Schlagwort: Literaturbetrieb

Reparativ, relevant, riskant: Zur Zukunft der Literaturkritik

Lea Schneider und Sebastian Köthe im Gespräch mit Insa Wilke

Die jüngere Generation denkt, fühlt und lebt anders. Auch in der Literaturkritik. Der „Großkritiker“ ist kein role model mehr. Insa Wilke hat die Schriftstellerin und Übersetzerin Lea Schneider nach ihrem Blick auf gegenwärtige Literaturkritik gefragt. Sie wurde gerade mit einer Arbeit über Verletzbarkeit als literarische Kategorie promoviert. Außerdem dabei: Der Kulturwissenschaftler Sebastian Köthe, der zu Folter, Widerstand und Überleben und der Repräsentation dieser Komplexe in den Künsten forscht und Sandra Hetzls und Kerstin Wilschs deutsche Übersetzung von „Gedichte aus Guantánamo“ herausgegeben und durch ein umfassendes Nachwort ergänzt hat. Ein Buch, das 2007 in den USA Debatten auslöste. Auch hierzulande wählten die einen Kritiker*innen das Buch auf die SWR Bestenliste, während die anderen harsche Kritik übten und sich moralisch unter Druck gesetzt fühlten.

Insa Wilke: Sebastian Köthe, Sie sind Wissenschaftler. Standen für Sie Gefühle am Anfang Ihrer Arbeit?

SK: Am Anfang meiner Arbeit stand die Lektüre eines Folter-Protokolls, verfasst von US-Soldat*innen, die in Guantánamo einen Mann, Mohammed al-Qahtani, 54 Tage lang gefoltert haben. Teilweise werden sie sehr explizit, wenn sie darüber schreiben, was sie diesem Menschen antun. Am Anfang stand für mich der Schock über diesen Text, der Gewalt beschreibt, Gewalt legitimiert und selber Gewalt ausübt. Dieser Schock, dass dieses Protokoll auch Teil einer Kultur, nämlich einer Kultur der demokratischen Folter ist, war einer der Uraffekte meiner Forschungsarbeit.

IW: Wie ging es weiter?

SK: Ich habe zahlreiche Memoiren und Untersuchungsberichte gelesen und habe über Whatsapp und Zoom Überlebende, Anwält*innen und ihre Alliierten kennengelernt. Die vielen Gefühle, die diese Begegnungen in mir ausgelöst haben, habe ich zunächst für mein privates Erleben gehalten. Heute weiß ich, dass diese Gefühle gesellschaftlich relevant sind: Was macht man sozial und kulturell mit dem, was in Guantánamo geschehen ist – und bis heute weiter geschieht? Was muss man sagen, tun und imaginieren, damit die Entlassenen – und auch die Täter*innen, Zeug*innen, indirekt Betroffenen – ein Leben nach der Folter führen können? Bei diesen Fragen kann man Gefühle nicht ausklammern.

IW: Was für Gefühle sind das? Zum Beispiel für eine deutsche Leserschaft.

SK: Es gibt die Fälle von Khaled al-Masri und Murat Kunaz. Letzterer ist durch den Film von Andreas Dresen bekannter. Da gibt es ja eine Art von Mitverantwortung, oder? Da kann man sich involviert und schuldig fühlen, man kann sich peinlich berührt fühlen, man kann auch desinteressiert oder genervt, berührt oder traurig sein. Wenn man die „Gedichte aus Guantánamo“ liest, kann man auch überrascht sein, mit welchem Witz manche der Überlebenden über ihre Erfahrungen schreiben. Ein komplexer Mix aus Gefühlen also. Um den zu thematisieren und also zu verarbeiten, braucht man in meinen Augen literarisches Schreiben und Lesen. Und auch in einer auf Transparenz, Intersubjektivität und Reflexion angelegten Schreibform wie der wissenschaftlichen müssen Gefühle Platz finden, sonst kann man diese Arbeit gar nicht machen.

IW: Ich beziehe das mal auf die Literaturkritik und denke dafür an einen Satz von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger, die in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ dafür plädieren, Freiheit als Beziehung und nicht als etwas zu denken, das man besitzt. Übertragen auf das literaturkritische Lesen übersetze ich das so: sich in Beziehung zu einem Text setzen, anstatt ein Urteil aus der Position des abgeklärten Wissens zu fällen. Könnte dieser Gedanke eine Rolle spielen für die Reaktionen auf die „Gedichte aus Guantánamo“? Den Gedichten wurde die literarische Qualität abgesprochen, sie wurden sogar als mögliche Objekte einer literaturkritischen Betrachtung ausgeschlossen, wegen vermeintlich fehlender Literarizität bei gleichzeitigem Moralismus.

SK: Wenn man die Fähigkeit zu kritisieren als etwas versteht, das man „besitzt“ bzw. sich angeeignet hat, muss man sie vielleicht auch verteidigen und eine bestimmte Souveränität performen, um seinen Platz in der Arena zu rechtfertigen. Wenn man den Beziehungsaspekt hervorhebt, kann man sich verletzlicher machen, in seiner Schwäche, mit seinen Fragen zeigen. Das ist ja auch ein kritisches Verfahren, da legt man ja auch was vom Text frei.

IW: Wie ließe sich eine solche Form der Literaturkritik verstehen?

SK: Als eine Art Beispiellektüre vielleicht? Indem Kritiker*innen zeigen: So könnte man das Buch lesen, das ist eine Erfahrung, die man beim Lesen machen könnte. Man könnte diese Fragen, diese Gefühle, diese Thesen entwickeln, dieses Missfallen empfinden. Man kann ja vieles über ein Buch sagen, ohne dass man diese universelle Position des letztinstanzlichen Richters einnehmen muss.

IW: Lea Schneider, Sie übersetzen aus dem Chinesischen, schreiben Essays, Prosa und Gedichte und haben gerade Ihre Dissertation über Verletzbarkeit als literarische Kategorie verteidigt. Können Sie etwas mit diesem Gedanken anfangen, sich zu Texten in Beziehung zu setzen?

Lea Schneider: Ich finde die Idee, Freiheit wie auch kritisches Lesen als Beziehung zu denken, sehr schön. In dem Moment, in dem Freiheit kein Besitz mehr ist, sondern erst in Beziehung zu anderen verwirklicht werden kann, wird man allerdings auch viel verletzbarer. Das gilt vielleicht besonders für die Literaturkritik, von der traditionellerweise erwartet wird, aus einer Position von Objektivität, Souveränität und umfassender Expertise heraus zu sprechen. Aber es betrifft auf einer ganz basalen Ebene auch unsere Definition davon, was uns überhaupt zu Subjekten macht: Spätestens seit der Aufklärung leben wir mit der Vorstellung, dass das vor allem unsere Autonomie und unsere Rationalität sind. Wenn wir uns aber als soziale und körperliche Wesen verstehen, die darauf angewiesen sind, dass andere mit ihnen in Beziehung treten, dann sind wir eben alles andere als autonom. Das ist eine Abhängigkeit, die man erst einmal ertragen können muss. Insofern kann ich die Abneigung, die manche Kritiker*innen einer offeneren, weniger souveränen Haltung – und vielleicht auch einem offeneren Literaturbegriff – gegenüber haben, durchaus verstehen.

Wenn Kunst schlecht ist, gilt sie automatisch als unfrei.

IW: Mit was für einem Literaturbegriff fühlen Sie sich denn in der Regel konfrontiert?

SK: Mit einem Literaturbegriff, der um Autonomie und Qualität kreist. Autonomie verstanden als Möglichkeit, in einer konkreten Situation ein von dieser Situation unabhängiges Kunstwerk zu schaffen. Mit diesem Verständnis der Kunstproduktion geht dann ein Autonomietransfer auf die Kritiker*innen einher. Dieses Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit ist, denke ich, sehr wichtig für manche Menschen. Und man möchte das ja auch wirklich nicht einfach so wegwerfen. Diese Freiheit ist ein wichtiges Moment von Literatur, besonders für Menschen in Gefangenschaft. Kombiniert mit einem Qualitätsbegriff wurde mir bzw. den „Gedichten aus Guantánamo“ das dann aber von der Kritik um die Ohren gehauen: Eine autonome, freie, in sich geschlossene Literatur soll irgendwie auch „gut“ sein. Das heißt, sie soll formal verdichtet sein, traditionell aber auch transgressiv, kohärent aber auch selbstreflexiv, konsistent aber auch spannungsreich. Eigentlich paradox: Die Kunst ist frei, aber sie ist nur frei, solange sie auch gut ist. Und wenn sie schlecht ist, gilt sie automatisch als unfrei. Autonomie und Qualität sind auch für mich wichtige Kriterien, aber keine absoluten Werte. Eine Literatur, die sich quer zu diesen Kriterien bewegt oder sogar fern von ihnen, kann genauso wichtig sein.

IW: Und „frei“ meint dann frei vom Markt und von bestimmten politischen Machtstrukturen?

SK: Frei vom Markt, frei von Machtstrukturen, frei von ihrer konkreten Herstellungssituation. Auch frei von einer konkreten politischen Agenda. Im Kontext der Guantánamo-Gedichte fiel dieses Wort der „Moralkeule“, bezogen auf mein Nachwort. Eigentlich wurde gesagt: Ich möchte mich nicht moralisch-ethisch positionieren oder vielleicht sogar verhalten müssen, wenn ich diese Literatur lese. Und das finde ich problematisch.

LS: Es gibt von Seiten der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft auf jeden Fall die Sehnsucht nach einer Literatur, die frei ist von jeder lebensweltlichen Nutzbarkeit. Gebrauchsgedichte oder Anlassgedichte werden abgewertet. Das ist, glaube ich, auch ein deutsches Phänomen.

IW: Inwiefern deutsch?

LS: Im Chinesischen beispielsweise gibt es diese Abwertung gar nicht. Lyrik ist in der chinesischen Literaturtradition DIE politische Gattung schlechthin. Ein Gedicht kann dort die Form sein, mit der man auf ein aktuelles Ereignis reagiert, das heißt, es kann sehr positiv konnotiert sein, wenn ein Gedicht partikular, zeit- und situationsgebunden ist. Die Vorstellung einer Autonomieästhetik, für die Universalität und Überzeitlichkeit harte Qualitätskriterien sind, gibt es in der chinesischen Literaturgeschichte so nicht. Und auch in Deutschland ist diese Autonomieästhetik, die mir heute bei vielen Kritiker*innen tonangebend erscheint, ja keine Naturgegebenheit. Sie entstand im 18. Jahrhundert, im Zuge der Aufklärung, und war in diesem Kontext auch eine Abwehrbewegung gegen die Demokratisierung des Lesens, die damals stattfand. Aufgrund zunehmender Alphabetisierung, günstigerer Buchpreise und der Entstehung von Leihbibliotheken bekamen vor allem Frauen und Angehörige der unteren Schichten Zugang zu Büchern. Die Gelehrten dieser Zeit fürchteten um ihr Bildungsmonopol und versuchten, die „Lesewut“ der neuen Leser*innen zu regulieren. So entstand im deutschsprachigen Raum die Unterteilung in E- und U-Literatur. Unterhaltungsliteratur ist dabei oft ganz klar gegendert: Sie ist Literatur für Frauen, weniger wertvoll, nicht wirklich literarisch. E-Literatur hingegen, also Hochliteratur, ist definiert durch ihre Autonomie, durch die Freiheit von ökonomischen und politischen Zwängen, aber auch von jeder lebensweltlichen Nutzbarmachung. Also im Prinzip, wenn man es radikalisieren will: reine Formarbeit.

IW: Das heißt, welche Qualitätskriterien würden Sie vor diesem Hintergrund selbst kritisch sehen?

LS: Ein bestimmtes Verständnis von Literarizität, in dem Texte rein fiktional und möglichst polyvalent, also vielschichtig sein müssen, um als literarisch oder qualitativ zu gelten. Im besten Fall braucht man eine literaturwissenschaftliche Ausbildung, um sie verstehen zu können. Das ist ja auch eine Strategie, mit der sich eine Expert*innenschicht ihre eigene Relevanz sichert und versucht, ihre Privilegien zu verteidigen: zu sagen, man muss professionell ausgebildet sein, um diese Texte lesen und ausdeuten zu können. Dafür steht für mich dieser Literaturbegriff, der gekoppelt ist an die Qualitätskriterien Universalität, Literarizität und Professionalität. Ich würde gar nicht sagen, dass der per se schlecht ist, ich würde nur sagen, es ist einer unter vielen.

IW: Was stört Sie dann?

LS: Dass dieser Literaturbegriff eben nicht als eine von vielen möglichen Definitionen anerkannt wird. Dass es einen Unwillen in der Kritik gibt, zu sehen, dass Komplexität sehr verschiedene Formen annehmen kann, dass es andere Qualitätskriterien für Literatur geben kann als Polyvalenz, also zum Beispiel so etwas wie Wahrhaftigkeit, Authentizität oder die Dringlichkeit eines Anliegens. Diese Kriterien können sich auch mit den klassischeren Literarizitätskriterien mischen, das muss sich gar nicht gegenseitig ausschließen. Aber es braucht eben auch für ihre Wahrnehmung die entsprechenden Rezeptionsfähigkeiten, zum Beispiel einen Zugang zu den Affekten, die ein Text in einem auslöst, und ein Wissen um andere literarische Traditionen. Die darf man nicht einfach ausblenden und so tun, als wäre dieser eine, in einer spezifischen historischen Situation in Deutschland entstandene Literaturbegriff universal.

IW: Vorhin war die Rede von politischen und ethisch-moralischen Dimensionen von Literatur. Wo sehen Sie die Grenzen?

SK: Mit einer im engeren Sinne politischen Literatur sind für mich bestimmte Positionen verbunden. Also im Falle der Guantánamo-Gedichte: Welche Ideen von Gruppenzugehörigkeiten, Heimat oder Demokratie lassen sich in den Gedichten ablesen? Welche Kritik an den USA findet sich in ihnen? Wie werden Gewalterfahrungen, das Weiterleben oder Vergebung in den Gedichten konzipiert? Das heißt, es geht um Haltungen, um Weltanschauungen, um Großvorstellungen, wie man miteinander leben sollte. Die ethische Dimension wäre für mich, dass ich als lesende Person von diesem Text angesprochen werde, der von einer Person stammt, die in einer Notsituation gefangen ist. Das heißt, ich bin in eine Beziehung geworfen, die durch das Medium Text entsteht. Ich muss mich, ohne Regeln an der Hand zu haben, dazu verhalten. Was mache ich mit diesem Kontakt, dem erworbenen Wissen und auch mit meinem Unwissen, das mir durch den Text aufscheint? Die Konsequenzen können ganz klein sein: Ich kann das Gedicht noch einmal lesen oder das Buch weggeben, ich kann Geld spenden oder jemandem davon erzählen und sagen: Ich habe dieses Buch gelesen und habe diese Erfahrung gemacht, und ich weiß gar nicht, was ich jetzt damit machen soll. Das Ethische wäre für mich eine Umgangsweise, die wenig mit Position und mit Inhalten zu tun hat, die im Bereich des Antwortens liegt. Aus dieser Warte ist einen Text zu lesen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken schon etwas sehr Bedeutsames, weil es eine Kontaktaufnahme und Beziehungsstiftung bedeutet.

IW: Spielt für Sie die Unterscheidung von ethisch und politisch eine Rolle in der Betrachtung von Texten, aber auch im Schreiben und im Übersetzen von Texten?

LS: Ich würde meinen ethischen Anspruch als Übersetzerin, aber auch als Kritikerin vor allem als ein Verantwortungsgefühl dem fremden Text gegenüber beschreiben. Damit meine ich einen offenen, wertschätzenden, auch selbstreflexiven Umgang mit der literarischen Arbeit Anderer. Dazu gehört auch, das eigene Unwissen oder die eigene Unsicherheit nicht zu verstecken. Ich finde kaum etwas interessanter als Textformen, die das Suchen, vielleicht auch das Scheitern von Autor*innen, von Übersetzer*innen, von Kritiker*innen aufzeigen. Ich lese das sehr gern, wenn Menschen ihre Suchbewegungen beim Lesen offenlegen.

Wo stört mich etwas, wie reagiert mein Körper auf den Text?

IW: Wie im Journalismus, wird ja auch von der Literaturkritikerin „Objektivität“ und „Rationalität“ gefordert. Noch mal zum Gefühl: Lässt sich das in Ihren Begriff von Kritik integrieren?

LS: Wenn man einen Literaturbegriff hat, für den Affizierung, die unmittelbare körperliche Reaktion auf einen Text, auch ein Unwohlsein, ein Schwitzen, ein Stöhnen, ein Lachen, Teil der Komplexität eines Textes ist, dann muss das natürlich Teil der Analyse sein. Und dann wäre eine Literaturkritik, die Gefühl und körperliche Zustände beim Lesen ausblendet, eine, die dem Text gar nicht gerecht werden kann. Es gibt historische Gründe, die dazu geführt haben, dass der Körper so wenig vorkommt in unserem Rezeptionswerkzeugkoffer, und sie sind eng verbunden mit rassistischen, sexistischen und klassistischen Diskriminierungsgeschichten. Ich würde darum immer für eine Literaturkritik plädieren, die auch fragt: Wie ist meine eigene, vielleicht auch vorsprachliche Reaktion auf diesen Text? Wo stört mich etwas, wie reagiert mein Körper auf den Text? Macht der Text überhaupt etwas mit meinem Körper? Berührt mich das? Das kann ja auf ganz unterschiedliche Arten funktionieren, sowohl inhaltlich, als auch klanglich, durch Rhythmus zum Beispiel.

IW: Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren von einem Literaturredakteur gebeten wurde, das „Ich“ aus einem Artikel zu streichen, in dem es um meine Erfahrung als Deutsche in der Belgrader Theaterszene ging. Das „Ich“ sei eitel und lenke vom Gegenstand ab.

LS: Das kann nur jemand sagen, der nicht „Ich“ sagen muss, weil die Gesellschaft permanent für ihn „Ich“ sagt. Also jemand, der so positioniert ist, dass sowieso die ganze Zeit von seiner Position aus gesprochen wird. Da ist es dann auch naheliegend, dass man Ich-Sagen für eitel hält. Aber sobald man abweichend davon positioniert ist, kann es absolut notwendig werden, „Ich“ zu sagen. Und nicht „Ich“ zu sagen kann ja im übrigen auch eine Strategie sein, um davon abzulenken, dass man die eigene, partikulare Position gerade als universell behauptet.

SK: Wenn ich als Herausgeber „Ich“ sage, möchte ich mich nicht in den Vordergrund schreiben. Ich versuche ein „Ich“ zu entwickeln, das nicht um meine Partikularität, meinen Narzissmus oder meinem Wunsch nach sozialem Aufstieg kreist, sondern das konstellative Aspekte in eine Situation einträgt. Zum Beispiel meinen fachlichen Hintergrund, meine Perspektive, meine Privilegien, die Fördergelder, Interessen und Fragen mit denen diese Gedichte hier versammelt wurden. Das „Ich“ wird hier auch zum sekundären Zeugen: Ich bezeuge, dass ich diese Gedichte so und so gelesen habe. Das Ich zeigt, wie die Darstellung kontextualisiert, situiert, in einem gewissen Sinne konstruiert ist. Das Ich steht auch für eine Leseanleitung für einen Text: Von hier aus gesehen, erscheint er in diesem Licht.

LS: Ich möchte gern noch etwas zu dieser Vorstellung von Universalität oder Objektivität in der Literatur ergänzen. Die von Kant stammende Idee, Ästhetik beschreibe einen Bereich des „reinen, uninteressierten Wohlgefallens“ – die ist ja eigentlich spätestens seit Pierre Bourdieus Arbeiten zu ästhetischem Klassismus widerlegt. Wir wissen, dass ein Bereich der „reinen“ Ästhetik nicht existiert, sondern dass er geprägt ist von Klassenzugehörigkeit, von Geschlecht, von Rassifizierung oder von anderen Formen der Erfahrung und der Zuordnung, die wir machen. Umso faszinierender finde ich, dass im literaturkritischen Diskurs bis heute daran festgehalten wird, dass es auf der einen Seite die Ästhetik und auf der anderen Seite die Politik oder die Propaganda oder Agitprop oder das woke Schreiben gibt. Manchmal ist das eine gut, manchmal das andere, aber in jedem Fall ist beides klar voneinander getrennt. Als ob nicht jede Ästhetik auch gefärbt wäre von der gesellschaftlichen Positionierung, die Autor*in und Kritiker*in innehaben. Jedes ästhetische Verfahren macht eine politische Aussage. In einer von Zensur geprägten maoistischen Gesellschaft wie dem China der 70er Jahre etwa war ein rein formales Gedicht zu schreiben der politischste Akt, den man überhaupt vollziehen konnte – er hat einen sofort ins Arbeitslager gebracht.

IW: Es gab ja im Umfeld der Verleihung des Peter-Huchel-Preises an Judith Zander solche Debatten. Ich muss sagen, dass ich eine Schreibweise wie die von Judith Zander als heute marginalisiert empfinde, weil sie auch eine Gegensprache darstellt zu journalistischem und politischem Sprechen, einem Sprechen, dass immer die erkennbare klare Aussage formuliere. Das Verstellen solcher Aussagen und das scheinbar erstmal Hermetische ist für mich eine emanzipatorische Praxis. Und ich würde gar nicht sagen, das verstehen nur Leute, die eine germanistische Ausbildung haben, sondern ich würde sagen, man kann sich drauf einlassen, man kann googeln und auf Spuren kommen. Es ist für mich auch gesellschaftlich wünschenswert, einem Text, der erst einmal verschlossen zu sein scheint, geduldig zu begegnen und darauf zu vertrauen, dass man einen Zugang finden kann, weil das für mich auch die Übersetzung ist für eine Reaktion auch auf gesellschaftliche Situationen. Trotzdem bringt mich, was Sie sagen, ins Nachdenken. Neulich wurde ich wieder einmal nach der auffällig häufigen Nominierung von mehrsprachigen Autor*innen mit migrantischer Familiengeschichte bei Literaturpreisen gefragt. Sehr defensiv habe ich geantwortet, dass Jurys nach rein ästhetischen Kriterien bei der Auswahl von Texten vorgehen. Was wäre eine Rektion gewesen, die diesen Rückzug aufs Ästhetische unterläuft, andererseits deutlich macht: Es sind Autor*innen, denen das Schreiben wichtig ist.

LS: Was man natürlich machen kann, ist, diese Frage, die ja von einer Norm der Einsprachigkeit und des Nicht-Migrantischen ausgeht, umzudrehen. Einsprachigkeit stellt in Deutschland historisch gesehen eine ziemlich kurze Ausnahme dar. Bis ins 19. Jahrhundert hinein sind unterschiedliche Sprachen und Dialekte gesprochen worden im sogenannten deutschsprachigen Raum. Es war vollkommen normal, dass Menschen mehrsprachig waren, Sprachen gemischt und für verschiedene Kontexte unterschiedliche Sprachen verwendet haben. Die Linguistin Yasemin Yildiz belegt in ihrem Buch „Beyond the Mother Tongue“ sehr eindrücklich, dass Einsprachigkeit mit viel politischer Mühe durchgesetzt werden musste und an ein explizit nationalistisches Projekt gebunden war: das Projekt der Staatsbildung Deutschlands. Man könnte also umgekehrt auch fragen: Warum waren denn in den Jahren zuvor eigentlich alle Autor*innen bei den Literaturpreisen einsprachig, ist das nicht sehr seltsam in einem Land, dessen Geschichte und Gegenwart so sehr von Mehrsprachigkeit geprägt sind?

Was den Begriff des Ästhetischen angeht, so fürchte ich, dass der möglicherweise verloren ist, zumindest für den Moment. Der Diskurs ist so verfahren gerade, in der Gegenüberstellung von diesen vermeintlich dichotomen Gegensätzen „Ästhetik“ und „Politik“. Vielleicht muss man einfach aufhören, von Ästhetik zu sprechen. Vielleicht wäre auch eine Antwort, zu sagen: Wir wählen Texte aus, die uns interessieren, die uns überraschen, die uns angehen.

SK: Für mich ist das Ästhetische wichtig als Kategorie in seiner Prekarität. Weil man da nochmal eine Sphäre hat, auch wenn es vielleicht nicht ganz stimmt, von der man sagen kann: Hier gelten andere Regeln, hier ist ein anderer Schauplatz, hier ist eine andere Verteilung von Macht. Hier ist nicht zuerst Politik, hier ist nicht zuerst Erkenntnis, sondern hier ist dieser Raum, der irgendwie anders funktioniert. Es gibt Streit darum, wo seine Grenzen sind, aber hier haben wir die Möglichkeit, andere Erfahrungen zu machen, uns anders zu begegnen, anders zu lesen, anders miteinander zu spielen, ohne dass die Regeln letztlich geklärt wären. Für mich pluralisiert dieses Ästhetische den Machtraum und die Handlungsmöglichkeiten.

LS: Ich würde das dann vielleicht eher als das Literarische bezeichnen – und in dem Zusammenhang finde ich es sehr eindrücklich, dass die „Gedichte aus Guantánamo“ oft gar nicht als Gedichte ernst genommen wurden in der Rezeption. Dabei war es offensichtlich notwendig, genau diese künstlerische Form zu wählen, um von den dort gemachten Erfahrungen schreiben zu können. Die Gefangenen hätten auch Essays schreiben können oder Erfahrungsberichte, aber sie haben sich entschieden, Gedichte zu schreiben. Das gilt es doch, ernst zu nehmen. Literatur bzw. Lyrik ermöglicht es offenbar, Dinge mitzuteilen, an denen andere Formen von Sprache scheitern. Das ist dann vielleicht auch wieder ein guter Literaturbegriff: ein Raum, der ein anderes Sprechen, andere Zugänge zu Erfahrung und Erfahrungsverarbeitung, ermöglicht.

IW: Wie haben Sie selbst diese Gedichte denn gelesen? Es ist ja auch widersprüchlich, dass sie als „schlecht“ wahrgenommen werden und gleichzeitig offenbar große Wirkung haben.

SK: Ich habe erstmal gestaunt, dass es diese Gedichte gibt. Und das obwohl wir aus der Geschichte wissen, dass Menschen in existenziellen Notsituationen in der Lage sind und den Drang haben Gedichte zu schreiben. Das heißt, ich habe die Gedichte einerseits mit einem großen Interesse daran gelesen, zu verstehen, was es heißt, ein bedrohtes Leben zu führen. Das ist meine kulturwissenschaftliche, aber auch meine lebenspraktische Frage an die Texte. Diese Autoren haben eine Erfahrung gemacht, die wissen etwas darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein und eine Erfahrung von Sterblichkeit und Leiden zu machen. Sie wissen auch, was es heißt, das dann in eine so kulturalisierte Form zu bringen. In dem Sinne ist die Lektüre auch gar nicht ein menschrechtsaktivistischer Gestus, in der Hinsicht, dass ich aus meiner privilegierten Position großzügig etwas für die Autoren tue. Nein, da ist ein Wissensvorsprung, den ich nicht habe, und der für mich aber relevant ist und der für uns als Gesellschaft relevant ist. Wir können etwas von diesen Gedichten lernen. Und andererseits entscheidet man sowas auch nicht, man ist getroffen und kann das in guten Moment zulassen, ohne es verdrängen zu müssen.

IW: Ich verstehe dabei schon die Frage, inwieweit Menschen, die keine Erfahrung mit dem Schreiben haben, in der Lage sind, Folter, seelisches und physisches Leid in Sprache zu übersetzen. Ich verstehe auch, dass bemerkt wird, dass die Mittel überwiegend recht einfach sind. Allerdings kann man ja, so wie einige Kolleg*innen es auch getan haben, diese Mittel beschreiben und zurückführen auf Formen wie das Gebet. Sofort wird eine andere Einordnung der Texte möglich. Damit kann man ja als Literaturkritikerin was anfangen, ohne sagen zu müssen, das sind schlechte Texte, weil sie schlichte Mittel benutzen.

Lyrik geht an einer Stelle ins Radikale, an der Prosa das nicht tut und nicht tun kann.

LS: Ich muss dabei an einen Satz aus Mark Yakich’s tollem Buch „Poetry: A Suvivor‘s Guide“ denken. Er schreibt da sinngemäß: Wenn Du wirklich gar nichts mehr hast – wenn Du so krank oder so alt oder so pflegebedürftig oder in deinem körperlichen Zustand so prekarisiert bist wie die Gefangenen in Guantánamo – die Gedichte, die du auswendig weißt, werden auch in dieser extremen Situation bei dir bleiben. Als ich von Sebastians Projekt gehört habe, fand ich es darum sofort absolut einleuchtend, dass es gerade Gedichte sind, die in Guantánamo geschrieben wurden. Weil Gedichte auch einen oralen Ursprung haben, einen Lied-Ursprung, weil sie mit Wiederholungen, mit Refrain, mit Reim arbeiten, also sehr nah am Körper gebaut sind, können sie etwas sein, was du hast, wenn du sonst gar nichts mehr hast. Das ist auch einer der Gründe, warum Lyrik mich interessiert, als Form. Ich finde, sie geht an einer Stelle ins Radikale, an der Prosa das nicht tut und nicht tun kann.

IW: Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit einer chinesischen Lyrikerin beschäftigt, der auch fehlende Literarizität vorgeworfen wurde. Wie ordnen Sie diesen Fall ein?

LS: Das ist Yu Xiuhua, deren Texte häufig ausschließlich als Zeugnisliteratur einer Landarbeiterin mit körperlicher Behinderung gelesen werden und denen von der Literaturkritik immer wieder vorgeworfen wird, sie seien eigentlich gar keine Gedichte, weil sie „zu einfach“ seien. Wenn man sich aber mal dran setzt an die Texte, dann findet man darin einerseits eine Dringlichkeit und Intensität, die aus einer verkörperlichten Erkenntnis entstehen. Audre Lorde bezeichnet diese Art von tiefer, aus lebenspraktischer Erfahrung stammender Erkenntnis in ihrem berühmten Essay „Poetry is not a Luxury“ als „insight“, als „Einsicht“ – und diese wiederum als Qualitätskriterium für ein gutes Gedicht. In Sebastians Terminologie wäre sie vielleicht eher ein „Erfahrungsvorsprung“, der zur Sprache kommen will, ein spezifisches Wissen darüber, was es heißt, Mensch zu sein, verwundbar zu sein, sich durch die Welt zu bewegen. Andererseits verwendet Yu Xiuhua aber auch viele klassische literarische Formen: Metaphern, Wiederholungen, Klanglichkeit. Ich glaube, es gibt eine Tendenz, diese formale Arbeit zu übersehen, sobald in einem Text Autobiographie oder Inhalt sehr stark werden. Man tendiert dann sehr schnell dazu, zu sagen: Ahja, hier gibt es ein klares Anliegen, dann passiert da formal sicher nicht so viel. Aber es gibt auch viele Formtraditionen, die durchaus mit klaren Anliegen einhergehen und an die solche Texte anschließen. Also, zum Beispiel wie bei den Guantánamo Poems das Gebet, oder das Lied, oder auch Hip Hop und Spoken Word Poetry.

IW: Ich würde gern mal nach Ihrer Kategorie der Verletzbarkeit fragen. Wie gehen Sie mit dem Unterschied um, zwischen einer performten und einer nicht-performten Verletzbarkeit im Gedicht? Ich meine den Unterschied zwischen einer ästhetischen Strategie und einer Erfahrung, einem Zeugnis wie es mit den Guantánamo-Gedichten vorliegt.

LS: In der politischen Philosophie gibt es eine ganze Forschungsrichtung, die Vulnerability Studies, die sich der Verletzbarkeit widmen und sie als einen grundlegend menschlichen Zustand beschreiben. Theoretiker*innen wie Judith Butler würden sagen: Menschliche Subjekte sind gerade nicht durch Rationalität und Souveränität definiert, sondern durch die grundlegende Verletzbarkeit, die daraus entsteht, dass alle Menschen soziale und körperliche Wesen und also solche immer auf die Sorge und Aufmerksamkeit Anderer angewiesen sind. In gewaltvollen Ausnahmesituationen, wie Guantánamo eine ist, wird diese Verletzbarkeit besonders akut sichtbar, aber eigentlich ist sie ein Merkmal, das alle Menschen betrifft und definiert.

Das besonders intensive Wissen darum, das in den Guantánamo-Gedichten steckt, ist literarisch sicher etwas anderes, eine andere Form, auch ein anderes Thema als die queerfeministischen Ansätze, die ich mir angeschaut habe. Die arbeiten mit einer ganz speziell situierten Verletzbarkeit, nämlich einer, die an der Zuordnung als „weiblich“ hängt, und an der Abwertung, die mit dieser Zuordnung einhergeht. Die Texte, die ich in meiner Dissertation untersucht habe, nehmen sich genau diese Zuordnung vor und performen ihre negativen Attribute selbstbestimmt, in überzogener Form, geradezu aggressiv. Ihre Autorinnen gehen voll in die Klischees von Weiblichkeit hinein, nach dem Motto: Wenn ich als Autorin sowieso immer nur als Frau gelesen werde, mit allen negativen Zuschreibungen, die daran hängen, dann kann ich auch aufhören, zu beweisen, ich könne genauso oder genauso gut schreiben wie ein „Mann“. Stattdessen performen sie absichtlich all das, was ihren Texten später sowieso vorgeworfen werden wird: Kitsch, Naivität, Überemotionalität, Anhänglichkeit, und so weiter.

Beide Formen der Literatur arbeiten mit Verletzbarkeit, aber es sind verschiedene Arten von Literatur und verschiedene Strategien.

IW: Wobei ich Ihre Argumentation in der Dissertation so verstanden habe, dass es schon eine authentische Erfahrung gibt, dass sie aber in der Umsetzung im Gedicht für die Rezipient*innen in eine Unsicherheit gebracht wird.

LS: Genau, durch ihre krasse Überzeichnung. Der Ausgangspunkt dieser Autor*innen ist, dass ihre Texte sowieso immer autobiographisch gelesen werden, während die von weißen, männlichen cis Autoren als universale Aussagen betrachtet werden, und deswegen arbeiten sie mit dieser Zuschreibung. Das Spiel ist kein freies Spiel, weil sie auf etwas reagieren, was ihnen schon von außen zugetragen wird.

SK: Strategie ist für die Autoren der Guantánamo-Gedichte sogar sehr wichtig, in einem ganz praktischen Sinn. Sie mussten sich immer die Frage stellen, wie sie die Texte schützen oder in Gefahr auch vernichten können. Sie haben Gedichte in Becher gekratzt und einander geschenkt, die Becher aber auch selbst die Toilette heruntergespült, wenn Wärter*innen kamen. Es gibt ein essentielles Moment von Strategie bei der Herstellung von Öffentlichkeit, weil die Autoren und ihre Texte entrechtet und straflos verletzbar waren. Zu dieser Strategie gehört letztlich auch die Hoffnung auf Leser*innen, die sich Zeit nehmen für sorgfältige, rekontextualisierende Lektüren und die im Wortsinne schwachen Spuren wieder entziffern. Und da wäre man eben auch wieder bei der Aufgabe von Kritik, ein besonders sensibles Pendel zu sein, das besonders schnell ausschlägt oder besonders feinsinnig auf Spuren achtet, die sonst übersehen werden könnten.

Darf man als Kritikerin nicht in Beziehung zu einem Text treten?

IW: Sie sprechen ja sogar von Zeugenschaftsbeziehung zwischen Autor*innen, Text, Leser*innnen. Als Leser*in kann ich es mir leisten, in eine Zeugenschaftsbeziehung zu einem Text zu treten. Ich finde die Frage berechtigt, ob die analysierende Kritikerin auch in eine Zeugenschaftsbeziehung eintreten darf.

LS: Man tut es ja sowieso. In dem Moment, in dem man den Text liest, ist diese Beziehung ja da. Diese Fiktion von Objektivität aufrecht zu halten, finde ich problematisch. Die Frage müsste genau umgekehrt lauten: Darf man als Kritikerin nicht in Beziehung zu einem Text treten?

IW: Wobei Zeugenschaftsbeziehung ja noch einmal etwas Spezifisches ist, weil ich ja als Zeugin verpflichtet bin zu berichten, was ich gesehen habe. Ich muss eigene Bewertungen raushalten, und das sehe ich schon als Konflikt eines Teils der Aufgabe einer Kritikerin. Die Frage ist nur, ob es rauszuhalten ist aus der Kritik oder ob es ein Element ist, mit dem man dann auch arbeiten kann, ohne dass einem vorgeworfen wird, Partei geworden zu sein.

LS: Das war ja auch genau das Unwohlsein, das einige Kritiker dem Buch gegenüber geäußert haben – das Gefühl: Ja, da kann ich jetzt gar nichts zu sagen, denn das ist ja eh schon moralisch gut.

SK: In der Wissenschaft habe ich ja ein ähnliches Problem. Ich bin zur Objektivität verpflichtet, und ich muss meine Verfahren transparent machen. Gerade wenn ich ein zeitgeschichtliches Projekt habe, dann muss ich meine Quellen transparent angeben, sauber analysieren und so weiter. Ich würde sagen, es bleiben heterogene Schreibformen und Situierungsformen, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kritik. Und ich glaube, dass unterschiedliche, inkompatible Ansprüche an einen gestellt werden, macht die Schwierigkeit aus, aber auch die Produktivität dieser Gattungen. Ich habe für mich diese Antwort gefunden: Die Gefangenen können und müssen Zeugnis ablegen. Das ist nichts, was sie sich ausgesucht haben, sondern etwas, das Machteffekt ihrer Entrechtung ist. Weil die Gefangenen keine Dritten als Zeugen aufrufen können, weil sie keine Beweismittel versammeln können, weil sie keinen fairen Prozess gehabt haben, weil sie von US-Militärs und Geheimdiensten weggesperrt und zensiert werden und so weiter, sind sie auf diese Form des Zeugnisses zurückgeworfen, der ich erstmal nur Glauben schenken kann. Und weil sie kein anderes Mittel haben, ist diese Glaubens- und Vertrauensbeziehung gerechtfertigt und es muss eine Art Vertrauensvorschuss geben. Danach kann ich mich natürlich in einem zweiten Schritt in ein kritisches Verhältnis setzen. Also, ich kann fragen, wie ist es formal gemacht, was sind die literarischen Mittel, woher weiß ich überhaupt, was ich weiß, wenn ich diese Texte gelesen habe? Wie verhält sich der Text zu anderen historischen Dokumenten? Einen ähnlich vielgliedrigen Prozess würde ich mir auch von der Kritik wünschen. Und ich muss ehrlich sagen: Im Angesicht des universellen Folterverbots ist mir Unparteilichkeit suspekt, ich nehme da Partei. Trotzdem darf man die eigenen Interessen an die Texte herantragen: In der Frage nach bestimmten Traditionen, Gestaltungsmerkmalen, anregenden oder irritierenden Formelemente. Man kann doch auch die Heterogenität des eigenen Zugangs zulassen.

IW: Ich habe mehrfach erlebt, dass Kolleg*innen angesichts von scheinbar autobiographischen Texten sagen, sie haben Respekt vor der Erfahrung, die der Text bezeugt, aber literaturkritisch betrachten können sie ihn nicht. Das ist interessant, weil es ja den Autor*innen die Souveränität abspricht, zu sagen, ich gestalte einen Text und stellen ihn der Öffentlichkeit zur Verfügung. Wie sehen Sie das? Ist die Literaturkritik angesichts von Dokumentarischem, Zeugnissen, Autobiographischem, Authentischem, zum Schweigen verpflichtet? Sind Hemmungen berechtigt?

LS: Der Begriff des Memoir, den es im englischsprachigen Raum gibt, hat sich in Deutschland leider bisher noch nicht wirklich durchgesetzt. Auch das Genre der Literary Nonfiction, der nicht-fiktionalen Literatur, scheint im deutschen Literarturbetrieb nach wie vor kaum vorstellbar zu sein: Auf einem Buch muss immer entweder Roman oder Sachbuch stehen. Viele spannende Autor*innen, deren Essaybände beispielsweise in den USA als Belletristik verkauft werden, landen als deutsche Übersetzung im Sachbuchregal, weil Literatur bei uns immer noch gleichbedeutend ist mit Fiktionalität. Was ja auch einen Schutzschild bildet, sowohl für die Kritikerin als auch für die Autorin: das kann jetzt hier nicht zu persönlich werden, denn das ist ausgedacht. Dabei zeigt die Literaturkritik in anderen Sprachen und Ländern, beispielsweise eben im Englischen, dass man sehr gut über nicht-fiktionale Texte sprechen kann, in denen das Autobiographische stark ist. Man beurteilt ja dabei nicht die Erfahrung der Autorin, sondern nähert sich dem Text, der aus dieser Erfahrung entstanden ist – und der eigenen Berührung durch diese Text gewordene Erfahrung.

Ich verstehe nicht, woher diese Fetischisierung des Verreißens herkommt.

SK: Ich habe mich nie gefragt, ob die Gedichte gut oder schlecht sind. Ich habe mich auch nie gefragt, ob die Mittel einfach oder komplex sind. Bei den Cahiers de Cinema gab es die Regel, die Person rezensiert den Film, die den Film am besten fand. Das hat mir immer als ein Verfahren eingeleuchtet, und andererseits würde ich sagen, wenn man denkt, ein Text der von einer extremen biographischen Leiderfahrung erzählt, ist wirklich schlecht und hätte nicht so geschrieben werden sollen, dann kann man auch dazu stehen. Aber dann muss man eben auch damit leben, dass man sich selber ebenfalls angreifbar macht. Ich würde wirklich nochmal die Frage stellen, woher kommt das Begehren zu urteilen und warum sind andere Interessen an den Texten nicht stärker als das? Die Texte sind doch so reich an Erfahrungen, Appellen und ästhetischen Formspielen, man kann sich doch immer auf die Momente konzentrieren, die besonders produktiv für einen sind und so ein bisschen großzügig sein. Ich verstehe nicht, woher diese Fetischisierung des Verreißens herkommt. Vielleicht könnte man da einen Shift zu einem mehr reparativen Moment suchen.

LS: Reparative Literaturkritik finde ich einen tollen Begriff. Ich würde mir überhaupt einen Ansatz wünschen, der, wenn er in einem Text etwas nicht versteht oder generell nichts entdecken kann, erstmal davon ausgeht, dass es einem selber an Wissen, Kontext oder Interpretationsfähigkeiten fehlt. Ich würde mich jedem Text erstmal mit Demut nähern. Egal, ob ich „nur“ Leserin oder Kritikerin bin. Die Grundannahme muss sein: Dieser Text könnte etwas enthalten, das ich nicht kenne und für das mir vielleicht sogar (noch) die Fähigkeit fehlt, zu sehen, was es ist.

IW: Wobei es ja sehr produktiv ist, wenn man am Text argumentierend auch seinen Mangel formuliert. Den muss man aber eben durch die Beschreibung des Textes zuspitzen und nicht, indem man die Fähigkeiten der Person, die ihn geschrieben hat, in die Mangel nimmt. Ich glaube, das ist immer der Trick, dass man viel schreiben kann und auch viel Negatives schreiben kann, wenn man es begründet am Text, weil damit ja auch offen liegt, was man gelesen und was man nicht gelesen hat.

LS: Das stimmt; ich würde diese Demut auch nur als eine erste, wenn auch grundlegende Haltung beim Aufeinandertreffen mit einem Text sehen. Nur aus der Demut eine Rezension zu schreiben, das würde nicht reichen, auch nicht spannend sein. Aber sich erstmal selber zu verdächtigen und nicht den Text, das ist, glaube ich, eine gute Ausgangsposition. Immerhin gibt es wesentlich mehr formale und ästhetische Mittel, literarische Traditionen und Definitionen von Literatur, als eine einzelne Kritikerin kennen kann – und wenn man diesen Anspruch des Großkritikers aufgibt, muss man das ja auch gar nicht, sondern darf andere um Hilfe fragen, suchen, die eigenen Unsicherheiten als produktiv und aussagekräftig verstehen.

IW: Also am Ende eine Art Punkteprogramm für Literaturkritik? Erstens: Reflektiere dich selbst in deiner Perspektive und Position. Zweitens: Bedenke, dass der literarische Raum ein pluraler ist. Drittens: Habe keine Angst davor, einige dieser Richtungen nicht zu kennen und dich zu irren. Vor allem: Habe keine Angst.

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Der Buchkäuferkuchen und die Missgunstmaschine

von Leander Steinkopf

Wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller zusammenkommen, reden sie erfahrungsgemäß eher selten über die Romane der  Gegenwartsliteratur, die ihr inhaltliches Arbeitsumfeld bilden. Stattdessen geht es um die neuesten Verlagswechsel ihrer Peers, um den Medienhype, der einen Kollegen beglückte, oder um die zahlreichen Preise und Stipendien, die eine Kollegin zuerkannt bekam. Im Arbeitsalltag übt man sich in epischer Geduld. Umso mehr schätzt man in der Freizeit diese kleinen Geschichten von Sieg und Niederlage, von wer mit wem, von Fairness und Ungerechtigkeit, die schneller ins Blut gehen als Romane der handelsüblichen Länge. Verbunden ist dies oft mit Gefühlen, die man angesichts des reflexiven Ideals der Schriftstellerei für überraschend halten könnte, nämlich mit Neid und Missgunst.

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In der Literaturwelt, wie sie sich den Schriftstellerinnen und Schriftstellern präsentiert, sind die wichtigen Ressourcen eng begrenzt: die Bestseller- und Bestenlistenplätze, die Preise und Stipendien, die Bücherseiten der Zeitungen und die Sendezeit der Büchersendungen. Obendrein erzeugen all diese Güter öffentliche Aufmerksamkeit, mitunter besteht ihr Wert ausschließlich darin. Und so laden sie viel offensiver zum sozialen Vergleich ein, als es etwa hinter verschlossenen Türen verhandelte Gehälter von Angestellten tun. Es ist also  nicht selbstverständlich, sich an dem guten Buch einer Schriftstellerkollegin zu erfreuen, wenn die Qualität ihres Werkes auch bedeutet, dass die eigenen Chancen auf die begehrten Ressourcen dadurch geringer ausfallen. Ein Preis, ein Bestenlistenplatz, eine Rezensionsseite kann nur einmal vergeben werden. Der Wettbewerb ist ein Nullsummenspiel.

Diese Sicht auf die Bücherwelt ist nicht die einzig wahre, es ist auch eine andere Perspektive möglich: Man könnte sich als Schriftstellerin und Schriftsteller mit gutem Grund freuen, wenn man seine Zeitgenossen um die Qualität ihres Schaffens beneidet.  Das könnte nämlich heißen, dass man das Glück hat, in literarisch guten Zeiten zu leben.

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Eine Zeit, in der es viele gute Schriftstellerinnen und Schriftsteller gibt, könnte man einerseits als Zeit betrachten, in der es viel Konkurrenz gibt. Man kann sie aber auch als Zeit betrachten, in der sich das Lesen von Gegenwartsliteratur besonders lohnt und dadurch besonderer Beliebtheit erfreut. Ein Buch allein macht keine Blütezeit, eine Autorin, ein Autor allein macht keinen Aufschwung. Es sind all die Zeitgenossen – mögen sie besonders zahlreich sein – die man als Autorin und Autor um ihr einzigartiges Können und Tun beneidet, die gemeinsam die Blüte bilden. Lebt man als Autorin oder Autor hingegen in Zeiten, in denen weit und breit kein Zeitgenosse Neid erregt, hat man das Pech, in schlechten Zeiten zu schreiben. Sind da aber viele gute Andere, steigern diese, völlig absichtslos und als bloßes Nebenprodukt ihres individuellen Schaffens, den Ruf ihres Mediums und ihrer Generation, sodass andere, die diesem Medium, dieser Generation und Gegenwart angehören, im Fahrstuhl mit nach oben fahren. Autorinnen und Autoren stehen dann nicht einfach in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Kaufenden und Kritisierenden, sondern tragen großzügig bei zum Gemeingut guter Literatur.

Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Vergangenheit und etwas weiter zurückreichenden Gegenwart, die heute klingende Namen sind, waren selten Solitäre. Das Aufsehen, was sie einst erregten, haben sie auch jenen zu verdanken, die gleichzeitig groß waren. Die heutige Sehnsucht nach den 1920er Jahren etwa wäre doch längst nicht so groß, wenn nur Vicki Baum damals geschrieben hätte, nur Walter Benjamin oder nur Joseph Roth. Es ist gerade die Fülle der brillanten Autorinnen und Autoren, welche die Zeit so interessant macht. Und jener besondere Glanz dieser Zeit bestrahlt umgekehrt jene, die in ihr und über sie schrieben. Die Fülle, die wir heute mit Blick auf die 1920er wahrnehmen, ist also einerseits tatsächlich mit Fülle begründet, andererseits damit, dass der Glanz der Zeit mehr damalige Autorinnen und Autoren in das Licht heutiger Aufmerksamkeit rückt.

Generalisierung und elastische Nachfrage

Man kann davon ausgehen, dass die Leserinnen und Leser in irgendeiner Weise darauf reagieren, wie gut die Gegenwartsliteratur insgesamt ist oder als wie gut sie gilt, ja, von dieser Wahrnehmung hängt wohl ab, ob man die Leserinnen und Leser überhaupt und wenn ja wie oft, als Leserinnen und Leser bezeichnen kann. Sie, genauso wie die Kritikerinnen und Kritiker, die Vermittlerinnen und Vermittler, generalisieren zu guten Jahrgängen und guten Zeiten, zu schlechten Jahrgängen und schlechten Zeiten. Und heutzutage hört man eben oft, dass die deutsche Gegenwartsliteratur vielleicht nicht die interessanteste sei, während etwa aus Frankreich die spannenden Sachen kämen.

Nun sind natürlich nicht alle deutschen Bücher schlecht, und nicht alle französischen gut, aber hat sich eine Generalisierung erst herumgesprochen, wird der schlechte Ruf auch guten deutschen Autoren schaden, der gute Ruf auch schlechten französischen Autoren nutzen. Mancher französische Autor mag Houellebecq seinen Erfolg neiden, wird aber von dessen Glanz doch profitieren, weil er in Frankreich das Gewicht und Prestige von Literatur steigert und jenseits Frankreichs das Interesse an französischer Literatur. In Deutschland mag man derweil mit mehr Selbstzufriedenheit seine Romane schreiben, weil es an den international herausragenden Persönlichkeiten fehlt, hat aber alle Nachteile des bescheidenen Rufs der deutschen Gegenwartsliteratur. Christian Kracht und Daniel Kehlmann sind vielleicht auch deshalb nach Nordamerika umgezogen – an unterschiedliche Enden des Kontinents –, um mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht in Verbindung gebracht zu werden.

In einer Welt, in der Bücherkonsum nicht so sehr durch mangelnde Lesezeit, sondern durch mangelnde Leselust begrenzt ist, wo die freie Zeit, die man eigentlich lesend verbringen könnte, lieber für Netflix und soziale Medien verwendet wird, stehen Autorinnen und Autoren am Markt weniger in Konkurrenz zueinander als gemeinsam in Konkurrenz zu anderen Medien. Wenn man davon ausgeht, dass ein imaginärer Leser im Jahr sechs Bücher kauft, seine Nachfrage vollkommen unelastisch ist, dann geht es für den Autor darum, dass sein Buch eines von diesen sechs ist, dann besteht harte Konkurrenz zwischen den Autorinnen und Autoren, dann kann man sich freuen, wenn die anderen erfolglos sind, wenn sie literarisch scheitern. Geht man hingegen davon aus, dass die Nachfrage variabel ist, dass also der imaginäre Leser auf die Bücher vier bis sechs überhaupt keine Lust mehr hat, weil die Bücher eins bis drei so schlecht waren, oder umgekehrt, dass er die sechs Bücher mit solch einer Freude gelesen hat, dass er im selben Jahr nochmal sechs Bücher kauft, dann verändert dies die Sicht auf das Schaffen anderer Autorinnen und Autoren, auf die Arbeit konkurrierender Verlage.

Gute Bücher anderer Schreibender steigern dann die Chance, dass auch das eigene Werk gelesen wird. Der Kuchen wächst und auch wenn man von ihm nur ein kleines Stück abbekommt, ist dies allemal mehr als das Stück, das man in mageren Zeiten von einem kleineren Kuchen bekäme.

Neid in den Strukturen

Missgunst und Konkurrenzdruck werden aber gepflegt durch die gängigen Rückmeldungen, die der Literaturbetrieb bietet. Der Kult um die Bestsellerliste gibt dem Gedanken Futter, dass sich Autorinnen und Autoren und ihre Werke nach Rang sortieren lassen, dass die Plätze für Literatur begrenzt sind, und dass man selbst den Platz nicht bekommt, wenn ein anderer ihn innehat. Es gibt immer bloß zehn Bücher in den Top Ten, da aber die Verkaufszahlen nicht öffentlich genannt werden, merkt man nicht, dass die verkauften Auflagen der Bücher, die in die Top Ten gelangen, über die Jahre stetig gesunken sind: Wenige Glückliche erreichen die Plätze, aber alle gemeinsam haben verloren.

Ähnlich starr und knapp sind die Rezensionsplätze in den Zeitungen, die Programmplätze der guten Verlage und die Lesungstermine der Literaturhäuser. Ironischerweise leisten selbst die Strukturen der Literaturförderung Neid und Missgunst Vorschub. Es gibt eine feste, ganz unflexible Zahl von Preisen und Stipendien, die in Deutschland vergeben werden. Im Gegensatz zur elastischen Nachfrage am Buchmarkt, ist die Verteilung von Geld und Anerkennung hier wirklich ein Nullsummenspiel. Höchstens wird eine Preissumme mal zwischen zwei Preisträgern aufgeteilt, nie jedoch werden ausnahmsweise mehr volle Preise vergeben, wenn ein Buchjahr besonders gut war. Selten wird eine Preisvergabe gestrichen, wenn das Buchjahr nichts hergab. Wenn man als Autorin oder Autor auf Einkommen durch Preise und Stipendien schielt – und die reichhaltige deutsche Förderlandschaft lädt dazu ein – dann liegt es nahe, sich von Mitschriftstellern schlechte Bücher zu erhoffen, weil dies die eigenen Förderchancen erhöht.

Oft wird gegen das deutsche Förderwesen vorgebracht, dass es die Schreibenden der materiellen Not und Notwendigkeit entzieht, was eine Voraussetzung sei für große Literatur. Ein anderer Kritikpunkt lautet, dass Förderung die Autorinnen und Autoren in eine Richtung locke, die zwar bei professionellen Jurys Eindruck schindet, die unprofessionellen Leserinnen und Leser aber nicht anspricht. Hier sei noch ein anderer Kritikpunkt hinzugefügt: Das großzügige Preis- und Stipendienangebot schafft eine starre Konkurrenzsituation, die am freien und elastischen Buchmarkt überhaupt nicht bestünde. Das deutsche Förderwesen konstruiert eine starre Konkurrenzsituation, wo eigentlich – zumindest ein Stück weit – eine Win-Win-Situation möglich wäre.

Neid und Missgunst, das sind schlechte Eigenschaften, aber von Schriftstellerinnen und Schriftstellern empfunden, können es gute Zeichen sein, Hinweise auf eine gute Zeit der Literatur. Das gilt natürlich nur, wenn der Neid sich auf die Qualität der Werke bezieht und nicht bloß Frust darüber ist, dass man diesen Preis oder jenes Stipendium, diesen Listenplatz oder jene Rezensionsspalte wieder nicht erhalten hat.

Von Leander Steinkopf erschien zuletzt die Anthologie „Neue Schule: Prosa für die nächste Generation“ bei Claassen.

Foto von Toa Heftiba auf Unsplash

Dear Literaturbetrieb

Das internationale Autor*innenkollektiv foundintranslation fordert in einem offenen Brief einen vielfältigeren, inklusiven Literaturbetrieb. Der Brief geht aus WESTOPIA – Festival für eine mehrsprachige Literatur der Zukunft hervor, das vom 1.- 5. September 2021 vom Center for Literature (CfL) auf Burg Hülshoff veranstaltet wurde. Das Festival beschäftigte sich mit den toten Winkeln des Literaturbetriebs, der die Vielfalt und Vielschichtigkeit einer mehrsprachigen und multiperspektivischen Gesellschaft nicht abbildet, und der Frage, wie eine inklusive Literaturlandschaft zukünftig aussehen kann.

Dear Literaturbetrieb,

Imagine the literature of a country whose borders are fictions. Imagine a literary scene where competition is imbued with empathy. Where every mother tongue is honoured as a mother. Where common sense is our common ground and translation our common tongue.

Do you remember? That was our destination, but the world has a way of imposing itself, covering complex depth with forgetful surfaces. Can we find our way back to a place yet to be discovered?

Für uns, beginnt die Utopie im Publikum. Wir erträumen einen Raum, groß und schillernd, der nicht nur eine Welt abbildet. Eine Welt mit vielen Weltchen. Die Rampe zur Bühne gibt es nicht. Da ist Nähe, da ist Augenhöhe, da ist der Mut, selbst auch auf die Bühne zu gehören.

We wouldn’t judge a book by its cover — but a publisher if the translator’s name is omitted from its cover.

Wir sehen die Bühne nicht als Repräsentationsfläche, sondern als Präsentationsfläche.

Lieber Literaturbetrieb, we still love you, but we no longer find you attractive.

Bitte, wechselt die Positionen. Wechselt häufiger Jurypositionen. Bezahlt Juryarbeit besser. Besetzt nicht die Jurys mit den immer gleichen Gesichtern. Neue Gesichter, neuere Literaturformen, neueres Publikum. 

Wir möchten den Klang aller Sprachen auf der Bühne erfassen. A través de la música de la lengua extranjera, to acknowledge that a world-view different to ours is possible. Wir möchten uns ins Nichtverstehen verlieben. 

What does »Deutsche Literatur« even mean?

Si los lenguajes de las minorías en nuestro país son islas, que sean las islas a las que queremos viajar.

Dearest, Literaturbetrieb, why so serious? Wir fordern mehr Quatsch. 

Wir wollen flexible Förderanträge ohne modischen Buzz: Antragsprosa has left the meeting.

Who takes care of the carers? Wir fordern Förderung mit Fürsorge. This means, liebe Kulturförderungen, that we take the expenses of partners and family members into account: family-friendly grants and residencies. And do try not to get bogged down in unnecessary details — let us take care of the writing, acknowledging that all creative work is the work of a community, even if through a single person writing in solitude.

Lieber Literaturbetrieb, uns fehlt der Dialog auf der Bühne. Der wahrhaftige Dialog, der die Frage nach Autofiktion übertrifft. Wir möchten in den Bann gezogen werden.

Bücher sind unsere Zufluchtsorte, wir möchten, dass Bühnenräume und Literaturhäuser auch Zufluchtsorte werden.

We recognise that, by definition, any language that serves as an international lingua franca oppresses the tongues that exist in the margins. However, a Kajetian approach encourages us to accept the paradox, ‘to embrace the English language as a tool’ for spreading knowledge and tweaking the cultural discourse. The wise expenditure of such energies requires common ground. 

Let’s take translation as our model, reminding us that no identity, language or culture can ever be separated from its foreignness. Let’s remain open-minded, taking translation as our ever better-failing model for solidarity.

Dearest Literaturbetrieb, your map no longer corresponds to the territory. But that doesn’t mean we can’t find our way. It just means the journey may take a little longer, so consider it a scenic route. Don’t despair. We have time and the best of company.

Wanting you to be ours,

foundintranslation

Beitragsbild von Moritz Wienert

Schweig, Autorin – Misogynie in der Literaturkritik

von Nicole Seifert

 

Wenige Wochen bevor bekanntgegeben wurde, dass Inger-Maria Mahlke für ihren Roman Archipel den Deutschen Buchpreis 2018 erhalten würde, erschien im Spiegel ein Porträt der Autorin, in dem sie als überemotional, fahrig und naiv dargestellt wurde, eher als kleines Mädchen, denn als ernstzunehmende Schriftstellerin. Dass sie “eine Menge Preise“ gewonnen habe, wird erwähnt, deutlich öfter wird aber betont, dass Mahlke „dem breiteren Publikum nicht sonderlich bekannt“ sei, dass der Verkauf ihres Romans schlecht liefe, dass ihre Bücher zwar „als große Literatur“ gälten, aber: “alle floppten mehr oder weniger“.

Für den Verfasser des Textes, Takis Würger, scheinen hohe Verkaufszahlen das eigentliche Qualitätsmerkmal eines Textes zu sein. „Die drei, vier Mahlke-Fans, die es da draußen irgendwo gibt“, schließt er, „können sicher sein, dass Mahlke unabhängig davon bald wieder die braune Nickihose anziehen und weinend vor ihrem Computer sitzen wird.“ [1] Ein Artikel, der die Autorin lächerlich zu machen versucht, und der schon eher boshaft als respektlos genannt werden muss.

Edo Reents von der FAZ eröffnete seine Rezension von Judith Hermanns Aller Liebe Anfang, dem ersten Roman nach mehreren Erzählungsbänden, mit den Worten, diese Autorin habe „zwei Probleme: Sie kann nicht schreiben, und sie hat nichts zu sagen.“ Ihr Stil gelte zwar als kunstvoll, sie selbst wegen ihrer Erzählungen als eine der wichtigsten Stimmen der jüngeren Literatur, Reents aber vermutete in der betont reduzierten Syntax „gedankliche Schlichtheit“ oder „einfach nur Unvermögen“ und äußerte den Verdacht, Hermann wisse „gar nicht, was bestimmte Wörter bedeuten“. [2]

Ein drittes Beispiel: Kürzlich wurde im Lesenswert Quartett des SWR über den Debütroman der Autorin Deniz Ohde gesprochen. Streulicht hatte zuvor unter anderem den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und den aspekte-Literaturpreis erhalten, außerdem stand der Roman auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Sandra Kegel, Ijoma Mangold und Insa Wilke bedachten das Buch in der Sendung mit viel gut begründetem Lob, zuletzt schaltete sich Gastgeber Denis Scheck mit einer ganz anderen Meinung ein: „Diese Autorin ist so humorfrei, so frei von einer Spur von Geist und Eigenständigkeit in der Intellektualität, dass ich ihr eine große Zukunft in der deutschen Gegenwartsliteratur prophezeien kann, solange es solche Kritiker gibt.“ Er habe sich wahnsinnig gelangweilt und geärgert über dieses flache und banale Buch, sagte Scheck und verstieg sich schließlich zu der Aussage: „Diese Autorin kann nicht denken!“ Von Insa Wilke nach Textbeispielen gefragt, antwortete Scheck, das ganze Buch sei ein einziges Beispiel, nannte also keines. Ijoma Mangolds Frage, warum Scheck zu diesem Buch nicht „eine minimal weniger radikale Position“ einnehmen könne, überging er ganz. [3]

Warum so radikal?

Bei derartigen Abrechnungen, bei so persönlichen Attacken drängt sich der Verdacht auf, dass es eben genau darum gehen könnte – um etwas Persönliches. Ungeachtet dessen sollen die Aussagen hier aber als das betrachtet werden, als was sie sich ausgeben: als Literaturkritik. Warum ist bei allen genannten Beispielen der Ton derart verächtlich, das Urteil so vernichtend? Woher der Furor? Es ist die Frage, die Ijoma Mangold Denis Scheck gestellt hat: Warum so radikal? Ein genauerer Blick auf diese und andere Beispiele zeigt einige Übereinstimmungen.

Durchweg handelt es sich um besonders erfolgreiche, mehrfach ausgezeichnete Autorinnen, die wie Judith Hermann und Deniz Ohde bereits mehrere Literaturpreise und viel Anerkennung vom Feuilleton bekommen hatten. Und weil das so ist, muss gleich die gesamte Literaturkritik mit angegriffen und mehrfach wiederholt werden, dass diese Autorin maßlos überschätzt werde und alle, die es anders sehen, keine Ahnung hätten. Reents verdächtigt „die Literaturkritik“ der „Nachsicht“, Scheck hält es für einen „Offenbarungseid für die deutsche Literaturkritik, dass ein so schwacher Text es so weit bringen durfte.“

So lief es auch, als Karen Köhler nach ihrem sehr positiv besprochenen Erzählungsband Wir haben Raketen geangelt, der zudem ein Bestseller war, 2019 ihren gespannt erwarteten ersten Roman veröffentlichte. Jan Drees, Kritiker beim Deutschlandfunk, bezeichnete Miroloi als „naives Jugendbuch“ und sprach ihm zusammen mit mehreren anderen Romanen, die sich zu dieser Zeit gut verkauften (fast ausschließlich von Frauen), mittelbar die Berechtigung ab, im Feuilleton besprochen zu werden und „Literatur im eigentlichen Sinne“ zu sein. Und auch in diesem Fall gibt es einen Vorwurf an die Kolleg*innen, die Drees zufolge samt und sonders dem Verlagsmarketing auf den Leim gegangen seien. [4] In einem ersten Schritt wird im Genre „Etablierter Literaturkritiker verreißt erfolgreiche junge Autorin“ also das durch die Kolleg*innen bereits aufgebaute Renommee der Autorin demontiert. In der FAZ-Kritik von Simone Hirths Roman Das Loch wird zu diesem Zweck sogar behauptet, die Literaturpreise, die die Autorin bereits „eingeheimst“ habe, würden „nicht selten unbedacht vergeben“. [5]

Im zweiten Schritt werden die Themen der Romane beanstandet, die Geschichte als solche, mit der die Kritiker in allen betrachteten Fällen nichts anfangen können. „Sollte es Judith Hermanns Absicht gewesen sein, mit ihrer Stalking-Geschichte zu zeigen, dass das Leben schnell aus den Fugen geraten kann“, formuliert Edo Reents sein Unverständnis, „[…] dann kann man nur sagen: Ja, davon hat man schon mal gehört.“ Und für Jan Drees bleiben nach der Lektüre von Miroloi „tausend Fragen“ zurück: „Ist Köhlers Buch ein Totenlied auf nicht mehr existierende Formen der Misogynie? Kann Miroloi gelesen werden als Parabel auf die Unterdrückung von Frauen im Niger, im Chad oder Burkina Faso?“ – Soll man lachen oder weinen angesichts so viel Unkenntnis der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland und der historisch gewachsenen Strukturen, die ihr zugrundeliegen?

Auch die Literatur, in deren Tradition die Romane dieser Autorinnen stehen, ist offensichtlich nicht bekannt. „Wo wäre das jetzt zu verorten“, fragt Moritz Baßler in seiner taz-Besprechung von Miroloi, „irgendwo zwischen Wanderhure und Schäfchen im Trockenen, Krabat und dem Gastroführer Griechenland?“ [6] Weder, noch. Aber anders als die Kollegen, die Sinn und tiefere Bedeutung gar nicht erst unterstellen, fragt Baßler immerhin, womit ein Buch wie Miroloi inhaltlich zu vergleichen wäre, und scheint an einer Antwort ehrlich interessiert. Mit Werken von Ursula LeGuin und Margaret Atwood zum Beispiel, deren Report der Magd durch die prominente Serienverfilmung gerade erst omnipräsent war. Wenn man von diesen bekannten Namen aus weiter googeln würde, stieße man auf meterweise dystopische und utopische feministische Romane aus aller Welt. In den Buchhandlungen fände man außerdem Neueres wie Naomi Aldermans Die Gabe oder The Water Cure von Sophie Mackintosh, in dem es ebenfalls um eine patriarchale Inselgesellschaft geht. Die Kenntnis nur einiger dieser Bücher hätte den Kritikern einen fundierten Vergleich mit Karen Köhlers Roman und eine angemessene Auseinandersetzung ermöglicht.

Von umfassender Ahnungslosigkeit zeugt auch die bereits erwähnte Besprechung von Simone Hirths Roman Das Loch von Anton Thuswaldner. Was junge Mütter und Väter erleben, auf welche Topoi und welche Literatur in diesem Briefroman angespielt wird – über all das scheint der Rezensent derart schlecht informiert, dass er weder Hintersinn, noch Witz erkennen kann. Fragt sich, warum ausgerechnet er diesen Titel rezensierte (und warum die FAZ eine derart inkompetente Besprechung, in der nicht mal der Versuch gemacht wird, etwas literarisch und kulturell einzuordnen, dann durchwinkt und druckt).

In einem dritten Schritt werden in solchen Rezensionen schließlich Stil, Sprache und Form abgewertet, allerdings – interessante Gemeinsamkeit –, ohne dass nach einer möglichen Bedeutung überhaupt gesucht würde. Gern werden dann reihenweise Beispiele herausgepickt und oberlehrerhaft berichtigt, wie Reents es tut: „“Am Abend schließt sie die Haustür von innen ab“ – das sollte jeder Verfolgte tun. „Der Alkohol ist süß und kräftig“ – eine chemische Unmöglichkeit, gemeint ist Likör.“

Pingelige Besserwisserei statt Literaturkritik – bei Ausweichmanövern dieser Art muss man sich fragen: Können die Kritiker die ästhetischen Strategien der Autorinnen nicht verstehen, oder wollen sie nicht? Eins macht ein genauerer Blick auf diese Rezensionen jedenfalls klar: Aus dem Nichtverstehen resultiert kein Verstehenwollen. Die Fragezeichen werden zwar wahrgenommen, es wird ihnen aber nicht nachgegangen. Statt einer angemessenen Auseinandersetzung gibt es nur oberflächliche Betrachtungen, formale Mittel werden genauso wenig eingeordnet wie die Stoffe und Motive der Autorinnen. Dafür fällt das Urteil um so schärfer aus. Da würden „laufend Nichtigkeiten aufgebauscht, Triviales macht sich wichtig“ (Reents), da sei ein Buch „banal und oberflächlich“ (Scheck).

Was ist daran misogyn?

Der Ausschluss von weiblichen Texten aus der Sphäre der ‚hohen Literatur’ läuft, historisch betrachtet, seit dem ersten in Deutschland von einer Frau veröffentlichten Roman ganz wesentlich über die Abqualifizierung der Themen, die angeblich nicht literaturfähig seien. [7] Das begann mit Sophie von LaRoche, und bewährte sich noch in den Neunzigerjahren, als das Literarische Quartett dem Debütroman von Marlene Streeruwitz aufgrund seines Themas absprach, Literatur sein zu können; und es funktioniert bis heute. [8]

Der andere Klassiker, ohne den kaum ein Kritiker auskommt, ist der Kitschvorwurf. Reents findet, die Gefühle von Hermanns Protagonistin seien „früher im Übrigen etwas für Kitschromane“ gewesen, Drees stellt in seiner Besprechung von Miroloi einen Bezug zu „Schnulzen, Schmonzetten und Erbaulichkeitstraktaten“ her, Scheck urteilt über Ohde: „Das ist reiner Sozialkitsch.“ Und in seinem Totalverriss von Julia Francks Roman Rücken an Rücken diagnostizierte Hubert Winkels nicht nur „spektakuläres“ Scheitern und „maximales erzählerisches Unglück“, sondern fand auch „Kunsthandwerk der sprödesten und ödesten Art“ und die „literarischen Mittel des Kitsches“. [9] Dabei findet die Banalisierung allzu oft in den Köpfen der Kritiker statt, die Bezüge nicht erkennen, Texte unterschätzen und es aus lauter „Ärger“ (Scheck, Reents) vermeiden, sich genauer mit ihnen zu befassen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, pauschal zu behaupten, die Rezensionen hätten positiv ausfallen müssen. Natürlich dürfen Romane verrissen werden, auch die von Frauen. Es geht darum, dabei Persönliches und Ästhetisches nicht derart zu vermengen und dabei frauenfeindliche Klischees zu reproduzieren. Es geht darum, dass die Auseinandersetzung zu oft nicht angemessen ist, weil die Kritiker Traditionen weiblichen Schreibens nicht kennen, weil sie ihre LeGuin und ihre Atwood nicht gelesen haben, weil sie sich mit diesen Themen und Formen nicht beschäftigen. Es geht darum, dass Kritiker, die oberflächlich aburteilen und verärgert persönliche Verrisse produzieren, ihre Arbeit nicht tun.

„Mir fehlt in der Debatte um weibliche Kunst und Weiblichkeit im Öffentlichen immer ein einziges Wort“, sagt Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek: „Verachtung.” “Seltsamerweise spricht es nie jemand aus, nicht einmal Feministinnen, vielleicht weil sie es sich nicht eingestehen wollen, doch es ist bezeichnend für das, was die Frau für ihre Arbeit bekommt, auch wenn das eben nie ausgesprochen wird. Die Verachtung des weiblichen Werks.“ [10]

David Hugendick von der ZEIT äußerte kürzlich im DLF-Kultur-Podcast Lakonisch Elegant, er glaube, die Geste des Großkritikers, der von einem Werk gelangweilt sei und es im großen Schwung aburteile, sei vorbei; die Literaturkritik bewege sich inzwischen eher in Bereichen, wo auch mal gezweifelt oder das eigene Urteil als vorläufig anerkannt werde, wo auch aktiv über die eigene Perspektive auf ein Buch nachgedacht werde. [11] Diese respektvolle Art der Literaturkritik gibt es natürlich auch. Es gibt aber auch immer noch die Kritiker, die auch persönliche Angriffe der übelsten Sorte nicht scheuen. (Auch wenn man darüber streiten kann, ob das noch Literaturkritik ist.)

Dass Frauen Romane schreiben können und dafür Literaturpreise erhalten, zieht heute keine Artikel über angebliche „Fräuleinwunder“ mehr nach sich, wie noch in den Neunzigerjahren. [12] Aber gerade die besonders erfolgreichen Autorinnen müssen damit rechnen, extra heftig attackiert zu werden. Zufall? Die Philosophieprofessorin Kate Manne sieht genau hier einen Zusammenhang:

Misogynie, die in einer Kultur latent vorhanden war oder schlummerte, kann sich manifestieren, wenn die Fähigkeiten von Frauen deutlicher zutage treten und daher demoralisierender und bedrohlicher wirken. Daraus können mehr oder weniger subtile Formen von Angriffen, Moralismus, Wunschdenken und bewusster Verleugnung erwachsen wie auch jene Art unterschwelliger Ressentiments, die unter der Oberfläche schwären und an Sündenböcken und Abbildern zum Ausbruch kommen. [13]

Verdrängte Traumata und der öffentliche Diskurs

Ebenfalls kein Zufall dürfte es sein, dass diese Verrisse sich überwiegend Büchern widmen, in denen spezifisch weibliche Lebensumstände oder gesellschaftliche Missstände geschildert werden, wie die ungerechte Verteilung von Sorgearbeit oder Formen von Rassismus und Sexismus. Allen Besprechungen gemein ist, dass diese Probleme inhaltlich nicht aufgegriffen, sondern abgewehrt und als Vorwurf an die Protagonistin zurückgespielt werden.

Hajo Steinert warf Marlene Streeruwitz damals im Literarischen Quartett vor, ihre Beschreibung des Alltags, der Gedanken und Gefühle ihrer Protagonistin sei „Nabelschau, purer Narzissmus, Exhibitionismus“. Und Anton Thuswaldner stört sich daran, dass Simone Hirths Figur sich mit ihrem „verkniffenen Lamento“ „gleich an die ganz Großen“ wende mit ihren Briefen. Sie ist ihm nicht „bescheiden“ genug, „jedem wirft sie sich an den Hals, um mitzuteilen, wie arm sie dran ist“, und nie gehe es um die anderen! Ganz ähnlich findet Scheck es „wirklich unerträglich, dass diese Ich-Erzählerin die Gründe für ihr soziales Scheitern, für ihr berufliches Scheitern als Schülerin überall sucht, nur nie bei sich selbst“. „Unglaublich larmoyant“ sei sie, und eben das mache „das Schreckliche an diesem Buch“ aus, „weil Entschuldigung, wir leben hier in einer Gesellschaft, die eine große Möglichkeit des Aufstiegs einräumt“.

Darum geht es also. Daher der Furor, deshalb konnte die Kritik nicht weniger heftig ausfallen. Schecks zentraler Einwand gegen das Buch, das für ihn so „Unerträgliche“ ist die (vermeintliche) Anspruchshaltung, ist die Undankbarkeit dieser autofiktionalen Frauenfigur, die die Schuld für etwaige Missstände gefälligst bei sich selbst suchen soll. Sollte dem Kritiker tatsächlich vor lauter Ärger entgangen sein, dass es in Deniz Ohdes Buch nicht nur um Ausgrenzung geht, sondern eben darum, was das Fortkommen ihrer Protagonistin so schwierig macht und sogar zentral darum, wie ihr eigenes Verhalten dazu beiträgt und woher es rührt?

Wenn die Abwehr so groß ist, wenn ein Buch, wie in den hier zitierten Kritiken, so radikal niedergeschrieben und ihm noch die Berechtigung abgesprochen wird, überhaupt veröffentlicht zu werden (Thuswaldner über Hirth), dann wird es um mehr gehen, als um seine „Qualität”. Der Literaturwissenschaftler und Kanonforscher Todd McGowan hat sich mit der Frage beschäftigt, warum bestimmte Werke, die inzwischen zum Kanon der amerikanischen Literatur gehören, lange Zeit über nicht einbezogen wurden. Seine Antwort: Weil die in den Werken von Frauen und Schwarzen, von BIPoC und LGBTQIA beschriebenen Traumata sich mit der Weltsicht derjenigen, die den öffentlichen Diskurs beherrschten, nicht vereinbaren ließen. Weil diese sich mit dem Erzählten auch inhaltlich hätten beschäftigen müssen, wären die Werke schon früher für wert befunden worden, besprochen und gelehrt zu werden.

Ein Umdenken fand erst statt, als im Zuge der Bürgerrechtsbewegung Textzeugnisse wie slave narratives wieder gedruckt und gelesen wurden – Textzeugnisse, die keinesfalls aus diffusen Gründen in Vergessenheit geraten sind, vielmehr seien sie aktiv verdrängt worden. Denn andernfalls hätte eine Auseinandersetzung mit diesen Bereichen der Geschichte stattfinden und eine ethische Verantwortung übernommen werden müssen. Vor dem Hintergrund der Sklaverei, der Kolonialgeschichte und der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau war der Ausschluss dieser „anderen“ Stimmen demnach immer schon politisch begründet, ist die ästhetische Begründung immer schon eine politische. [14]

Das politische Ziel hinter der (überwiegend dünnen) ästhetischen Argumentation der hier zitierten Verrisse scheint es, die gerade an Renommee und Einfluss gewinnenden Autorinnen einzuschüchtern, zu entmutigen und aus der intellektuellen Öffentlichkeit zu vertreiben. Wo Autorinnen lächerlich gemacht werden, wo über sie gesagt wird, sie könnten nicht denken, hätten nichts zu sagen und könnten nicht schreiben, ihre Bücher wären besser nicht veröffentlicht worden, da wird nicht nur dem Publikum gesagt: Das ist nichts! Nicht lesen, nicht ernst nehmen! Wo so persönlich und aggressiv geurteilt wird, da werden auch die Autorinnen selbst angesprochen: Was du zu sagen hast, interessiert nicht. Was du schreibst, ist nichts wert. Du hast hier nichts zu suchen. Halt den Mund. Schweig!

Folgen für die Autorinnen

Und genau das ist der Inbegriff der Misogynie. Denn der Begriff bezeichnet, so erklärt es Kate Manne, nicht den Frauenhass einzelner Personen, sondern ein System innerhalb der patriarchalen Gesellschaftsordnung, das Frauen kontrolliert und unterwirft, in die Schranken weist, zum Schweigen bringt. Und zum Teil gelingt das auch, in jedem Fall hat es Folgen. Marlene Streeruwitz nennt solche Vorgänge unmissverständlich den „Versuch der Vernichtung“. Das sei „ein Überlebenskampf“ gewesen, „ob ich als Autorin danach überhaupt noch einen Atemzug tue“, sagt sie über den Verriss ihres ersten Romans im Literarischen Quartett wie über spätere Vorfälle:

Wenn’s ganz schlimm hergegangen ist und der Ausweg der Selbstvernichtung so verführerisch war, dann hab ich mir immer gesagt „Die dürfen dich nicht kriegen“, und „die“ sind so eine patriarchale Instanz, die sich in einzelnen Personen äußert. Das ist mir gelungen. Die haben mich nicht gekriegt. [15]

Die Schärfe solcher Attacken macht es in einzelnen Fällen fast unmöglich, eine gesunde Distanz zu der Kritik einzunehmen und gleichzeitig beim Schreiben zu bleiben. Judith Hermann weiß die vernichtenden Urteile offenbar einzuordnen und hat einen Umgang damit gefunden. Sie stellt fest, dass ihr erster, von Reents so verrissener Roman von einer Frau erzählt, die autonom sei, die nur noch Rücksicht auf sich selbst nehme, die fortgehe. Das provoziere. „Aber alles in allem glaube ich, dass es, wenn die Kritik so harsch und heftig wird, mehr um meine Person geht als um meine Bücher.“ [16]

Welche Möglichkeiten haben die Autorinnen, darauf zu reagieren? In der Kulturratsstudie Frauen und Medien von 2016 sagt Julia Franck:

Diese Ignoranz, diese männliche Rezeptionsignoranz von weiblicher Kunst oder Literatur, die kann man als weibliche Künstlerin oder Literatin nur ganz schwer anprangern und etwas dagegensetzen, ohne sich selbst dabei beleidigt vorzuführen, ohne in die Ecke der Feministinnen abgedrängt zu werden und damit nur noch mehr geschlechtlich und eben nicht mehr ästhetisch wahrgenommen zu werden. [17]

Also schweigt sie.

Der zweite Roman der Autorin Katharina Hartwell wurde von einem Kritiker so heftig verrissen, dass sie seitdem keine literarische Belletristik für Erwachsene mehr schrieb. Ohne Vorwarnung stieß sie, wie sie mir erzählte, auf Facebook zwischen Hochzeitsfotos der Verwandtschaft auf den Link eines Kritikers zu seiner vernichtenden Besprechung ihres Buches. Unter diesem Post entwickelte sich eine Diskussion, an der sich unter anderem weitere Kritiker beteiligten. Dort las sie zum Beispiel, sie könne „ja nicht mal deutsche Sätze schreiben“. Das Gehässige daran, dieses Absprechen jeder Kompetenz bewog sie, erstmal aufs Jugendbuch auszuweichen. Und da die Kinder- und Jugendliteratur, anders als die Höhenkammliteratur, von jeher als Domäne der Frauen gilt, dürfte sie dort vor derart harscher Kritik auch sicher sein.

Als besonders unangenehm wird von sämtlichen Autorinnen, mit denen ich über das Thema gesprochen habe, empfunden, dass sie auf Messen und Veranstaltungen zugleich von Kritikern (vermeintliche) Komplimente bekommen oder angemacht werden. Dass Autor*innen auf die Literaturkritik angewiesen sind und es im Fall junge Autorin / etablierter Kritiker ein beträchtliches Machtgefälle gibt, wird da im besten Fall übersehen, im schlechtesten ausgenutzt. Oder wie ist es zu verstehen, wenn ein Kritiker einer Autorin, der er noch nie begegnet ist, nachts über Facebook die Nachricht schreibt, er habe gerade ihr Buch gelesen, das er am nächsten Tag besprechen werde, und habe das Gefühl, seiner neben ihm schlafenden Freundin soeben fremdgegangen zu sein? So ist es Isabelle Lehn passiert, wie sie im persönlichen Gespräch berichtete. Ihr autofiktionaler Roman Frühlingserwachen spielt mit den Grenzen zwischen Autorin und Protagonistin – nur ist das kein Freibrief für Grenzüberschreitungen dieser Art.

„Der Zutritt der Frauen in die Medienwelt“ sei „eine von Mannes Gnaden“, schrieb Iris Radisch 2010: „Natürlich gibt es auch in der Medienwelt so etwas wie Frauenförderung. Doch ist sie hier, was sie in der Männerwelt meistens ist – eine Art erweitertes Balz- und Brutpflegeverhalten. Und das ist beinahe auch schon alles, was junge Frauen von der Medienwelt erwarten können.“ [18] Das ist über zehn Jahre her, und inzwischen sind Frauen im Literaturbetrieb noch mal präsenter und erfolgreicher als damals und treten dementsprechend selbstbewusst auf. Aber gerade ihr Erfolg provoziert – immer noch und immer mehr, das zeigen auch die erstarkenden antifeministischen Bewegungen in der Gesellschaft. Ein professioneller Umgang damit fällt nicht jedem Kritiker leicht. Die Misogynie in der Literaturkritik reicht von persönlichen Attacken in Form von Rezensionen bis zu Machtmissbrauch und Übergriffigkeiten. Es ist an der Zeit, dafür ein Bewusstsein zu schaffen und darüber zu reden. Oder um es mit der Autorin Simone Buchholz sehr bedient und sehr freundlich zu sagen: „Ach Jungs, achtet doch auf die Feinheiten! Beziehungsweise die Grobheiten.“ [21]

[1] Takis Würger, „Überzeugungstäterin“, in: Der Spiegel, Nr. 39, 22.09.2018

[2] Edo Reents, „Stella oder das Märchen vom Stalker“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.08.2014

[3] Denis Scheck im SWR Lesenswert Quartett vom 20.12.2020

[4] Jan Drees, „Klagelied für die Literatur“, Deutschlandfunk 19.08.2019

[5] Anton Thuswaldner, „Was einem da entgegenzwitschert“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.08.2020

[6] Moritz Baßler, „Schönheit, Stil und Geschmack“, in: taz, 19.08.2019

[7] Renate von Heydebrand / Simone Winko, „Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und Systematische Überlegungen“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 19. Bd. 1994, 2. Heft

[8] Hajo Steinert und Marcel Reich-Ranicki in Das Literarische Quartett, ZDF, vom  13.06.1996

[9] Hubert Winkels, „Geisterbahn DDR“, in: Die Zeit, 03.11.2011

[10] Elfriede Jelinek, „Verachtung“, in: Ilka Piepgras (Hg.), Schreibtisch mit Aussicht, Zürich / Berlin: Kein und Aber 2020

[11] David Hugendick in „Wie bespricht man Vielfalt?“, Lakonisch Elegant, Der Kultur-Podcast, DLF Kultur, 14.01.2021

[12]  Volker Hage, „Ganz schön abgedreht“, in: Der Spiegel, Nr. 12, 22.03.1999

[13] Kate Manne, Down Girl, Die Logik der Misogynie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2019, S. 177

[14] Todd McGowan, The Feminine „No!“, Psychoanalysis and the New Canon, Albany. State University of New York 2001

[15] Marlene Streeruwitz, „Das war der Versuch der Vernichtung“, www.nachtundtag.blog 27.06.2020

[16] Judith Hermann im Gespräch mit Julia Encke, „Ich bin von jeder Ankunft weit entfernt“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.05.2016

[17] Julia Franck in: Frauen in Kultur und Medien, Deutscher Kulturrat e.V. (Hg.), Berlin 2016

[18] Iris Radisch, „Die alten Männer und das junge Mädchen“, in: Die Zeit, 18.02.2010

[19]  Simone Buchholz im Gespräch mit Sigrid Neudecker, „Es muss so fantastisch sein, einen Penis zu haben“, in: Die Zeit, 21.01.2019

 

Der Text ist ein Auszug aus Nicole Seiferts Buch „FRAUENLITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“, das im September 2021 bei KiWi erscheinen wird.

 

Photo by Markus Spiske