von Nicholas Glastonbury
im Original erschienen bei L.A. Review of Books
übersetzt aus dem Englischen von Tobias Eberhard
In einer Kurzgeschichte aus dem Jahr 1977 mit dem Titel „The Railroad Storytellers – A Dream“ schilderte der türkische Autor Oğuz Atay die Lebensumstände dreier Autoren von Kurzgeschichten, die sich nebenher als Arbeiter an einem Kleinstadtbahnhof verdingen. Einer der Autoren dient als Erzähler der Geschichte, die den dreien dabei folgt, wie sie tagsüber auf einer alten Schreibmaschine Geschichten niederschreiben, um diese dann bei Nacht den Passagieren von zwischenhaltenden Zügen feilzubieten, wobei sie stets mit Essensverkäufern um deren Aufmerksamkeit konkurrieren. Jedoch sorgen die andauernden Einschränkungen des Eisenbahnministeriums darüber, was die drei Autoren schreiben dürfen, und die Reduzierung der Personenzüge am Bahnhof dafür, dass sich ihre Umstände zunehmend hoffnungsloser gestalten. Einer von ihnen stirbt, ein weiterer fährt in einem Zug davon, und der letzte – unser Erzähler – bleibt an dem verlassenen Bahnhof zurück, eingepfercht in seiner heruntergekommenen Unterkunft, und schreibt Geschichten, die niemals jemand lesen wird. Am Ende erfahren wir, dass „The Railroad Storytellers“ selbst eine der letzten Geschichten ist, die der Protagonist jemals schreiben wird, eine Geschichte, die er jemandem – irgendjemandem – zusenden möchte, sodass ihm doch noch eine Leser*innenschaft zuteil wird: „Ich möchte ihnen schreiben, stets für sie schreiben, Geschichten ohne Unterlass, ohne Ende erzählen, sie wissen lassen, wo ich bin.“ Das Ende der Erzählung wendet sich direkt an die Leser*innen: „Ich bin hier, liebe Lesende. Wo seid ihr?“
Als ich Atays Geschichte zum ersten Mal las, sah ich darin eine passende Metapher für den heutigen Stand der Weltliteratur: Schreibende, die sich unter nicht gerade optimalen Bedingungen abmühen und darauf hoffen, desinteressierten Durchreisenden ihre Geschichten anzudrehen, wobei sie sich letztendlich dazu gezwungen sehen, nicht das zu schreiben, was sie schreiben möchten, sondern das, was die Reisenden ihrer Ansicht nach lesen wollen. Zu diesem Zeitpunkt war ich voll mit der Übersetzung von Sema Kaygusuz‘ Roman Every Fire You Tend beschäftigt, die von einem Verlag nach dem anderen abgelehnt wurde, bis sie schließlich von Tilted Axis Press aus Großbritannien angenommen und 2019 veröffentlicht wurde. Die Herausforderung, der ich mich mit diesem Buch trotz all seiner Qualitäten – von denen es genug aufzuweisen hatte, um mich trotz des anwachsenden Stapels an Absagen nicht von meinem Vorhaben abzubringen – gegenübersah, bestand darin, dass es nicht den vorherrschenden Erwartungen und Mustern entsprach, die der Markt der Weltliteratur der türkischsprachigen Literatur zugewiesen hat: Es gab darin kein „Osten trifft auf Westen“, kein „Tradition trifft Moderne“. Und doch war Kaygusuz‘ Stimme so kritisch, so einzigartig, so überzeugend, dass ihr bei der Veröffentlichung und noch lange danach eine treue Leser*innenschaft Gehör schenkte. Türkische Literatur ist mitnichten ein eng abgestecktes Gebiet; es gibt eine Vielzahl von Schreibenden aus Istanbul, Ankara, Diyarbakır und anderen Orten darüber hinaus, die sich, wie Kaygusuz auch, den Bedingungen und Einschränkungen der Weltliteratur widersetzen. Doch wie sollen die Übersetzungen solcher Werke Leser*innen finden, wenn die Infrastruktur zur Verbreitung von Literatur – nämlich Verlage – aus Gründen der Risikominimierung und Verkaufszahlenmaximierung ständig verschlankt wird?
Seit kurzem geht mir „Railroad Storytellers“ wieder im Kopf herum. Seit Beginn der Pandemie habe ich über dreißig Pitches an Lektor*innen aus nicht weniger als einem Dutzend Verlage geschickt. Im Gegensatz zu meinen anderen Schreibprojekten fühlte sich das Übersetzen wie ein Anker an inmitten des pandemischen Grauens, das in unaufhaltsamen Wellen über uns hereinbrach, und nach den positiven Rezensionen für Every Fire You Tend dachte ich, ich hätte meinen Fuß nun fest in der Tür. Und doch blieben meine Pitches im Großen und Ganzen unbeantwortet, mit Ausnahme von einer Handvoll Absagen. Auch dass Every Fire You Tend im Februar schließlich den 2020 TA First Translation Prize der Society of Authors gewann, hat wenig daran geändert, dass meine Pitches und nachfolgenden E-Mails von den Lektor*innen nichts als Schweigen ernten.
Was mich vor fast einem Jahrzehnt zum Übersetzen gebracht hat, war die Idee, dass Literatur aus anderen Teilen der Welt unter Umständen dabei helfen kann, mit alten Märchen aufzuräumen und Strukturen abzubauen, durch die imperialistische Machtverhältnisse und die neokoloniale Weltordnung aufrechterhalten werden. Wenn wir doch nur die Vielfalt und den Reichtum an menschlichen Erfahrungen verstehen könnten, so die Idee, könnten wir den hegemonialen Diskursen, die uns zu Nationalismus und Xenophobie anstacheln, mit mehr Vorsicht begegnen. Da ich aus Sprachen des Nahen Ostens übersetze, versuche ich stets, extrem darauf zu achten, wie ich selbst zu Aspekten wie Orientalismus, Islamophobie und US-amerikanischem Imperialismus beitrage, und ich möchte versuchen, nur Werke zu übersetzen, die sich destabilisierend auf diese Diskurse in den gegenwärtigen USA auswirken.
Mir liegt viel am Übersetzen, genauso wie mir viel an den Büchern liegt, die ich übersetze, aber nach über einem Jahr an vergeblichen Versuchen, Verlage für meine Projekte zu finden, frage ich mich: Ab wann ist es sinnvoll damit aufzuhören, die eigene Arbeit in die endlose Leere des Verlagswesens hineinzuschicken? Wann ist es Zeit, die Schuhe an den Nagel zu hängen, meiner Wege zu gehen, mir einzugestehen, dass die Sisyphusarbeit, sich für diese Bücher einzusetzen, genau das ist – eine Sisyphusarbeit? Warum sollte ich weiterhin Bücher übersetzen, die – den (ausbleibenden) Antworten nach zu urteilen – auf Englisch anscheinend nicht veröffentlicht werden können, insbesondere, wenn ich für diese Arbeit nicht bezahlt werde? Für mich war das Übersetzen immer schon eine Herzensarbeit, aber Arbeit bleibt es trotzdem. Denn nicht nur müssen Übersetzer*innen druckreife Arbeitsproben erstellen und Buchzusammenfassungen, die ein Werk genau in den Katalog eines Verlags einordnen, abliefern. Wir werden von Autor*innen, die weder Englisch sprechen noch über den eigenwilligen Spießrutenlauf der englischsprachigen Verlagswelt Bescheid wissen, auch oft als „Akteur*innen der letzten Instanz“ angesehen, wie es der Übersetzer Anton Hur beschreibt.
Erschwert wird all das zudem dadurch, dass viele Verlage keine Einsendungen bekommen möchten, die nicht von Literaturagent*innen stammen. Dadurch werden von vornherein die Autor*innen aussortiert, die sich vielleicht keine internationale Vertretung leisten können, die es vielleicht noch nicht aus ihrer lokalen Literaturszene herausgeschafft haben, die für ihr Werk vielleicht verfolgt werden, oder die aus jedwedem anderen berechtigtem Grund keine Literaturagent*innen haben (oder haben möchten). Und im seltenen Fall, dass ein*e Autor*in doch über eine Literaturrepräsentation verfügt, die die Vertretung in der englischsprachigen Verlagswelt angemessen übernehmen kann, kann die Tatsache, dass die Werke in einer seltener übersetzten Sprache oder einer Sprache des globalen Südens verfasst sind, dafür sorgen, dass die Veröffentlichung solcher Autor*innen als zu großes Risiko betrachtet wird.
In Gesprächen mit Übersetzer*innen, Literaturagent*innen und Kolleg*innen erwähnen Verleger*innen gerne, dass sie informelle Quoten für Autor*innen jenseits von Europa haben (z. B. „Wir haben schon einen türkischen Autor“), etwas, das der haitianische Anthropologe Michel-Rolph Trouillot vielleicht als eine Art „Wilden-Slot“ für nationale Literaturen bezeichnen würde, als könnten ein oder zwei Autor*innen einer bestimmten Literatur diese in all ihrer Reichhaltigkeit repräsentieren. Verlage schieben diese Quoten oftmals auf eine fehlende Nachfrage oder ausbleibendes Interesse, als wäre die Nachfrage selbst nicht schon ein tautologisches Scheinargument: Es gibt keine Nachfrage nach Literatur in bestimmten Sprachen, daher werden solche Bücher nicht verlegt, und da diese Bücher nicht verlegt werden, gibt es keine Nachfrage nach ähnlichen Büchern. Berücksichtigt man im Hinblick auf die Bezuschussung von Übersetzungen aus nationalen Literaturen noch das blinde Vertrauen in Fördereinrichtungen, mit ihren politischen Agenden und ihrem Bestreben nach Markenbildung, wird eindeutig klar, dass „es nicht der Anspruch sein kann, die Sprache kleinerer Literaturen mit den Ästhetiken größerer Literaturen zu vergleichen“, so Ho Sok Fong. Der Prozess des Verlegens sortiert übermäßig viele Autor*innen aus, deren Werk eine weltweite Leser*innenschaft verdient hätte, wobei die allergrößten Ausnahmen dazu herangezogen werden, das falsche Bild einer Weltliteratur als globale Utopie der multikulturellen Harmonie aufrechtzuerhalten.
Es wäre hier nur allzu leicht, die Schuld den Lektor*innen zuzuschieben (was ich kürzlich in einem Twitter-Thread getan habe, der unter Übersetzer*innen so einigermaßen viral ging), oder mir selbst einzugestehen, dass dieses Spiel nun mal so gespielt wird. Doch wie mir Lektor*innen selbst schon mitgeteilt haben, sind sie selbst auch ausgebrannt, müssen selbst nicht nur mit Hunderten von Pitches kämpfen, die alle sorgsam begutachtet werden müssen, sondern auch mit den Wirren des Lebens in einer Pandemie. Alle meinen es gut, aber genau das ist das Problem, oder? Denn egal, wie wohlmeinend die Absichten der Menschen sein mögen, egal, wie sehr Lektor*innen und Übersetzer*innen darauf pochen, wie bedeutsam es ist, englischsprachigen Leser*innen neue und dringliche Stimmen bekannt zu machen (aus irgendeinem Grund stets dringlich, trotz des quälend langsamen Prozesses vom Pitch für die englischsprachigen Übersetzungsrechte bis zur Ausstellung in den Buchhandlungen): Das ist ein abgekartetes Spiel, und der Status Quo der Weltliteratur fußt im Kern auf der Ungleichheit von Sprachen und Literaturen. Dieses System, das sich damit brüstet, Brücken zwischen Kulturen zu schlagen, Grenzen abzubauen, fast schon utopische kulturübergreifende Dialoge anzuregen, gleicht in Wahrheit viel mehr den Eisenbahnstrecken in Atays Geschichte: bestrebt darin, die kürzeste Strecke von den Randbereichen ins Zentrum zu finden, den schnellsten Weg, Güter und Menschen in die Städte zu bringen, dabei Abkürzungen nehmend, um unnötige Zwischenhalte an Provinzbahnhöfen zu vermeiden, wodurch diese der Vergessenheit überlassen werden. Die Geschichtenerzähler*innen in diesen Randbereichen, nun, mögen sie ein anderes Handwerk finden, mögen sie ihrer Wege gehen, mögen sie einen anderen Ort finden, einen Ort, von dem aus sie erzählen können, sodass ihre Geschichten mit den anderen Gütern ihren Weg zu den urbanen Oberschichten finden.
Ist eine andere Weltliteratur möglich, oder müssen wir mit einer Weltliteratur leben, die, wie Emily Apter es ausdrückt, von „planetarer Dysphorie“ geplagt wird? Können sich Autor*innen und ihre Übersetzer*innen in Anbetracht von zunehmend prekärer werdenden Bedingungen gegen die ausschließende Illusion der Weltliteratur auflehnen? In der englischsprachigen Welt gibt es immer mehr Übersetzer*innen und Lektor*innen, die hinter die Fassade der Weltliteratur geblickt haben, hinter die ihr angeblich innewohnenden guten Absichten, Gräben in aller Welt zu überbrücken. Immer mehr von ihnen stellen die Ansichten der anglophonen Welt in Frage und möchten den vorherrschenden Überzeugungen entgegenwirken in Bezug darauf, was die Welt denn genau ist und wer in ihr das Recht bekommt, zu sprechen. Wir arbeiten an Büchern, die andere und neue Welten erschaffen, weil, um es mit den Worten des Übersetzers und Autors Jeremy Tiang zu sagen, „die Welt nicht genug ist.“ Zwischen unseren anderen Jobs schaufeln wir uns Zeit für das Übersetzen frei, arbeiten zu den seltsamsten Uhrzeiten in unseren beengten Wohnungen, in der Hoffnung, dass eines unserer Bücher zur richtigen Zeit am richtigen Ort landet, eines Tages vielleicht sogar gelesen wird. Wir sind hier, liebe Verlage. Wo seid ihr?
Beitragsbild von Fabrício Severo