchsichtige Intention der Autor*innen. Auslöser ist ein missratener Witz des Chefredakteurs Flori Sota anlässlich der Beförderung der Online-Redakteurin Carla, die „jüngste und erste schwarze Frau an der Spitze eines Hamburger Ressorts“, wie sie selbst betont.

Es gibt dann in der Konferenz ein wenig heiteres Durcheinander um die erfolgreiche Redakteurin, die schon oft für gute Lesequoten gesorgt hat, woraufhin der Chefredakteur die „verehrte Quoten-Schwarze“ offiziell willkommen heißt. Das wiederum filmt eine der jungen Aktivistinnen, die inzwischen ganz offiziell am News-Desk sitzt, vom Bildschirm ab und empört sich auf ihrem Twitter-Account darüber. Daraufhin bricht ein Sturm der Empörung los, der den Chefredakteur Flori Sota und dessen Familie letztlich zum Auswandern zwingt. Nicht jedoch bevor sich ein Fernseh-Satiriker mit einer ziemlich brachialen Aktion eingemischt hat, indem er ein eigens aufgestelltes Gipsdenkmal des Betreffenden vor der Redaktion zertrümmert. Immer diese überkorrekten Linken! Sotas Tochter hat sich fast umgebracht wegen denen, sie kennen kein Maß und kein Ziel! Ein zweiter Shitstorm betrifft dann Stefan selbst. Eine private Mail von ihm wird geleakt und sogleich in der Presselandschaft breitgetreten. All das bringt Stefan dazu, an seinen Werten und Loyalitäten zu zweifeln. 

An den Ereignissen ist leider so gut wie nichts auch nur ansatzweise realistisch. Keine Redaktion fährt aufgrund externer Shitstorms eine „hire & fire“-Politik, wie sie hier dargestellt wird. Keine Redaktion wird solche Angriffe ohne Rücksprache mit dem Hausjuristen oder der Social-Media-Redaktion kontern. Vor der Kündigung kommt die Abmahnung und der Gang zum Betriebsrat. Kein Medienjournalist wird ihm zugespielte private Mails veröffentlichen, ohne den Betroffenen vorher um eine Stellungnahme gebeten zu haben, wenn überhaupt. Die fiktiven Pressetexte, in denen Chefredakteur Sota und Stefan vernichtet werden, sind in ihrer kruden Vermischung aus Nachricht und Kommentar völlig hanebüchen und lesen sich wie erste Versuche eines Hospitanten, der die gängigen journalistischen Textgattungen noch nicht so richtig kennt. Hätte nicht wenigstens einer der beiden Autor*innen mal jemanden fragen können, der sich damit auskennt? 

Eine mehrhundertseitiger Leitartikel

Aber auch der dargestellte Shitstorm – Stefan schickt Theresa ein paar recht unbeholfene „Tweets“ per Textnachricht zu – verfehlt die Mechanismen völlig. Wie es besser, treffender und vor allem viel witziger geht, kann man in Mithu Sanyals „Identitti“ nachlesen. Die Autorin hat überzeugend dargestellt, wie auf den Sturm von der einen Seite recht schnell der Sturm von der anderen Seite folgt, bis diejenigen einstimmen, die sich vor allem die Frage stellen, wie sie die Angelegenheit möglichst effektiv für die eigene Sache ausschlachten können. Es dauert ohnehin nie lang, dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Einen tagelang mit unverminderter Härte andauernden Sturm von einer Seite ohne Gegenstimmen hat es bislang wohl noch nicht gegeben. Das soll im Buch aber dafür sorgen, dass man mit den Figuren Mitleid empfindet und sich denkt, „wie gemein diese Überkorrekten doch sind!“ 

Dabei betreibt der Roman einen enormen Aufwand, um seine Zeitgenossenschaft auszustellen. Dreadlocks bei Weißen, Ukrainekrieg, der Journalismus zwischen Aktivismus und gebotener Neutralität, alles drin. Manchmal fühlt sich die Lektüre an, als lese man einen mehrhundertseitigen Leitartikel, und nichts daran ist angenehm. Am wenigsten der kulturpessimistische Ton. „Zu spät haben wir gemerkt, dass in den Tiefen des Netzes eine Meute wächst, die sich an der moralischen Überlegenheit der gehypten Protagonist*innen bedient, sich ihre Beute aussucht und erbarmungslos zuschlägt, wenn es ihr gefällt“, schreibt Stefan an Theresa. 

Das erste Anzeichen für die Wut der „Meute“ im Buch ist der Vortrag einer Fischbiologin, die darauf besteht, dass es nur zwei Geschlechter gibt und deswegen vom woken Mob von der Bühne einer Universität gebuht wird. Stefan ist entsetzt von dem Vorgang und vergleicht ihn mit der Paulskirchenrede von Martin Walser, beziehungsweise dem ersten Auftritt danach, als der Autor vom Publikum ausgebuht wurde. „Flugblätter mit Schmähungen segelten durch die Luft, Student*innen brüllten ihre Wut im Chor heraus – es ging darum, Walser nicht zu Wort kommen zu lassen. […] Auch ich fand problematisch, was er gesagt hatte, aber ich konnte einfach nicht begreifen, warum er sich jetzt nicht rechtfertigen durfte.

Niemand trat für ihn und sein Rederecht ein“, so Stefan. Lang hält so ein Zustand ja nie an, Walser redet bis heute. Und das reale Vorbild der Fischbiologin, Marie Luise Vollbrecht, sammelte per Crowdfunding in wenigen Tagen mehrere zehntausend Euro ein. Es ist eben leider immer ein wenig komplizierter, als es einem in den Kram passt. Diese Widersprüche zu schildern, anstatt sie auf eine einseitige Botschaft herunterzubrechen, hätten den Roman sofort deutlich vielschichtiger gemacht.

Juli Zeh selbst sagt in einem Interview, das im jüngst erschienenen „Text + Kritik“-Band Nummer 237 erschien, alle ihre Romane seien Gesellschaftsromane, „weil das einfach meiner literarischen Vorliebe entspricht. Ich drücke aus, was ich erlebe, und da ich nicht nur Individuum bin, sondern auch und vor allem Teil der Gesellschaft, Bürgerin eines bestimmten Landes und Teilnehmerin an einer Epoche, sind meine Texte genau wie ich selbst vom Zeitgeist durchdrungen.“ Allerdings verfolgten sie keine politische Intention, bis auf „Corpus Delicti“ und „Leere Herzen“. Aber welche Intention verfolgt „Zwischen Welten“ denn dann? 

Es ist kein Porträt zweier komplexer Figuren, dazu sind Stefan und Theresa zu pappfigurenhaft und zu sehr dem üblichen Zeh-Repertoire entnommen. Es ist keine Satire, die davon lebt, ihren Gegenstand treffend aufzuspießen, auch wenn die zweite Hälfte so tut. Das ist nicht einmal ein Gegenwartskommentar, denn dazu müsste der Roman sich besser damit auskennen, wie in dieser Gegenwart kommuniziert wird. Dafür aber interessiert er sich nicht. Am Ende ist „Zwischen Welten“ vor allem ein Rührstück, das mit schlichten Mitteln Emotionen erzeugen will und dafür einen enormen Aufwand treibt.

Foto von Priscilla Du Preez auf Unsplash

Freizeitparks für Millenials – Ein Blick auf die Romane von Sally Rooney

von Simon Sahner

Freizeitparks oder Ausstellungen, in denen fiktive Welten und Wesen aus Büchern und Filmen zum vermeintlichen Leben erweckt werden, sind heute ebenso wie Merchandise ein etablierter Teil der Entertainment-Industrie. Davon zeugen Verkleidungen und Accessoires aus der Harry Potter-Welt ebenso wie die Wizarding World of Harry Potter oder das Disneyland Paris und dort insbesondere auch die Attraktionen zu Fluch der Karibik. Bei diesen erlebnisgewordenen Fantasiewelten handelt es sich um Produkte großer fiktionaler Fantasy-Narrative, die eine Welt entwerfen, die von unserer Alltagsrealität so weit entfernt ist, dass wir als Rezipient*innen darin aufgehen können. Wie aufregend, wenn es möglich ist, diese Fiktionen für ein paar Stunden zu betreten oder man sich zum Beispiel durch einen Spielzeugzauberstab seinen Fantasieheld*innen näher fühlen kann.

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