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„Ich darf das!“ – Warum Meinungsfreiheit kein Selbstzweck ist

von Simon Sahner

Vor einiger Zeit gab Elon Musk dem US-amerikanischen Journalisten David Faber ein Interview in den Werkshallen von Tesla. Gerade war die jährliche Aktionärsversammlung zu Ende gegangen. Im Verlauf des einstündigen Gesprächs fragte Faber den CEO von Twitter, warum er wiederholt Statements poste, die außerordentlich kontrovers seien und den Eindruck erweckten, er sei unter anderem antisemitisch eingestellt oder hänge Verschwörungserzählungen an, und die ihn so ins Zentrum einer großen gesellschaftlichen Auseinandersetzung rückten. Das würde doch vermutlich seinen Unternehmen schaden.

Musk schaute irritiert, er zögerte, begann unsicher zu sprechen und sagte dann, immer noch sichtlich überrascht von der Frage: „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Auf Nachfrage des Journalisten, der ihm versicherte, dass er absolut das Recht habe, seine Meinung zu sagen, war Musk immer noch erkennbar verwirrt, schwieg fast zehn Sekunden, setzte wieder an, schwieg dann erneut und antwortete schließlich sinngemäß, ihm sei jede Konsequenz egal, er sage, was er will, weil er es darf.

Zehn Tage später twitterte Musk eine Karikatur, in der eine große Hand eine Menge sehr kleiner Menschen niederdrückt, daneben der Schriftzug „Um zu verstehen, wer über dich herrscht, finde einfach heraus, wen du nicht kritisieren darfst.“ Laut der Karikatur stammt das Zitat von Voltaire, dem großen Philosophen der europäischen Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert. Das ist nachgewiesenermaßen falsch, vielmehr stammt die Aussage von dem US-amerikanischen Neo-Nazi und Holocaust-Leugner Kevin Alfred Strom. Solche falschen Voltaire-Zitate sind nicht weiter ungewöhnlich. Es scheint vielmehr eine nicht unübliche Praxis zu sein, dem bekannten Philosophen Aussagen zuzuschreiben, um ihn dann als Gewährsmann für das unbedingte Recht auf freie Meinungsäußerung zu nutzen. Der berühmteste Fall ist mit Sicherheit „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ Wahrscheinlich liegt der Ursprung dieser Fehlzuschreibung bei der Autorin Evelyn Beatrice Hall, die Voltaire in ihrer Biografie über den Aufklärer so zitiert, um seine Haltung zur Meinungsfreiheit pointierter zu formulieren, als es der Philosoph selbst getan hatte.

Das Heiligtum der aufgeklärten Gesellschaft

In diesen beiden beispielhaften Äußerungen von Elon Musk, der sich selbst wiederholt als „free speech absolutist“ bezeichnet hat, liegt meines Erachtens eine Aussage darüber, in was für eine schwierige Situation Meinungsfreiheit als Wert geraten ist, und darüber, was diese Situation über aktuelle gesellschaftliche Konflikte aussagt. Denn was für eine Bedeutung hat der Begriff Meinungsfreiheit für unser Zusammenleben in einer Kultur und einer Gesellschaft noch, wenn seine Erwähnung schon ausreichen soll, potenziell antisemitische und verschwörungstheoretische Aussagen eines Multimilliardärs zu rechtfertigen? Sich auf Meinungs- und Gedankenfreiheit, auf Philosophen der Aufklärung, auf populäre Freiheitslieder und am Ende beinahe immer auf George Orwells 1984 zu berufen, scheint inzwischen vor allem die Indienstnahme von kulturellem Kapital zu sein. Wenn Musk das vermeintliche Voltaire-Zitat postet, postet er das kulturelle Kapital der Aufklärungsbewegung gleich mit. Und wer sich auf diese und andere Größen der Aufklärungsgeschichte beruft, kann – so der Gedanke – nicht ganz falsch liegen.

Aber der Reihe nach. Die Meinungsfreiheit ist nicht zu Unrecht das Heiligtum der demokratischen, liberalen und aufgeklärten Gesellschaft. Geboren aus der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts und den Barrikadenkämpfen der Französischen Revolution, legt das Recht auf freie Äußerung der Meinung den Grundstein für jede Gesellschaft, die sich als demokratisch bezeichnet. Ein Staat, in dem dieses Recht nicht grundsätzlich garantiert ist, kann nicht frei und demokratisch sein. Der literaturgewordene Schlachtruf dazu stammt von Friedrich Schiller aus dem Drama „Don Karlos“, in dem der Marquis von Posa an König Philipp II. von Spanien gerichtet ausruft „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Aus der gleichen Zeit stammt wohl ursprünglich der Text zu dem Lied „Die Gedanken sind frei“, das derzeit als Hymne zahlreicher Verschwörungsbewegungen missbraucht wird.

Es lässt sich generell beobachten, dass Meinungsfreiheit und die dahinterstehenden Werte der Aufklärung derzeit nicht zuletzt von denjenigen mit Inbrunst hochgehalten werden, die sich dafür rechtfertigen wollen, ignorant oder rücksichtslos zu sein. Das gilt für Leugner*innen der Klimakrise ebenso wie für Boris Palmers Auftritt bei der so genannten Migrationskonferenz Anfang Mai in Frankfurt. Mit beeindruckender Penetranz wiederholte Palmer dort das N-Wort vor protestierenden Student*innen ebenso wie später erneut auf der Bühne der Konferenz, schlicht weil er das Recht dazu hat. Mit der gleichen Haltung werden wissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet, Menschen diskriminiert und beschimpft. Der Satz „Das ist meine Meinung.“ ist zur Universalrechtfertigung geworden, jedem alles zu sagen und alles zu behaupten. Dabei entsteht der Eindruck, viele dieser Dinge würden nicht zuletzt deshalb gesagt und behauptet, um zu demonstrieren, dass man sie sagen darf. Wenn Palmer vor mehreren nicht-weißen Student*innen ohne erkennbaren Grund das N-Wort wiederholt, dann handelt es sich dabei rein um die Demonstration seines Rechts, genau das zu tun – Meinungsfreiheit wird zum Selbstzweck.

Freiheit trotz juristischer Grenzen

Das Recht soll und darf ihm juristisch auch nicht verwehrt werden. Genauso wenig darf grundsätzlich rechtlich verboten werden, faktisch falsche Ansichten zu verbreiten. Gleichzeitig gibt es aber auch in einem Staat mit Meinungsfreiheit wie Deutschland juristische Grenzen. Beleidigungen können beispielsweise Strafen nach sich ziehen, gleiches gilt für den Tatbestand der Volksverhetzung, der unter anderem die Leugnung der Shoa miteinschließt. Meinungsfreiheit ist also selbst in einem freien, demokratischen Staat, in dem keine Zensur ausgeübt wird und das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, zumindest juristisch gesehen kein Selbstzweck. Dennoch kann man festhalten, dass hierzulande erst einmal fast alles gesagt oder anderweitig geäußert werden kann. 

Wie sehr diese Tatsache aber inzwischen in Vergessenheit geraten ist oder generell in Abrede gestellt wird, offenbarte vor wenigen Tagen erst der vielleicht beliebteste deutsche Fußballtrainer Jürgen Klopp. In einem langen Gespräch im Podcast Hotel Matze äußerte er seine Sorge um Meinungsfreiheit, insbesondere für Menschen in den Medien. “Wer hat denn die Freiheit, zu sagen, was er will?”, fragte er mit Blick auf Comedians unter anderem wie Dieter Nuhr. An solchen Äußerungen lässt sich ablesen, welche Verschiebung eines zentralen Begriffs stattgefunden hat. Die Meinungsfreiheit von Dieter Nuhr, der eine Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat, und allen anderen steht außer Frage. Meinungsfreiheit geht gerade auch in Deutschland mitunter sogar sehr weit.

Das gilt zum Beispiel auch für Produktion und Verkauf von sternförmigen Aufklebern, auf denen auf gelbem Hintergrund die Aufschrift „Dieselfahrer“ abgebildet ist und die an die so genannten Judensterne erinnern. Die Staatsanwaltschaft Halle stellte eine Anzeige gegen den Verkauf dieser Aufkleber mit der Begründung ein, es handle sich um eine zulässige, frei geäußerte Meinung. Unabhängig davon, wie in den Rechtswissenschaften solche Fälle diskutiert werden, kann man also feststellen: Das Grundgesetz hält, die Meinungsfreiheit steht, eine Zensur findet nicht statt. Von einem juristischen Standpunkt aus, würden das selbst diejenigen, die ihre Meinungsfreiheit bedroht sehen, wohl kaum bestreiten. Vielmehr fühlen sie sich von einer gesellschaftlichen Stimmung angegriffen, die mit harscher Kritik und Protest reagiert, wenn das N-Wort ausgesprochen oder geschrieben wird, wenn sich erwachsene Menschen als amerikanische Ur-Einwohner*innen verkleiden oder wenn trans Menschen ihre Identität oder gleich ihre Existenz abgesprochen wird. Man dürfe ja nichts mehr sagen, man traue sich ja gar nicht mehr auszusprechen, was man denkt, man betreibe Selbstzensur – es herrscht die „Cancel Culture“ und Deutschland ist „Wokeistan“. Das erscheint nicht zuletzt deshalb absurd, weil diejenigen, die meisten Menschen, die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen, gesamtgesellschaftlich weiterhin in der Mehrheit sind und die Machtpositionen der Gesellschaft innehaben. Dennoch sind es nicht zuletzt oft Politiker*innen in eben jenen Machtpositionen, die vor “Cancel Culture” und der so genannten “Wokeness” warnen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verkündete beispielsweise stolz, in Bayern dürfe man – anders als in Berlin – “sagen und singen, was man will”. Dass seine Partei im Bundestag sitzt und de facto auch ohne Regierungsbeteiligung Macht hat, spielt offenbar keine Rolle. Bei der Freiheit, alles sagen zu dürfen, ging es zwar immer schon um Macht; allerdings vor allem darum, keine Angst haben zu müssen, sich gegen die Mächtigen zur Wehr zu setzen. 

Eine einfache Forderung

Dabei kann man sich durchaus und mit Recht fragen, wo eigentlich das Problem liegt. Menschen, die Diskriminierung erleben, sagen anderen, verwendet bitte nicht dieses oder jenes Wort, macht keine Witze über uns, nehmt uns ernst, erkennt unsere Identität an, sonst verletzt ihr uns. Letztlich steckt hinter dem gesamten Diskurs ein berechtigter Anspruch auf Rücksichtnahme, auf einen Wert also, der essentiell ist für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Und hier kommt wieder die Aussage von Elon Musk ins Spiel „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Denn, wo das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, herrscht noch kein Zwang zur Meinungsäußerung. Genauso wie Musk mit Blick auf seine ökonomischen Interessen darauf verzichten könnte, Verschwörungserzählungen zu äußern, also sich selbst nicht zu schaden, könnten andere Menschen aus Rücksichtnahme auf andere auf das N-Wort verzichten oder darauf einer trans Frau zu sagen, sie sei in Wahrheit ein Mann. Sie könnten darauf verzichten, anderen zu schaden, indem sie Rücksicht nehmen.

Diese Form der Selbstbeherrschung, die manche als Selbstzensur empfinden, ist ein grundlegender Bestandteil unseres Zusammenlebens. Niemand sagt immer alles, was er denkt und meint, darauf haben wir uns als Gesellschaft geeinigt, auch wenn wir es nicht durch Gesetze geregelt haben. Die meisten von uns würden ihrem Unmut über langes Warten nicht lautstark Ausdruck verleihen. Auch wenn wir der Meinung sind, dass die Person an der Kasse gerade richtig lahmarschig arbeitet. Die meisten von uns sagen auch fremden Menschen im Aufzug nicht, dass wir ihr Outfit ausgesprochen geschmacklos finden und dass der Pickel auf ihrer Nase richtig eklig aussieht, auch wenn das unsere Meinung ist. Meinungen sind teilweise unverschämt, beleidigend und sogar falsch und es gehört zu den Grundregeln zwischenmenschlicher Kommunikation und einem funktionierenden gesellschaftlichen Zusammenleben nicht alles zu sagen, was man denkt und meint, auch wenn man es darf. Letztlich geht es dabei um Anstand und Respekt, Werte, die gerade in konservativeren Kreisen immer wieder gefordert werden. Es hätte aber auch mit Anstand und Respekt zu tun, auf das N-Wort zu verzichten, sich nicht als amerikanischen Ureinwohner zu verkleiden oder anzuerkennen, dass auch Menschen, die nicht der eigenen Vorstellung von Männlichkeit entsprechen, männlich sein können. Denn letztlich geht es dabei um nichts anderes als darum, andere Menschen nicht zu verletzen.

Die absolute Freiheit des einen ist die Einschränkung des anderen

Deswegen erscheint der Kampf, den derzeit viele um Meinungsfreiheit führen, in sein Gegenteil verkehrt worden zu sein. Der zentrale Wert der Aufklärung wird zum Instrument, um die Freiheit diskriminierter Gruppen zu beschneiden. Die Freiheit, das N-Wort zu sagen, geht am Ende zu Lasten der Freiheit der Menschen, die dadurch verletzt werden. Sich mit Elementen anderer Kulturen zu verkleiden, ohne deren Bedeutung zu respektieren oder gar zu kennen, greift in die Freiheit der Menschen ein, ihre Identität und Kultur in ihrem Sinne zu repräsentieren. Man kann also tatsächlich nicht ohne Konsequenzen alles sagen oder tun, was man möchte. Das kann auch zu Unsicherheit führen und zur Angst davor, das Falsche zu sagen. Wer das aber als Einschränkungen der Meinungsfreiheit deklariert, verkennt die Komplexität von Freiheiten. Es ist eine der größten Herausforderungen, die es für eine Gesellschaft geben kann, das Zusammenleben so zu gestalten, dass möglichst vielen Menschen, möglichst viele Freiheiten zukommen. Deswegen ist es so elementar, dass Freiheiten mit Verantwortung, Respekt und Rücksicht verbunden werden. Es kann deswegen hilfreich sein, sich zu fragen, warum man etwas sagen oder tun möchte, und was passieren würde, wenn man darauf verzichtet. Denn Freiheiten sind meistens eine Sache der Aushandlung, die auf der Überlegung basiert, welche Konsequenzen die freiwillige Einschränkung der eigenen Freiheit hätte. Man kann sich fragen, ob der Verzicht auf ein Wort, für das es einen Ersatz gibt, wirklich schwerer wiegt, als die Freiheit anderer. Oder ob die eigene Auswahl eines Kostüms relevanter ist, als die Repräsentation einer Kultur. Ebenso kann man, bevor eine Aussage trifft, für einen Moment innehalten und die eigene Meinung in Frage stellen. Es sollte nicht zu viel verlangt sein, auch lang gehegte Ansichten oder vermeintliches Wissen zu hinterfragen. Wenn die Antwort auf diese Frage dann lediglich darin besteht, zu sagen “Ich darf das“, hat man es sich wahrscheinlich zu leicht gemacht. 

Es kann also gute Gründe geben, nicht alles zu sagen, was man sagen will. Dazu gehören rein egoistische Gründe, wie, dass man seine Anleger*innen und Werbekund*innen nicht verprellen will, ebenso wie, dass man anderen Menschen durch eigene Aussagen kein Leid zufügen will. Selbst die elementarsten Freiheiten, die juristisch garantiert sind, stehen im Kontext eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, das nur mit Rücksichtnahme funktionieren kann. Die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung vorzuschieben, um einfach alles zu sagen, was man sagen möchte, egal, welchen Schaden man damit anrichtet, zeugt hingegen von Respektlosigkeit gegenüber den Werten von Freiheit und Demokratie. Dadurch verkommt eine der zentralsten Voraussetzungen für eine freie Gesellschaft zu einer leeren Hülle, unter der sich jeder verstecken kann, der sich angegriffen fühlt, weil ihm Kritik oder Widerspruch entgegenschlägt, oder dem gesagt wird, seine Äußerungen seien diskriminierend. Das ist nicht nur den Menschen gegenüber respektlos, die diskriminiert werden oder denen ihre Identität abgesprochen wird, sondern auch denen gegenüber, die in repressiven und diktatorischen Staaten wie dem Iran oder China darum kämpfen, nicht für ihre freie Meinungsäußerung verfolgt, gefoltert und getötet zu werden. Denn auch wenn Voltaire vieles nicht gesagt hat, was ihm zugeschrieben wird, dürfte sein Verständnis von Meinungsfreiheit vor allem darauf gezielt haben, gegen staatliche Unterdrückung vorzugehen.

Übrigens ist Voltaire trotzdem kein guter Gewährsmann für Freiheit und Demokratie. Seine Schriften sind voll von zweifelsfrei antisemitischen und zutiefst rassistischen Aussagen, die heutzutage vermutlich sogar unter Volksverhetzung laufen würden und nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt wären. Voltaire dürfte heute wirklich nicht alles sagen, was er meinte, und selbst das wäre richtig so. Man muss – um Evelyn Beatrice Hall Aussage zu variieren – wahrlich nicht für jede Meinung bereit sein zu sterben.

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Taliban, Reichsbürger, Nazis – Die Kritik an Klimaaktivist*innen hat sich radikalisiert

von Simon Sahner

Die Radikalisierung im Kampf um die Abwendung der Klimakatastrophe war lange befürchtet worden. Jetzt ist sie da. Im Streit um die aktuelle Aktion der sogenannten „Letzten Generation“ ist sie unübersehbar. Radikalisiert haben sich allerdings weniger die Aktivist*innen, sondern vielmehr ihre Kritiker*innen – jedenfalls auf einer verbalen Ebene.

Am vergangenen Wochenende hatten einige Vertreter*innen der „Letzen Generation“ das Denkmal „Grundgesetz 49“ an der Berliner Spreepromenade mit einer Flüssigkeit beschmiert, die sie selbst in Anführungszeichen als „Erdöl“ bezeichneten. Später stellte sich heraus, dass es sich um Tapetenleim und schwarze Dispersionsfarbe gehandelt hatte. Längst ist das Denkmal wieder sauber. Die unzureichende Klimapolitik, so die Aussage der Aktion, beschädigt unsere Grundrechte. Die Aktivist*innen inszenierten, was sie den Politiker*innen vorwerfen: Klimapolitik geht nicht weit genug und zerstört das, was unseren Staat und unser System zusammenhält. Das Grundgesetz verschwindet hinter den Wirtschaftsinteressen der Politik – dargestellt durch das „Erdöl“, das den Grundgesetzestext auf dem Denkmal unlesbar werden lässt. Das Grundgesetz per se war nie in Gefahr und sollte nicht zerstört werden, auch nicht symbolisch. Ein Akt, der in seiner Aussage relativ klar scheint – so klar, dass es beinahe überflüssig ist, ihn hier zu erläutern.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob einige Politiker*innen und Journalist*innen nicht Willens oder nicht in der Lage waren, diese Ebenen und die Aussage der Aktion zu erkennen. Sie demonstrierten jedenfalls vor allem eines: Eine rhetorische Radikalisierung. Frank Müller-Rosentritt, Bundestagsabgeordneter der FDP, warf den Aktivist*innen vor „gegen den Staat und gegen die freiheitlich, demokratische Grundordnung“ zu stehen und beschimpfte sie als „Abschaum“. Kristin Lütke, ebenfalls FDP, behauptete, die Verfassung sei mit Füßen getreten worden. Alexander Throm von der CDU äußerte, die „Letzte Generation“ habe ihre „Missachtung gegenüber unserem Grundgesetz deutlich gemacht.“ Noch einen Schritt weiter trieb es der SPD-Abgeordnete Michael Roth, der der „Letzten Generation“ vorwarf „ähnlich wie die Taliban“ Kunst zu zerstören. Der Journalist Nikolaus Blome wiederum befürchtete, als nächstes würden Bücher verbrannt und verglich die Klimaschützer*innen mit der Reichsbürger-Bewegung.

Drastische Vergleiche und Diffamierung

Man muss sich darüber wundern, dass anscheinend keine dieser Personen, deren Aufgabe es unter anderem ist, das alltägliche Theater des politisch-gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen, die Aussage der Aktion erkannt hat, oder besser: erkennen wollte. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie entweder bereits so voller Wut auf die Aktivist*innen sind, dass ihre Tweets und Äußerungen Kurzschlussreaktionen darstellen, oder dass sie selbst die gebotene Bühne für eine Inszenierung ihrerseits nutzen wollten. Die Vergleiche, die sie bemühten, könnten jedenfalls drastischer nicht sein. Mit den Bücher verbrennenden und Menschen vernichtenden Nationalsozialisten, den kulturzerstörenden und mordenden Taliban und den staatsfeindlichen Reichsbürgern stehen hier die Aktionen in einer Reihe mit Menschheitsverbrechen und rechtsrevolutionären Umsturzversuchen. 

Dass die Menschen hinter dem Protest gleichzeitig noch in menschenfeindlicher Überspitzung als „Abschaum“ bezeichnet werden, überdreht die verbale Eskalationsspirale vollständig. Die Masse an solchen verbalen Entgleisungen aus einem Umfeld, das einen Teil der Gewalten des Staates repräsentiert, ist erschreckend. Vor allem, weil sie als die Legitimierung einer Entwicklung erscheinen, die teilweise nicht mehr bei verbalen Attacken bleibt. Längst sind Klimaschützer*innen immer wieder das Ziel körperlicher Übergriffe und Gewalt. Mit wutentbrannten Gesichtern ziehen Autofahrer*innen Aktivist*innen von der Straße, treten nach ihnen oder fahren direkt auf sie zu, wobei Demonstrant*innen teilweise auch schon angefahren wurden. Auch die Schmerzgriffe, die die Polizei teilweise anwendet oder androht, reihen sich hier ein.

Die Aussagen der Politiker*innen und Journalist*innen befeuern damit eine Stimmung, die offenbar in Teilen der Bevölkerung herrscht und die gefährliche Ausmaße annimmt. Dabei sind die Vergleiche mit Nazis, Taliban und Reichsbürgern nicht nur haarsträubend, sie zeigen auch, wie die Klimaaktivist*innen bis in die höchsten Kreise des Staates und der Gesellschaft gesehen werden: Als Staatsfeinde und Terrorist*innen. Bisher war es meistens allerdings die RAF, zu der eine Linie gezogen wurde. Dass die „Letzte Generation“ mit der RAF nichts gemein hat, hat vor nicht allzu langer Zeit Bernd Ulrich in der ZEIT überzeugend erläutert. 

Auf dem Boden der demokratischen Grundordnung

Das gilt auch für alle anderen terroristischen Gruppen. Die Ziele der Aktivist*innen sind gerade nicht der Staat und unsere Grundrechte. Im Gegenteil, die Aktion vom Wochenende zeigt in ihrer Symbolik sehr deutlich, dass ihnen das Grundgesetz am Herzen liegt und sie es durch die Politik beschmutzt sehen. Während Reichsbürger und ehemals die RAF den Staat und seine demokratische Grundordnung zerstören wollen, will die „Letzte Generation“ genau das beschützen. Ihre Forderungen an die Politik stehen so zentral auf der Grundlage eines demokratischen Systems und fußen auf Respekt vor Politik und Demokratie, dass der Vorwurf der Staatsfeindlichkeit absurd erscheint.

Die Einführung eines Tempolimits von 100 km/h, ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket und einen Gesellschaftsrat, „der Maßnahmen erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 emissionsfrei wird“ – das ist alles. Durch die Erläuterungen dieser Forderungen zieht sich durchgehend der Respekt für demokratisch gewählte Politiker*innen als zentrale Wirkungsträger*innen für die Umsetzung dieser Forderungen. Die demonstrative Bereitschaft zur Diskussion, die auf der offiziellen Website der Bewegung beschrieben wird, ist beeindruckend und zeugt von einem grundsätzlichen Interesse an Debatten, das man auf Seiten ihrer Gegner*innen kaum findet. Explizit ist da die Rede davon, dass die Teilnehmenden an dem geforderten Klimarat „per Los gefunden“ werden sollen. „Veganer:innen und Autofans“ sollen gemeinsam zu Lösungen kommen.

Diskutieren statt Diffamieren

Die Forderungen kann man im Kern diskutieren und ob ein universelles Monatsticket jetzt 9€ oder vielleicht auch 19€ kosten könnte und auch ob das Tempolimit am Ende doch bei 120km/h liegt, wäre Verhandlungsmasse. Von einem Angriff auf Staat und Ordnung ist aber nirgendwo etwas zu sehen. Und das wissen auch diejenigen, die der „Letzten Generation“ genau das vorwerfen. Entscheidend ist vielmehr, dass die scharfe Verurteilung der Aktionen und die Parallelisierung mit Terror und Staatsfeindlichkeit vor allem zwei Effekte hat. Der eine ist das Schüren einer grundsätzlichen Wut in Teilen der Bevölkerung, die sich – nicht zu Unrecht – von der „Letzten Generation“ gestört fühlt. 

Viel sinnvoller und der Funktion von Politik angemessener wäre es, Brücken zwischen aufgebrachten Aktivist*innen mit nachvollziehbaren Anliegen und aufgebrachten Bürger*innen, die im Stau stehen, zu schlagen. Beispielsweise, indem man die Forderungen anerkennt, sie zur Debatte stellt und der Öffentlichkeit aufzeigt, dass die Ideen der „Letzten Generation“ grundsätzlich vor allem eines nicht sind: Absurde Vorschläge, die unsere Ordnung bedrohen.

Der zweite Effekt der verbalen Radikalisierung aus der Politik ist eine Absicherung der eigenen Position. Mit Terrorist*innen wird nicht verhandelt und mit Extremist*innen auch nicht. Wenn man also Menschen mit diskutierbaren Forderungen zu Terrorgruppen und extremistischen Organisationen erklärt, schließt man sie damit aus dem offiziellen Diskurs aus und muss sich zumindest auf einer Sachebene auch nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen. Anders als terroristische Vereinigungen, mit denen tatsächlich nicht debattiert werden sollte, respektiert die „Letzte Generation“ den Staat und seine demokratische Grundordnung allerdings auf einer ganz grundsätzlichen Ebene. Der erste Wert, den sich die „Letzte Generation“ auf die Fahne schreibt, ist Gewaltfreiheit in Verbindung mit einer Bestätigung des Rechtssystems: „Wir akzeptieren die Konsequenzen unserer Taten und stehen mit unserem Gesicht und unserem Namen dazu.“ Deswegen ist die Gleichsetzung mit der Reichsbürger-Bewegung auch faktisch falsch.

Wer schadet dem Klimaschutz?

Man kann von den Aktionen der „Letzten Generation“ halten, was man will, und ob die unterschiedlichen Formen des Protests jede für sich genommen legitim und sinnvoll ist, ist diskutabel. Ob es eine angemessene Geste ist, ein Denkmal mit Farbe zu beschmieren, das von einem israelischen Künstler zu Ehren des Textes geschaffen wurde, der die erste stabile Demokratie auf deutschem Boden hervorgebracht hat, ist zumindest fragwürdig. Dazu gehört aber auch die Wahrheit, dass hunderttausende Jugendliche bei den Protesten von Fridays For Future zwar ein neues Bewusstsein für Klimaschutz erzeugt haben, das jedoch nicht zu zentralen Politikwechseln geführt hat, die ausreichen würden, um die größten Auswirkungen der Klimakatastrophe abzuwenden. 

Der Vorwurf der Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die Aktion habe dem Klimaschutz geschadet, ist deswegen auch absurd. Dem Klimaschutz schadet in erster Linie die Politik, wenn sie nicht handelt und dazu gehört auch die Vermittlung notwendiger, unpopulärer Entscheidungen. Eine Bewegung zu diffamieren, deren Forderungen zumindest in ihrer vernünftigen Grundhaltung anerkannt werden könnten, schadet jedenfalls dem Klimaschutz mehr als die ein oder andere unbedachte Aktion, bei der außer materiellem Minimalschaden nichts passiert ist.

Man muss von Politiker*innen und Journalist*innen nicht erwarten, dass sie bei Protestaktionen, die Straßen blockieren und Denkmäler und Gemälde symbolisch beschmutzen – zerstört wurde keines – applaudierend daneben stehen. Man kann aber erwarten, dass ihre Kritik differenziert und angemessen ist und dass sie versuchen, sich konstruktiv mit dem auseinanderzusetzen, was solche Aktionen auslöst. Sonst sind es am Ende manche aus Politik und Journalismus, die sich vorwerfen lassen müssen, einen Diskurs radikalisiert und dem Klimaschutz geschadet zu haben.

Foto von Markus Spiske auf Unsplash