von Norma Schneider
Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko schrieb vor kurzem in der Neuen Zürcher Zeitung, dass die westeuropäischen Leser*innen russischer Literatur naiv seien. Sie hielten die Klassiker für schön und humanistisch, während sie seit zweihundert Jahren ein Weltbild verbreiten, „in dem man den Verbrecher nicht verurteilt, sondern bedauert und Mitleid mit ihm hat“, weil die Umstände ihn zur Grausamkeit zwingen. Sabuschko und andere Autor*innen werfen der russischen Literatur außerdem imperialistisches Denken und die Verherrlichung von Unterdrückung und Gewalt vor, sehen sie als Wegbereiter des Angriffs auf die Ukraine. Ebenso wird es als ein Zeichen kolonialen Denkens kritisiert, dass die russische Literatur Autor*innen für sich beansprucht, die gar keine Russ*innen sind – zum Beispiel die Ukrainer Nikolai Gogol und Michail Bulgakow.
Diese Analysen sind wichtig und eine kritische Lektüre der Klassiker längst überfällig, doch pauschal von „der“ russischen Literatur zu sprechen, wird dieser nicht gerecht. Die russische Literaturgeschichte ist auch eine Geschichte der Opposition und politischen Verfolgung von Schriftsteller*innen. Viele der bekanntesten russischsprachigen Autor*innen wurden politisch verfolgt, waren in Gefangenschaft oder im Exil. Dazu gehören Klassiker wie Dostojewski und Tolstoi genauso wie viele Autor*innen aus der Zeit der Sowjetunion, zum Beispiel Anna Achmatowa oder Boris Pasternak. Das spricht sie nicht frei von einer notwendigen kritischen Analyse, aber es macht deutlich, dass es – damals genauso wie heute – unterschiedliche Arten gibt, in der Literatur auf die politische Wirklichkeit reagiert.
Der verzerrte Blick
Was die russische Gegenwartsliteratur betrifft, so übt die Mehrheit der Autor*innen, die in Westeuropa bekannt sind, Kritik an der russischen Regierung. Sie schreiben nicht nur die besseren Bücher, sondern „Oppositionelle*r“ dient dem Literaturbetrieb auch als Verkaufsargument. Da ohnehin nur wenige Titel aus dem Russischen übersetzt werden, kann so der verzerrte Eindruck entstehen, die russische Gegenwartsliteratur bestünde vor allem aus Putin-Kritik. Das ist nicht der Fall, kritische Autor*innen sind in Russland in der Minderheit und dort immer stärkeren Repressionen ausgesetzt. Doch der Blick aus dem Westen ist auch auf eine zweite Weise verzerrt: Der Eindruck, die oppositionelle Literatur in Russland bestünde vor allem aus den in Westeuropa bekannten Namen, trügt. Eine Vielzahl von kritischen Stimmen bleibt im Westen ungehört. Übersetzt werden – erfreulicherweise mit einigen Ausnahmen – vor allem männliche, weiße, etablierte Autor*innen, deren Bücher sich dem hiesigen Publikum gut vermitteln und verkaufen lassen.
Besonders beliebt sind dabei Autor*innen, die zwar in Interviews, Artikeln oder den sozialen Medien die russische Politik lautstark kritisieren, deren literarische Texte aber zurückhaltender sind mit der politischen Kritik. Ljudmila Ulitzkaja zum Beispiel, in deren klugen Erzählungen und Romanen mit starken Frauenfiguren die politischen Verhältnisse oft als Teil des Alltagsrauschens im Hintergrund bleiben. Beim vielgelesenen georgischstämmigen Krimiautor Boris Akunin lässt sich die Gesellschaftskritik zwar zwischen den Zeilen herauslesen, aber seine Romane um den Held Fandurin spielen weit weg von der Gegenwart, im 19. Jahrhundert. Dmitry Glukhovsky, der in den sozialen Medien kein Blatt vor den Mund nimmt, Schimpftiraden in Richtung Regierung und Armee sendet und mittlerweile per Haftbefehl gesucht wird, ist vor allem für seine unterhaltsamen und nicht besonders politischen postapokalyptischen Science-Fiction-Romane wie „Metro 2033“ bekannt. Dabei hätte vor allem sein realistischer und literarisch anspruchsvollerer Roman „Text“ über Willkür und Macht im gegenwärtigen Russland mehr Beachtung verdient.
Die Abgründe sichtbar machen
Nur wenige der ins Deutsche übersetzten Autor*innen bringen ihre politische Kritik auch in aller Deutlichkeit in ihre literarischen Texte. Vor allem zwei postmoderne „Altmeister“ entlarven in ihren Büchern die hässlichen Seiten von Russlands Gegenwart und jüngster Vergangenheit: Vladimir Sorokin und Viktor Jerofejew. Ihre experimentellen Romane, Erzählungen und Theaterstücke zerren die Gewalt, den Chauvinismus und den Nationalismus des heutigen Russlands in grotesker Weise an die Oberfläche und tragen damit dazu bei, die gesellschaftlich tief verwurzelten Hintergründe der aktuellen Eskalation zu verstehen. Gerade ihre Verwendung von Stilmitteln wie Übertreibung und grotesker Verzerrung machen die Realität in Russland greifbar, die nicht erst seit Beginn der Invasion der Ukraine absurde Züge angenommen hat. Allerdings sind die Texte von Sorokin und Jerofejew anspruchsvoll und erfordern oft Geduld und Hintergrundwissen, sodass die beiden Autoren durch ihre politischen Gastbeiträge in großen Zeitungen sichtbarer sind als durch ihre Literatur.
Dass die dystopischen Zukunftsvisionen in Sorokins Romanen der letzten Jahre nicht nur stilistisch meisterhaft, sondern auch politisch sehr treffend sind, lässt sich daran erkennen, dass sie nach und nach von der Realität eingeholt werden. Die unheilvolle Verschmelzung von Staat und Kirche, von Nationalismus und Orthodoxie, eine monarchistisch anmutende Gewaltherrschaft und die komplette Isolation Russlands vom Westen, wie Sorokin sie 2006 in „Der Tag des Opritschniks“ beschrieb, ist heute weniger übersteigerte Dystopie als zugespitzte Gegenwartsanalyse. Sorokins Texte haben die Abgründe der russischen Politik und Gesellschaft bloßgestellt, bevor sie sich in der Realität zugespitzt haben und offenkundig sichtbar wurden.
Kritik an etablierten Autor*innen
Doch auch Sorokin und andere etablierte oppositionelle Autor*innen sind unter Putin-Kritiker*innen nicht unumstritten. Einige queerfeministische und dekoloniale Autor*innen und Aktivist*innen sehen sie eher als Teil des Problems denn der Lösung. Sorokin, Glukhovsky und Co. seien zwar gegen Putin, reproduzierten aber letztlich imperialistische und koloniale Werte. Zu einer Veränderung des Bewusstseins und damit der Gesellschaft in Russland trügen sie nicht bei. Auch die privilegierte Position der im Westen bekannten oppositionellen Intellektuellen wird kritisch betrachtet: Die meisten von ihnen hatten auch schon vor Ausbruch des Krieges einen Wohnsitz im Ausland und können ihre Texte frei veröffentlichen, während viele andere, die nicht dem Bild des oppositionellen Schriftstellers entsprechen, das sich in Westeuropa vermarkten lässt, nicht die Möglichkeit haben, das Land zu verlassen, und Repressionen ausgesetzt sind.
Sorokin, Jerofejew, Ulitzkaja, Akunin und Glukhovsky sind aber mitnichten nur im Ausland vielgelesene Autor*innen, auch in Russland gehören sie trotz der Anfeindung durch Putin-Anhänger*innen zu den etablierten Stimmen der Literatur, deren Werke verfilmt oder in Uni-Seminaren behandelt werden. Aber sie machen nur einen sehr kleinen Teil dessen aus, was in Russland veröffentlicht wird – und mit der gegenwärtigen Verschärfung von Zensur und Repressionen seit Beginn des Angriffskrieges, wird ihr Anteil an der russischen Literatur weiter schrumpfen. Die große Mehrheit der veröffentlichten Bücher behandelt keine kontroversen Themen, sie sind entweder in politischer Hinsicht harmlos und bieten bloßen Eskapismus oder sie romantisieren die Realität und verfestigen bestimmte gesellschaftlich anerkannte Vorstellungen.
Jenseits des Mainstreams
Autor*innen, die kritische Themen in ihren Werken behandeln und nicht zu den großen, etablierten Namen gehören, bekommen in der russischen Öffentlichkeit wenig Beachtung. Sergey Lebedew zum Beispiel, dessen letzter Roman „Das perfekte Gift“ von der Entwicklung von Nowitschok und Giftanschlägen handelt, wurde zwar in viele Sprachen übersetzt, aber in Russland selbst gab es nur wenig Resonanz, obwohl das Thema nach dem Anschlag auf Aleksei Nawalny nicht aktueller hätte sein können. Autor*innen, die sich vor allem Sichtbarkeit auf dem russischen Markt wünschen und viele Bücher verkaufen wollen, müssen es sich zweimal überlegen, ob sie über politische Themen schreiben. Große Verlage veröffentlichen in der Regel keine kritische Literatur. Das Problem ist weniger die tatsächliche Zensur, die nur in wenigen Fällen greift, als die weite Verbreitung von Selbstzensur.
Doch für die, die sich nicht selbst den Mund verbieten wollen, gibt es zum Glück auch andere Möglichkeiten: Sie können ihre Texte in kleinen, unabhängigen Verlagen, im Selbstverlag, online oder im Ausland veröffentlichen. Dazu kommen eine Menge selbstorganisierter Projekte wie Zines mit Punktexten, Telegram-Channels mit anarchistischer Lyrik oder DIY-Festivals für feministische Literatur. Solche Projekte sind oft dezentral und existieren außerhalb des Radars der Staatsgewalt. Sie haben viel weniger Reichweite als etablierte Autor*innen, dafür bieten sie Raum für Literatur ohne Zensur oder Selbstzensur.
Solche selbstorganisierten Literatur-Projekte wie die Zines „Lirika” oder „Neznanie” entstehen vor allem aus gegenkulturellen Szenen wie der anarchistischen oder der feministischen Bewegung heraus. Ein wichtiges Merkmal dieser Projekte ist die Abwesenheit von Hierarchien. So wird bei vielen der Zines und Blogs nicht bewertet, ob ein Text gut oder schlecht geschrieben ist, sondern darauf geachtet, dass diejenigen eine Stimme bekommen, die im offiziellen Diskurs keinen Platz haben. In Schreibkursen wie dem russischen Ableger von „Write Like A Grrrl“ können Autor*innen gemeinsam an ihren Texten arbeiten, ohne autoritäre Vorgaben und Abwertung fürchten zu müssen. Die tatarische Dichterin und Künstlerin Dinara Rasuleva, die im Exil in Berlin lebt, bietet ebenfalls hierarchiefreie Schreibworkshops auf Russisch an und publiziert die dort entstandenen Texte in ihrem eigenen kleinen Verlag „NAPISHI press“. Aktuell will sie vor allem Geflüchteten aus der Ukraine eine Stimme geben. Ihre eigenen Gedichte veröffentlicht sie auf Telegram.
Gegen Kapitalismus und Homophobie
Zu den wenigen ins Deutsche übersetzten Independent-Autor*innen, die noch in Russland sind und dort ihre Texte veröffentlichen, gehört der Antifaschist und Antikapitalist Kirill Medwedew. Seine Kritik richtet sich nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen den etablierten Kulturbetrieb, der Bücher zu Waren und ideologischen Instrumenten macht. Medwedew will dabei nicht mitmachen und stellt seine Gedichte und Essays deshalb für jeden frei zugänglich ins Internet. Bücher veröffentlicht er nur noch im eigenen „Freien Marxistischen Verlag“. Sein Urteil über Putins Russland jedenfalls ist eindeutig: „Russland ähnelt einer verfaulten Kugel, einem hässlichen Klumpen mit einer Schicht Blattgold drumherum, im Inneren aber ist alles vollgestopft mit Abfall, mit Trash-Food, Trash-Ideologie und Trash-Kultur, mit Bruchstücken von Religion, Bruchstücken von sowjetischem Kitsch, Bruchstücken eines toten Imperiums.“
Ein Beispiel dafür, dass aus Independent-Projekten mehr werden kann und auch Texte über von staatlicher Seite unerwünschte Themen eine größere Reichweite bekommen können, ist der kasachische trans Autor Mikita Franko, der schon seit einigen Jahren in Russland lebt und schreibt. Sein Roman „Die Lüge” über einen Jungen, der bei zwei Vätern aufwächst und seine ganze Kindheit hindurch lügen muss, um seine Familie zu schützen, ist bei einem unabhängigen Verlag in Moskau erschienen und wurde vor kurzem auch ins Deutsche übersetzt. Entstanden ist der Roman, der schmerzhaft sichtbar macht, was die staatlich befeuerte Homophobie in Russland für den Alltag bedeutet, aus Texten, die Franko auf seinem Blog veröffentlicht hat. Die Buchveröffentlichung war problemlos möglich, nur die Kennzeichnung „ab 18“ musste auf dem Buch angebracht werden, da das Gesetz gegen sogenannte „homosexuelle Propaganda“ es verbietet, queere Inhalte für Kinder und Jugendliche zugänglich zu machen. Doch „ab 18“ sind Bücher bereits, wenn Schimpfwörter darin vorkommen, weshalb diese Kennzeichnung nichts Ungewöhnliches für russische Gegenwartsliteratur ist.
Die Luft wird dünner
Es gibt also sogar innerhalb des russischen Literaturbetriebs Raum für kritische Stimmen von Autor*innen, die noch nicht etabliert sind. Aber seit Beginn des Krieges werden die Spielräume kleiner. Repressionen gegen Oppositionelle werden härter und die Gesetze verschärfen sich. Für Texte, die Kritik am russischen Angriff auf die Ukraine äußern, können Autor*innen bis zu 15 Jahre ins Gefängnis kommen. Und auch dass Bücher wie das von Mikita Franko verboten werden könnten, scheint im Bereich des Möglichen. Einen ersten Gesetzesentwurf, der vorsieht, dass queere Inhalte auch für Erwachsene verboten werden, gibt es bereits. Vieles spricht dafür, dass oppositionelle russische Literatur in Zukunft vor allem in geschützten Räumen online und im Ausland ihren Platz und ihre Leser*innen finden wird. Es bleibt zu hoffen, dass viele dieser Texte, und zwar nicht nur die von den im Westen bereits bekannten Autor*innen, übersetzt werden. Denn je besser wir die oppositionellen Stimmen der russischen Literatur kennen, desto weniger naiv werden wir diejenigen Bücher lesen, die Oksana Sabuschko und viele andere als Romantisierung von Gewalt und Imperialismus kritisieren.
Beitragbild von Valery Tenevoy